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Impressum

©2017 Tom Fuhrmann

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

comedykingkong@gmail.com

ISBN: 9783748113577

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liebe Leser*innen,
der nachfolgende Roman ist meine persönliche Liebeserklärung. Ein Liebesgeständnis an die Künstler, die Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr auf Deutschlands Bühnen alles geben, damit wir etwas zu lachen haben.

Ein Ausdruck der Solidarität mit unzähligen Menschen, die sich im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch aufreißen, um die großen und auch die kleinen, aber feinen Shows zu realisieren. Besonders hinter den Kulissen und an vorderster Front im täglichen Konkurrenzkampf um Klicks, Events und Quoten.

Ich war lange Zeit ein Teil davon. Dies ist mein Versuch, die Menschen zu würdigen, die sich ständig über sich selbst, aber zumeist über andere lustig machen. Mit unterschiedlichem Erfolg. Dazu erscheint mir die folgende, bitterböse Medien-Satire gerade angemessen.

Selbstverständlich sind sämtliche Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden, lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig. Ebenso sind bei der folgenden fiktiven Handlung Übereinstimmungen mit realen Begebenheiten reiner Zufall und nicht gewollt.

Kapitel 1

Er hielt sich bewusst im Schatten der Häuserwände auf. Dabei wechselte der torkelnde Mann sogar die Straßenseite, wenn eine Laterne ihm provokant den Weg erhellte.

Um diese Zeit waren nicht mehr viele Menschen unterwegs, aber es gab immer einen, der ihn erkannte. Und alle hassten sie ihn. Er war mittelgroß und hager. Eher dünn, aber ohne dabei sportlich zu sein. Am besten beschrieb man ihn als eine Mischung aus Doc Brown und dem frühen Charles Manson: Der Charme eines zerstreuten Professors mit der Optik eines Psychopathen vereint. Er trug keine Jacke, obwohl Ende April der Wind recht kühl durch die Straßen wehte. Eine braune Anzughose und dazu ein weißes City Hemd ließen ihn um diese späte Stunde fehl am Platze erscheinen. Die Krawatte hatte er genauso im Büro vergessen wie sein passendes Jackett und den Mantel. Irgendwie war er in dieser Bar gegenüber von der Redaktion gelandet. Dann fehlten ihm ein paar Stunden.

Er musste nur noch drei Kilometer von der Axel-Springer-Straße bis zu seiner komplett modernisierten Altbauwohnung in Kreuzberg zurücklegen, aber er hatte Angst.

Das letzte, an das er sich erinnerte, waren diese unmöglichen Proleten, die ihm ans Leder wollten. Er konnte im letzten Moment fliehen. Aber sie waren ihm auf den Fersen. Sein Alkoholpegel machte die Flucht nicht leichter.

Er wechselte wieder die Straßenseite. Dort kamen ihm zwei Passanten entgegen. Mechanisch hockte er sich hinter einen stinkenden Müllcontainer und wartete. Nur der Suff machte es ihm erträglich, jeden Tag in diese Welt des Irrsinns und des Stupfsinns abzutauchen. In einen Ort voller Hass, einem Hass, den er provozierte, und der gewollt war. Hass, den man von ihm verlangte. Positiv war, dass sich seine Arbeit durch hohe Lukrativität auszeichnete. Es brachte nicht nur viel Geld, sondern auch Ruhm. Es gab eine Menge Menschen, die ihn, Franz Jossef Wegner, mochten und sich mit seinen plumpen Lügen identifizierten. Wegner verabscheute natürlich auch sie. Er war ein Misanthrop mit Haut und Haaren. Für seinen Geschmack durchschauten zu viele seine stumpfe Hetze. Vielleicht auch diese Rüpel, die ihn verfolgten. Was war da nur geschehen?

