Titel der Originalausgabe:
Der Schachspieler (geschrieben 1999-2002)
4. Auflage 2018
© 1999-2009, 2018 Pascal Debra
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Pascal Debra © 2018
Frontcoverphoto:
“Man looking to the horizon” Joshua Earle ©
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt, 2018
ISBN: 9783743160392
Das Zimmer war dämmrig und lichtarm.
Die Kandelaber nahe der ahornholzfarbenen Bibliothek waren selbst in zwielichtiges Dasein gehüllt. Draußen aber, vor den großen Fenstern, stiegen schattige Nebel auf und trugen dazu bei, dass das Innere des Zimmers selbst dunstig und unscharf erschien.
Der Tisch, an dem ich gesessen hatte, und den die Schachfiguren und das Brett verzierten, stand orakelhaft und gedrängt vor der Tür, die zur Eingangshalle führte. Verwinkelt blickten die Konturen der Möbel in den Raum hinein; verschleiert umspielte sie das diffuse und diesige Licht der Kerzen.
Wie verloren schien mir der König im Schachspiel aus altem Edelholz. Unbegabt und tief.
Ich wartete auf einen Freund, einen Kollegen. Ich wartete auf den Bekannten und der Nebel umschloss den Raum von außen.
So stand ich in der Mitte des Zimmers, neben dem Tisch, im Flackern der Kerzen und sann über die Dinge nach, die mich auch nur dann befielen, wenn alles still um mich wurde. Von oben hörte ich das Knarren des Parkettbodens. Es musste irgendeine Erklärung geben, warum er nicht gekommen war.
Das Bild zwischen den beiden Bibliotheksschränken wirkte fast bescheiden in diesem großen, und doch drangvoll beengenden Raum.
Das Feuer im Kamin knisterte.
Schatten wichen in obskuren, undeutbaren Zeichen über die Wände. Das Schachbrett, das gerade gewachst worden war, schimmerte königlich im Scheine der Kerzen.
Umrisshaft schienen die Bauern, eng umschattet ihre Form.
Unverständlich und undeutlich, als würden ihnen gerade Worte entlockt werden. Denn fast glaubte man, sie müssten plötzlich im Raume sein, und Stimmen besitzen, so wahr und lebendig brachen sie in die Stille hinein.
Ich setzte mich etwas unschlüssig in den großen Sessel vor der Bibliothek.
Immerhin war es schon spät und mein erwarteter Besuch blieb aus, so dass ich ein Buch aus der Bibliothek nahm. Wahllos glitten meine Finger durch die lustlosen Seiten. Ihr raschelndes Geräusch erinnerte mich zwanghaft an die im Zimmer stehenden Kerzen. Dabei wusste ich eigentlich nicht wieso. Nach mehrmaligem Hin-, und Herdrehen des Buches legte ich es auf den Tisch.
Dort standen bereits Figuren. Fast, ich mag es eingestehen, ängstigten sie mich durch ihr bloßes Dasein, oder besser: Das Wissen darüber, dass sie da waren; einfach, dass der Verstand realisierte, dass sie scheinbar harmlos in meiner Nähe waren und blieben.
Denn sie blieben unverrückbar.
Manchmal, wenn ich am Morgen in das Zimmer trat, so war es doch meistens so, dass sie friedlich und gesellig auf dem Brett standen, und eine Umstellung hätte kein Grauen in mir aufkommen lassen ...
Aber abends ...
Anders schien es an jenem Abend ...
Einige erste Züge waren gespielt worden, nur einige Gedanken darauf verwendet im Kampfe der Geister. Doch nun standen einige gemischt in der Mitte des Bretts und meine eigene Unzulänglichkeit, mich dieser Beklommenheit zu erwehren, sie abzustreifen, wie ein alter, nutzlos gewordener Mantel, trieb mich nur noch tiefer in ein ratloses und fast dumpfes Empfinden.
Er hätte bereits seit einer Stunde hier sein sollen. Diese Fehlbarkeit aber war durchaus ungewöhnlich für ihn und gar nicht mal seine Art.