Der eine der beiden Passanten, groß, schwarze Kleidung, kam näher und wandte sich dem Müllcontainer zu. Da durchfuhr es Wegner wie ein Blitz: Er erkannte den Mann! Es war einer der Verfolger. Dieser holte seelenruhig seinen Penis heraus und fing an zu urinieren. Ein Geräusch des Ekels entfuhr Wegner, als der Strahl ihn traf. Damit hatte er sich verraten. Der Wildpinkler sah ihn plötzlich an, ohne sein Geschäft zu unterbrechen, und rief: „Wegner! Der Penner von der Blick aus Berlin! Kevin! Da ist der Kerl!“

Die Prügel waren relativ schnell vorbei. Aber erst zwanzig Minuten später rappelte sich Wegner auf. Der Alkoholpegel hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass Wegner schnell bewusstlos wurde. Ein langer Blutfaden, der sein Kinn mit dem Asphalt zu verbinden schien, vermischte sich mit der Brühe aus Urin, Dreck und dem Regen, der inzwischen ohne Gnade in dicken Tropfen vom Himmel fiel. Wegner humpelte los. Die Schmerzen pulsierten in seinem Kopf. Der Unbekannte hatte ungefähr ein Dutzend Mal zugetreten.

„Ich sollte mal was über den Müll in der Stadt schreiben…“, dachte Wegner. Er verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Man durfte sein Publikum nicht intellektuell überfordern. Wegner bezeichnete sich selbst nicht als Journalist, sondern als Medienstar. Seine Karriere begann kurz nach dem Fall der Mauer, als er die Leitung einer ostdeutschen Illustrierten übernahm. Mit Leitartikeln wie „Ossi schlägt Wessi mit Bierflasche kaputt“ hetzte er die Gemüter der Menschen gegeneinander auf. Damals wie heute „bediente er die Seele des Volkes“, wie er es selbst immer ausdrückte. Ein Trittbrettfahrer auf der Wut und Unzufriedenheit unterhalb der Mittelschicht.

„Vielleicht besser etwas über Schulz? Der Abkacker? Seehofer oder Baumgartner?“, überlegte er. Es war ihm nicht neu, Versager vollends in den Staub zu treten. Dabei auch noch so zu tun, als ob er selber ein netter Mensch wäre, war die Kür daran für ihn.

„Der Baumgartner gibt aber auch keine Ruhe…“, dachte er. „Fehlt nur noch ein Buch.“ Es war eine lukrative Zeit für Populisten.

Er stolperte fast, fing sich aber knapp, als er sich an einem Wahlplakat der Bergpartei festhielt. Ein blutiger handbreiter Streifen zierte danach das Plakat, auf dem „Fick dein Großprojekt“ stand. Wegner verstand es, auf symbolische Art aufzudecken. Gegen ein Plakat der SPD spuckte er einen Zahn aus.

Vor dem der FDP blieb er stehen. Zum einen war es in Kreuzberg ein seltener Anblick, zum anderen packte ihn eine Art Inspiration. Das Licht der Straßenlaterne reflektierte das Rot des Parteilogos.

„Lieber Jürgen Möllemann…“, sinnierte Wegner halblaut. „Wo bist Du nur, und was ist aus Deiner Partei geworden… Nee, scheiße. Zu nett. Alles zu nett.“

Er wankte weiter. Klatschnass, zerlumpt und blutend überwand er die letzten Meter bis zu seiner Wohnung. Am nächsten Morgen hatte er fast alles vergessen. Wie immer. Schmerzen und Blessuren im Gesicht zeugten deutlich von der letzten Nacht. Mit seiner Zunge spürte er die Zahnlücke in seinem vor Trockenheit brennenden Mund. Plötzlich stieg Wut in ihm auf.

„Heute schreibe ich einen kaputt…“, versprach er. Er sah aus dem Fenster. Da traf sein Blick das Tournee-Plakat eines bekannten Komikers:

Kalle Kosinski - Lachen ist gesund 4.0

„Dir wird das Lachen bald vergehen…“, dachte Wegner, wobei sich sein angeschwollenes Gesicht zu einer Fratze verzog. Die ungepflegten, langen braunen Haare hingen ihm klebrig und wirr im Gesicht, das rot angeschwollen war. Seine grauen Augen lagen tief in ihren Höhlen und blickten voller Zorn.

„Dich schreibe ich kaputt“, wiederholte er.

Kapitel 2

Tobias Schneider, der Produktionsleiter der aktuellen Tournee Lachen ist gesund-4.0, stand im Catering vor der versammelten Crew und gab letzte Instruktionen: „Ihr haltet alle den Mund. Kein Wort wegen der technischen Probleme. Der macht sowieso keinen Soundcheck. Habe mit Benny telefoniert. Kosinski hat die ganze Nacht in Frankfurt gefeiert. Richard sieht zu, dass die linke PA-Seite an den Start kommt. Das neue Amprack ist unterwegs. Der Haustechniker legt eine neue Stromleitung, wo Phase und Null nicht vertauscht sind. Wieso habt Ihr nicht nachgemessen, bevor Ihr aufsteckt? Auch wenn man schon so oft hier war!“

„Was ist denn los, Tobi?“, fragte Jürgen Wienke, der für die Pressearbeit des Veranstalters zuständig war. Er hatte zwei Interviews absagen müssen, weil der Künstler „es nicht schaffte“, rechtzeitig zu erscheinen. Technische Probleme machten ihn von daher nur noch besorgter.

„Ach, halb so wild. Es sind ein paar Verstärker abgeraucht, weil die Jungs den Strom nicht gemessen haben. Da war zu viel Saft auf der Leitung. Und im Moment läuft nur die Hälfte der Boxen. Aber wir kriegen das hin. Egal. Shit Happens! Für den Künstler ist hier alles in bester Ordnung. Klar? Dann haut rein, Männer!“

Er zog an seiner Zigarette. Es gab kein Rauch-verbot, das Tobi nicht ignoriert hatte. Auch jetzt rauchte er als Einziger. Aber es beruhigte ihn scheinbar.

Es lief gerade alles andere als rund in der Rittal-Arena in Wetzlar. Der Comedian Kalle Kosinski sollte heute vor ausverkauftem Haus sein Bühnenprogramm „Lachen ist gesund 4.0“ zum Besten geben. Nun galt es, möglichst alle Probleme vom Künstler fernzuhalten. Bekäme er Wind davon, hätte es nur zur Folge, dass er unausstehlich würde.

Kalle hatte kein Verständnis für Dinge, die nicht funktionierten.

Das Handy von Tobias klingelte. Er sah auf das Display, stellte seinen Kaffee auf den Tisch vor ihm ab und sagte: „Er ist gleich da. Los, an die Arbeit. Wer nichts zu tun hat, hilft Richard.“

Ein paar Minuten später fuhr die schwarze S-Klasse gemächlich auf den reservierten Parkplatz am Künstlereingang der Arena.

Kalle Kosinski stieg aus und wurde sofort von Benny, seinem Tour Begleiter und dem Polen vom Backstage Eingang bis zur Garderobe eskortiert. Prinzipiell war das unnötig, da der Künstler bestimmt zum zwanzigsten Mal in dieser Arena auftrat und ihm die Location bekannt war. Rituale wie diese gaben jedoch letzten Endes den Mitarbeitern Strukturen und dadurch Sicherheit. Vor der Garderobentür blieb der ganze Tross abrupt stehen, und Hagen Elbers, wie Kalle Kosinski mit bürgerlichem Namen hieß, sagte: „Hey Männer, heute keinen Soundcheck, ist klar. Und auch keinen Krach in der Halle. Ich lege mich noch ein Stündchen hin.“

Ralf Poll, genannt Pole folgte dem Künstler nicht nur wie ein Hund seinem Herrchen. Zum Verdruss der gesamten Crew war auch das Anbiedern beim Künstler eine seiner Kernkompetenzen.