Die Unabgeschlossenheit der Figuren auf dem Schachbrett; das Feld eines flüchtigen Votums, ausgedacht und konstruiert von einem alten Geist. Weise und umwertend.
Eigentlich war mir nicht klargeworden, dass ich auch Durst empfand. Die trockene Luft verursachte dieses Leiden, denn es gesellte sich ein unangenehmer und unfeiner Husten hinzu.
Meist ärgerte ich mich dann.
So kam mir aber in den Kopf, dass Madame Espíritu noch im Hause sein mußte –sie hatte mir das ausdrücklich gesagt. Des Öfteren sogar und während des Abends auch ein paar mal. Schließlich war Besuch vorgesehen und dann blieb sie etwas länger als üblich.
Ich rief nach ihr.
Eigentlich flüsterte ich ihren Namen bloß, bis mir bewusst wurde, dass ich doch wohl besser daran täte, laut zu rufen. Mit einem unsicheren und bewertenden Blick auf die Figuren schrie ich ihrem Namen. Nach dreimaligem Versuch und dem Gedanken, sie hätte mich nun gehört, wendete ich mich wieder anderen Dingen zu. Ich dachte, die Kommode in der dunklen Ecke hinten rechts neben dem viel zu großen Fenster (eins von dreien) wäre nun doch zu alt. Nein, nicht zu alt in diesem Sinne. Womöglich war ich nur der Meinung, sie sei aus der Mode gekommen. So abgestanden warf sie ihre Schatten ins Zimmer, so aufdringlich und zeitfremd. Mich interessierte was mit dem Nebel passiert war und bemühte mich aus dem Sessel aufzustehen und zu den Fenstern hinüberzugehen.
Das Erschauen selbst war eine Nötigung.
Zufrieden stellte ich fest, dass die Nebelwolken sich zäh verdichtet hatten. Schwerfällig waren sie einfach präsent, einfach vorhanden. Ruhig und still.
Madame Espíritu hatte wohl meinen Ruf nicht vernommen. Fraglich war, ob sie denn vielleicht in der Küche gewesen war.
Auf jeden Fall schrie ich nochmals ihren Namen, und zwar so laut, dass ich selbst erschreckten musste...
Die Bilder aber sprachen. Und da mein Besuch wohl länger noch auf sich warten lassen würde, so nahm ich vorgreifend und schlicht an, würde ich noch einiges an Zeit haben, mich ein wenig in Geduld zu üben. Draußen schwebte wie flüssig der Nebel. Drinnen standen die wächsern aussehenden Schachfiguren.
Die Bibliothek und ich.
Die Bilder, geerbte teure Reproduktionen alter Künstler längst vergangener Tage, erwirkten, dass mein Blick sich zu ihnen hinziehen ließ.
So weit ich mich erinnern konnte, handelte es sich um einen jungen Maler, damals zu seiner Zeit. Und wenn mich mein Gedächtnis nicht allzu sehr täuschte, so glaubte ich, dass er Damini geheißen hatte. Ähnliches aber hatte ich bereits gesehen, aber wo, wusste ich nicht. Das aber war Piazzetta.
Mit aufgerissenem, altem und sprachlosem Munde, ohne Worte verteidigend, den rechten sehnigen Arm emporgestreckt, in die Dunkelheit hineingetaucht: Den Dolch in der entschlossen geballten Faust.
Dies sollte Isaaks Tod sein. Dem errichteten Götzenbild blutiges Opfer zur Weihe, Fetzen der berauschenden Unvernunft.
Große Schatten, zerrissen, sich am Rande in unkenntliche, lichtlose Weite webend, so, als erstrahle die Brust des Jünglings Isaak dem ohnmächtigen Leiden nahe, in hellem Lichte des Lebens. Ein Engel aber sollte es sein, denn jener öffnete den Raum zur Tiefe hin, den cherubimhaften Dank auf den Lippen. Stumm zeigte sein Finger gen Himmel. Ergebungsvoll ruhte die rechte Lichthand auf Isaaks atmender Brust.
Kontraste im Willen des Lebens.