„War eine tolle Show gestern. Die Nummer mit der Telefonzelle ist echt großartig“, erklärte Poll hastig.

„Danke Ralf“, antwortete Kalle Kosinski müde. „Seit zehn Jahren schleimt der Typ rum…“, dachte er, „Das geht mir langsam echt auf die Nerven.“

Bamm!

Ohne ein weiteres Wort schmiss Kalle die Garderobentür mit lautem Knall hinter sich zu.

Sofort klopfte es zaghaft an der Tür. Als Kalle öffnete, reichte ihm Benny den großen Requisitenkoffer herein.

„Ach ja, danke Benny“, meinte Kalle und nahm den Koffer.

Bamm!

Wieder knallte er die Tür zu.

Dann legte er sich auf die Liege in der Garderobe und schlief sofort ein.

„Mann hat der wieder eine Laune“, echauffierte sich der Pole kurz darauf im Catering-Bereich. Da platzte Richard, der Tontechniker, herein.

„Kein Soundcheck?“, rief er mehr hoffend als fragend.

„Natürlich nicht. Der Künstler weiß halt, dass Du es nicht besser hinbekommst“, antwortete der Pole.

„Irgendwann breche ich dir die Nase. Lerne Du erst einmal, rückwärts zu fahren mit deinem scheiß Laster“, entgegnete Richard.

Der Pole fuhr den Trailer mit der Beschallungs-, Licht- und Videotechnik. Manche behaupteten, andere brüskieren könne er deutlich besser als LKW fahren.

Während man in der Arena noch hektisch versuchte, die technischen Probleme zu lösen, hielt Hagen Elbers sein Schläfchen.

Als er dann gegen 19 Uhr in den Cateringbereich kam, hatte man gerade rechtzeitig zum Einlass des Publikums die Technik am Start.

Der Komiker nahm sich vom Buffet etwas Reis mit Geschnetzeltem. Nur der Salat dazu sah noch armseliger aus als das Hauptgericht. Elbers nahm sich noch einen Jogurt. Im selben Moment beschloss er, nur diesen zu essen und den Rest stehen zu lassen. Nach der Show würde er im Hotel ein Clubsandwich zu sich nehmen. Langsam trudelten die Techniker herein. Tobias setzte sich zu Kalle.

„Na Tobi? Ist bei euch alles in Ordnung? Wieso essen die Jungs jetzt erst? Auch wenn es scheiße schmeckt.“, fragte Elbers und zog dabei die Stirn in Falten.

Als hätte er es in der Pisse, dass etwas nicht rund läuft, dachte Tobias, sagte aber: „Och, alles gut. Die Jungs haben vorhin noch etwas Material umgeladen, damit wir das heute Nacht beim Abbau nicht auf der Backe haben.“

„Schmeckt trotzdem wieder wie alte Frau unterm Arm, dieser Fraß. Benny! Bring mir mal einen Ramazotti. Brauche einen Zerhacker. Kümmere Dich mal um einen festen Koch. Das hier würde ich noch nicht einmal an Schweine verfüttern.“

„Sofort, Chef.“ Benny rannte los, um die Flasche zu holen und kurz darauf schüttete sich Elbers einen Schnaps ein. Er drehte sich um und streckte den Arm mit dem Glas aus: „Prost, Männer!“ „Prost, Chef!“, riefen die Mitglieder der Crew und hielten ihre Kaffeetassen und Wasserflaschen hoch.

„Sie lieben mich“, dachte Elbers. Er stürzte den Schnaps hinunter.

„Es wird langsam Zeit für die Maske“, sagte Benny vorsichtig.

„Noch einen für den Weg“, antwortete Elbers und schüttete sich nach. Dann gingen sie in die Künstler-Garderobe, und als er kurz vor dem Auftritt wieder in den Cateringbereich kam, war er nicht wieder-zuerkennen.

Hagen Elbers war groß, schlank, durchtrainiert, und er hatte ein freundliches hübsches Gesicht. Seine dichten dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten und der einzige Makel war die teure Brille von Prada, die seiner Ausstrahlung gegenüber Frauen und Männern jedoch keinen Abbruch tat.

Die Figur Kalle Kosinski hatte plötzlich einen Bauch, wie man ihn als Mann bekommt, wenn man statt Sport zu treiben, lieber Sportlern im Fernsehen mit einem Glas Bier in der Hand zusieht. Die dichten Haare waren einer Halbglatze gewichen, umrahmt von einem mittelblonden fusseligen Haarkranz.

Ebenso war die Brille verschwunden, und Elbers blaue Augen versteckten sich hinter grün gefärbten Kontaktlinsen.

Elbers verwandelte sich vollständig in die Figur Kalle Kosinski. Mona, die Maskenbildnerin, hatte in kürzester Zeit wieder ein Wunder geschafft, fand Tobi.

Während sich schon das Erscheinungsbild als Ergebnis einer Metamorphose offenbarte, stand das Auftreten der Kunstfigur Kalle Kosinski dem in Nichts nach. Extrovertiert, frech und leicht proletenhaft.

Er legte sofort los: „Hör mal, mach mal ein Bier auf. Schnell noch einen Schluck, bevor der Wahnsinn losgeht, was? Leck mich am Arsch! Der Kalle bin ich. Tag auch.“

Das „leicht“ möge man bei „proletenhaft“ auch gerne weglassen.

Er begrüßte mit Handschlag ein völlig eingeschüchtert wirkendes Paar um die dreißig Jahre.

Es handelte sich um ein sogenanntes Meet and Greet.

Im Hintergrund klapperte der Koch mit seinen Töpfen und befüllte Curverboxen.

Der männliche Fan war einen Kopf kleiner als seine Partnerin. Während man ihn höflich als untersetzt bezeichnen konnte, existierte für die viel zu dünne Frau keine Beschreibung, für die es charmante Worte gab.

Kalle stellte sich vor, wie die beiden auf dem Parkplatz in einen Opel Kombi stiegen. Auf der Heckscheibe prangte ein großer Aufkleber: FREI.WILD

Meet and Greet…

Für Künstler durch die Bank einfach nur lästig.

Für die Crew auch.

Nachdem man mit dem Handy ein Foto von dem Paar und Kalle Kosinski gemacht hatte, fragte der untersetzte kleine Mann an Richard gewandt: „Wieviel Watt hat denn die Anlage draußen?“

„Oh, auf diese Frage bin ich gar nicht vorbereitet“, antwortete Richard höflich. Mit einem entwaffneten Lächeln fügte er hinzu: „Keine Ahnung, wieviel Strom die Anlage verbraucht.“ „Und was machen sie hauptberuflich?“ „Oh, ich beantworte dumme Fragen beim Lokalradio.“ „Ja?“ „Und ob.“

Dann war es fünf Minuten vor acht.

Benny gab seine Anweisungen: „Pole, bring Du die Gäste zu ihren Plätzen. Alle anderen auf Position. Intro abfeuern in vier Minuten zwanzig. Komm Chef. Wird Zeit.“

Ein Kalle Kosinski beginnt seine Show immer pünktlich. Kalle öffnete die Tür, von der man aus dem Cateringbereich in den Umgang gelangte, der hinter die Bühne führte. Er wollte gerade sagen: „Los geht es!“, da setzte ein wahres Blitzlichtgewitter ein.

Bamm!

Zum dritten Mal an diesem Tag knallte Kalle Kosinski eine Türe zu. In diesem Fall vor den Vertretern der Boulevardpresse.

„Zeit?“, fragte er Benny.

„Dreiminutenvierundvierzig!“

„Stage Right! Los komm!“, schrie der Pole.