Blinde Dummheit in Abrahams Taten!
Die Zeit hatte wahrlich ihre Spuren hinterlassen.
Der trübe Firnis wurde bereits abgenommen, einiges retuschiert. Madame Espíritu aber kam nicht.
Dunkelheit fiel durchs Fenster; der Nebel verhinderte jede Sicht nach draußen. Fast dachte ich, mich der Landschaft hinter dem Glas nicht mehr besinnen zu können. Und so ging ich langsam, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, um den rätselhaften Tisch.
Fast wie eine Übermalung, so dachte ich mir. Wie eine Übermalung des Raumes selbst.
Belustigt trieb ich meinen Blick auf die Königsfigur.
Verstummte.
Einst gelangen mir Züge, die meisterlich im nachdunkelnden Schein der Mondnacht wirkten.
Warum aber drei Bilder?
Nie war mir deutlich aufgefallen, dass drei Bilder hier im Raume hingen. Selbst das Werk Cambiosas, sieben Frauen darstellend, war erst jetzt in meinem Bewusstsein entfaltet.
Das Bild: Demütige Leere in den Augen ergoss sich unvermittelt ins Dasein. Sich selbst den Tod wünschend und wissend um ihr bevorstehendes Schicksal, lag gebückt und schwach eine Nymphe am Boden des Hains.
Keuschheit und das Werk eines lüsternen Gottes.
Kraftlosigkeit göttlicher Männlichkeit vor einem Weibe.
Kallistos Selbsturteil, im sterbenden Gewissen einer schicksalhaften Nacht. Als letzte Tat:
Eine Bewegung des Fingers der Göttin Artemis in die Seele der Abtrünnigen, als Zeichen des notwendigen Hingangs: So erlosch das Feuer in Kallistos Augen.
Aber konnte ich mich täuschen? Gelangten zwingende Gedanken in den Raum seiner inneren Notwendigkeit? In den Augenblicken, da ich im Raume stand, empfand ich wiederum das lästige Gefühl eines nunmehr quälend gewordenen Durstes.
Vor einer Zeit, an die ich mich noch besonders gut erinnern konnte, waren zeitlich gesehen, viele Elemente zusammengekommen. Die verständliche Trennung von Altem, Loslassen in Begriffen und dann Schweigen ...
Danach sind viele Tage vergangen, an denen ich schweigend bereits am Morgengrauen den Winter draußen empfing, und manchmal stellte ich die Figuren neu hin, ordnete sie an den Enden des Schachbretts, und, alleine zogen die Gedanken still ins Zeitgewordene hinein. Jetzt aber war mir diese Zeit wieder so klar vor Augen, und fast musste ich zugeben, dass sie mir jetzt wieder passierte, sozusagen, vom Schicksal, oder vom Leben untergeschoben.
Benjamin hatte ich auch zu jenem Zeitpunkt kennengelernt; in ihm sah ich einen seelenverwandten Mitleidenden am Wesen der Welt. Sein Reichtum war innen; und innerlich war auch er zu vielen neuen Schritten bereit. Neue Erkenntnisse über das Leben zu „entweben“, neue Tore aufzustoßen. Wir standen uns sehr nahe, fast wie Brüder, und konnten auch vieles miteinander erleben, auch in Gedanken.
Wie zwei alte Herren (obwohl wir das natürlich nicht waren) standen wir allabendlich an der Seine. Dort gefiel es uns ganz besonders gut, und gingen oft schweigend nebeneinander her; gingen nur, und kamen doch nicht wieder am letzten Abend in Paris. Unser Weg war Sinn.
Und gingen.
Der Fluss in seiner Einfachheit des stillen Dahinfließens, die sich verformenden, kontrastreichen Bilder liquider Rhythmen, dann entformend, sich ausbreitete und im Ganzen verschlossen verschmolz.
Die Abendsonne tauchte alles in ein rötlich-farbenes Licht, in einen wartenden Zustand auf das nächtliche Dunkel. Benjamin schaute, am Geländer vor der Seine gestützt, gedankenverloren in eine neue Welt. Er lächelte und merkte nicht, dass mein Blick auf ihm ruhte.