Die andere Bühnenseite. Vielleicht nicht die klügste Idee, wie sich noch herausstellen würde, aber zu diesem Zeitpunkt war es immerhin eine Option, nach der man verzweifelt griff.

Sie rannten zurück zum Cateringbereich, die beiden entsetzten Gäste im Schlepptau, stürmten durch die Tür am Ende der Küche und gelangten so zum Feuerwehrumgang. Dieser Bereich hinter der Bühne muss aus Sicherheitsgründen frei bleiben und bühnenseitig rechts befand sich auch eine kleine Treppe, die auf die Bühne führte.

Von der Presse war nichts zu sehen.

Sie hetzten an leeren Transportkisten vorbei, stolperten über Kabelbrücken, immer dicht an dem schwarzen Vorhang, der den Backstage Bereich von der Arena trennte.

„Wieviel Zeit, Benny? Zeit!“, ächzte Kalle. „X minus 30 Sekunden.“ „Scheisse Benny. Noch Schnäpschen, Benny?“ „Echt? Fang, Chef.“

Wie aus dem Nichts flog eine kleine Flasche Kräuterschnaps auf Kalle zu, der diese routiniert auffing, während er die erste Stufe der Treppe betrat.

„X minus 10 Sekunden, Chef!“, rief Benny.

Der Pole schob die beiden Gäste am Security-Mann vorbei in den Saal.

Kalle stürzte den Schnaps hinunter. Das Intro war fast zu Ende. Dabei handelte es sich um einen kurzen Film mit Kalle Kosinski, als Arzt verkleidet, hinterlegt mit der Musik aus der alten Serie „Die kleinen Strolche“.

In gewisser Weise passte der Soundtrack auch zu der Odyssee des Künstlers, auf der er verzweifelt versuchte, zur Bühne zu gelangen.

„Und nun für Sie…, Kalle Kosinski!“, brüllte der Ansager auf dem Band. Mit einem lauten Tusch endete das Intro.

Und Kalle stand auf seiner Bühne. Pünktlich. Wie immer. Aber leider im Dunkeln.

Sämtliche Scheinwerfer waren auf Bühnenpositionen auf der anderen Seite programmiert. Auf der Position, wo Kalle normalerweise aufgetreten wäre, prangte ein beeindruckendes Bild aus Lichtkegeln, unterstützt von Nebel und Video-Effekten, das einer Rihanna oder eines David Guetta würdig gewesen wäre.

Der Applaus setzte heute mit einer gewissen Latenz ein.

Schuld war mal wieder die Presse.

Kapitel 3

„Wer hat die reingelassen, Tobi? Wer? Benny! Wie konnte das passieren? Ich habe gesagt, keine Presse vor der Show. Oder habe ich das nicht gesagt?“

Die Crew hatte in der Arena längst mit dem Abbau der Technik begonnen. Benny und Tobias saßen jedoch bei Elbers in der Garderobe und ließen seinen Wutanfall über sich ergehen. Elbers fuchtelte mit dem Zeigefinger herum wie ein Dirigent ohne Taktgefühl mit seinem Stock.

„Seid ihr beide taub? Ich verlange eine Antwort“, insistierte Elbers.

„Der Security war gerade pissen, da sind die wohl einfach rein. Die haben hinterher sogar den Polen interviewt…“, gab Tobias kleinlaut zu.

„Den Polen? Dann bin ich geliefert. Das gibt es doch wohl gar nicht. Das gibt es nicht!“ Elbers war sehr empört und aufgebracht. Da klopfte es an der Garderobentür.

„Verdammt, wer kommt denn jetzt noch angeschissen?“, platzte Elbers heraus und riss die Tür auf.

Die Cateringhilfe, bei der es sich um eine junge Studentin mit blonden Haaren, enger Jeans und üppiger Oberweite handelte, sah unbeeindruckt aus. Sie betrat einfach die Garderobe mit einem Tablett voller Bierflaschen.

Elbers sprang auf, nahm das Tablett, stellte es auf den Tisch und riss Tobias sein Funkgerät mitsamt Headset vom Gürtel. Dann klemmte er es der Cateringhilfe an die Hose, setzte ihr das Headset auf und gab ihr einen Klaps auf den kleinen strammen Hintern.

„Gratuliere. Du hast jetzt einen neuen Job. Und jetzt lasst mich alle alleine. Alle raus. Tobi, du bist gefeuert. Tschüss.“

Er schob Benny, Tobi und die junge Frau hinaus.

Bamm!

Zum vierten Mal knallte der genervte Künstler eine Tür zu.

Verdutzt standen die drei vor der Garderobe auf dem Flur und sahen sich an.

„Wie jetzt?“, fragte die Cateringhilfe nach einer Weile.

„Ach gib schon her“, meinte Tobias und nahm das Motorola wieder an sich. Dann sprach er direkt in das Funkgerät: „Schick mir mal einer den Polen ins Catering. Und zwar zügig. Bitte bestätigen.“

„Der Pole hat mitgehört. Er kommt sofort“, antwortete Fiete, der zweite Tontechniker nach einer Weile.

Man hatte einmal versucht, dem Polen ein eigenes Funkgerät zu geben, aber das erwies sich nach Ansicht der gesamten Crew als undurchführbar.

Der Pole hatte damals jeden einzelnen Funkspruch kommentiert, so dass die sonst friedlichen Techniker fast zum Lynch Mob geworden wären.

Tobias hatte bereits hektisch zwei Zigaretten hintereinander geraucht. Da betrat der Pole endlich den Catering-Raum. Ein Mitarbeiter des örtlichen Veranstalters war noch damit beschäftigt, die letzten Utensilien zu verpacken.

„Was ist los, Tobi? Muss ich Dir wieder deinen Job erklären? So bekomme ich nie meine Karre beladen. Oder möchtest Du dich da selbst hinstellen mit diesen motivierten Helfern…“

„Schnauze, Ralf! Halt sofort die Fresse, setz dich hin, oder ich hau dir eins aufs Maul! Ich schwör, ich mach dich alle, du Idiot!“

Tobias hatte im Gesicht die Farbe eines Truthahns angenommen und schleuderte dem Polen einen der Stühle vor die Füße.

Entsetzt packte der Örtliche seine Kartons und verließ beschleunigt den Raum.

„Keine Angst, Björn. Das ist hier immer so herzlich!“, rief Tobi hinterher, aber es schien den Mann nicht zu beruhigen. Er nahm sich fest vor, diesen Disput später weiterzuerzählen.

Der Pole setzte sich nun an den Tisch und Tobias steckte sich noch eine Zigarette an. Dann setzte er sich dazu und pustete dem Polen den Rauch ins Gesicht.

„Erzähl mal. Wie war das mit diesem Interview? Und verarsch mich nicht, Bursche“, fragte Tobias und grinste wie ein Hai.

„Och das. Das war nichts Wildes“, winkte der Pole ab.

Wieder blies Tobias dem Kollegen Rauch ins Gesicht.

„Och, Mann! Du Bunke. Jetzt hör auf.“

„Erzähl! Sing, du Hafensänger.“

Wütend stützte der Trucker die Arme in die Hüften und setzte dabei seinen ausladenden Bauch in Szene.

„Die von der Presse standen in der Pause plötzlich bei mir vorm Truck. Als ich zum Essen gehen wollte. Ja. So ein Typ mit Schulterkamera, der hat mich voll geblendet, ja? Und die Perle mit dem Fotoapparat. Die hat dabei auch meinen Truck geknipst. Und der Typ mit der Kappe. Der hat mich gefragt, was ich mache.“

Ein kurzes Schweigen setzte ein.