In den weitläufigen Dingen des Tages lag Schweigen. Dort begannen Tage der Freundschaft. In ihm lag bereits die Ahnung einer späteren Erfahrung.
Wenn Türme erobert werden, dann ist dies kein gutes Zeichen für denjenigen, der in der anderen Welt dann der Spieler ist. Zum einen, weil jede Bemühung auf lange und taktisch geführte Züge nicht nur unmöglich gemacht werden, sondern weil der Spieler dumpf und mittellos, fast als Beobachter, seines eigenen Untergangs Zeuge wird. Zweitens hat der andere Spieler durchaus dann die Möglichkeit eine vernichtende, kluge Anzahl von Zügen hintereinander auszuführen: Oder die anderen Figuren strategisch so zu positionieren, dass der Mittellose sich, gesättigt am anderen Tun, geekelt zurückzieht, im Geiste bereits aufgehört hat, und sich der Niederlage sicher, das aus dem Tiefen kommende Gefühl der Vernichtung ahnend, mit Widermut abkehrt.
Die Kerzen flackerten im Raume und das Feuer im Kamin brachte große, sich verändernde Schattierungen an die Wände. Mit prosaischen Gedanken musste ich mich wieder daran erinnern, dass mein Besuch nicht gekommen war und ich ließ es darauf bewenden.
Er hatte sich bestimmt nicht verspätet, und unpünktlich war er auch nicht. Ich dachte nicht einmal daran, dass er vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt an jenem Tag gekommen wäre.
Die einzige Frage, die mich wirklich beschäftigte, und ihrer Eigenartigkeit zum Trotz, war, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob wir uns überhaupt treffen sollten.
Es war vielleicht nur eine Annahme gewesen, eine unabgeschlossene Idee, die, einmal in meinem Kopf, sich nicht mehr so leicht vergessen ließ!
Ich vermutete, daß, da ich es Madame Espíritu mitgeteilt hatte, auch wirklich ein solcher Besuch bevorstand, und dennoch war ich mit in dieser Sache gar nicht mehr so besonders sicher.
Mit diesen Gedanken in meinem Kopf zog ich unruhig die Vorhänge zu, ging, durch die Schatten der Kerzen begleitet, zum Stuhl und wieder befand ich mich vor dem Schachspiel.
Einige Zeit verging, bis ich, wie ich merkte, mit feuchten Händen, einen Bauer zwei Felder weiterrückte. Nun stand er starr und unversöhnlich, zwieträchtig und vom Lichte der ruhiger werdenden Kerze beleuchtet, vor mir.
Plötzlich wurde ich mir der ungewöhnlichen Ruhe gewahr, und diesem Umstand bewusste r und bewusste r werdend, überkam mich eine gewisse Unruhe und blickte unentwegt zum Bild das Abraham und Isaak darstellte.
Hatte nun Madame Espíritu geantwortet? War sie es?
Einige Sekunden verharrte ich fieberhaft, dann rückte ich den Stuhl beiseite, erhob mich und ging zur Tür.
Aber warum hatte sie nicht vorhin geantwortet? War sie in einem anderen Raum dieses übergroßen Hauses gewesen? Friedlos und unsicher schaute ich zu den Kandelabern vor den Fenstern.
Ohne zu öffnen, flüsterte ich ihren Namen.
Dann rief ich lauter.
Unfassbar. War ich einer Einbildung verfallen? Ich musste an Benjamin denken. Wie wir damals vor der Seine standen und redeten. Draußen war nun alles still. Man mochte fast glauben, die Nebel hätten jedes Geräusch verschluckt, hätten alles Seiende im Außen unterdrückt, wie eine schuldlose Macht statischer Ruhe.
Das Schachspiel erwartete den nächsten Zug, aber mein Besucher war nicht gekommen. Zumindest hätte er da sein sollen, wenn dieses Treffen stattgefunden hätte. Und überhaupt wusste ich ja nicht mehr, ob der Besuch gar stattfinden sollte.