Tobias nahm das Tropfen des Wasserhahns in der Küche so laut wahr, als würde es über die Anlage aus der Arena verstärkt. Man hörte die Geräusche, die die Helfercrew draußen beim Laden der LKW machte. Das Rumsen der Kisten, die über die Aluminiumrampe nach oben in den Truck geschoben wurden. Gelächter.

„Und?“

„Was denn?“

„Was machst du denn so, Ralf?“

„Och, nicht viel...“

Was auch immer Poll an dieser Stelle erzählt haben mochte, in der Videoaufzeichnung der Reporter von der großen Tageszeitung „Blick aus Berlin“ (oder „BaB“) hörte sich seine Aussage anders an. Franz-Josef Wegner und sein Chef Jürgen Winkelhaber verfolgten auf einem großen Flat Screen die Ausbeute des Besuches bei Kalle Kosinski in Form eines Videos, in dem Ralf Poll interviewt wurde:

„Was machen sie hauptsächlich bei dieser Produktion, Herr Poll?“, fragte die Person hinter der Kamera, während das Bild in Großaufnahme den LKW-Fahrer zeigte.

„Eigentlich bin ich hier ja für so ziemlich alles zuständig. Jetzt gerade fahre ich auch mal so einen LKW hier. Pong Pong…“

Auf dem Monitor im Büro des Redakteurs, drehte sich Poll zur Seite und klopfte umständlich zweimal an die Motorhaube seines Trucks.

„Der ist doch krank“, stellte Winkelhaber fest.

Poll redete weiter: „Ist ja auch klar. Seit über zehn Jahren bin ich mit dem Künstler unterwegs. Das schweißt zusammen. Der Mann hat ja auch so viel um die Ohren, hä? Da ist es auch für so einen Künstler schön, jemanden in der Crew zu haben, dem man vertrauen kann...“

Winkelhaber verzog den Mund und dachte sich: „Bevor ich dir vertraue, würde ich eher mit einem Föhn tauchen gehen, du Idiot.“

Wegner spulte etwa 30 Sekunden vor und startete dann wieder das Video. Poll war immer noch bei seiner Antwort: „Wissen Sie? Da wird hier mal gefeiert, da geht man da mal auf die Rolle, zack! Schon gibt es Gerede, hä? Das versucht man dann alles abzufangen. Vom Künstler fernzuhalten. Der Künstler baut ja auch nur Luftblasen. Heute sind wir hier, morgen da. Übermorgen ganz woanders. Das ist der heutige Rock´n´Roll sozusagen. Da will man auch mal Dampf ablassen, hä? Was hatten Sie nochmal gefragt?“

Wegner stoppte und sah Winkelhaber an.

„Phantastisch. Was für ein unterbelichteter Narzist. Wie geht es weiter, Wegner?“, fragte der Chefredakteur der "Blick aus Berlin".

Wegner grinste und entblößte einen brandneuen Keramikzahn, der auffiel, weil er deutlich heller war als seine vergilbten Nachbarn.

„Das Übliche. Immer wieder Fotos, Fotos und Fotos. Und graben. Immer tiefer im Dreck wühlen, bis wir etwas finden.“

Wegner stand auf und zeigte auf das Standbild vom Polen. Er hätte beinahe dem Chefredakteur auf die Schulter geklopft, zog aber im letzten Moment seine Hand zurück und sagte: „Das ist doch schon mal ein Anfang. Da bringen wir schon mal einen Teaser morgen, oder Jürgen?“

Winkelhaber sah Wegner an und sagte: „Dass Du ein Arschloch bist, wusste ich schon vorher. Aber verrate mir bitte: Wieso Kosinski? Was hat er dir getan?“

„Er bringt zehntausend Leute dazu, an einem einzigen Abend in eine Arena zu kommen, um sich aus 100m Entfernung seine blöden Witze anzuhören. Glaub mir, der würde auch 60000 Idioten in ein Stadion treiben. Was meinst Du, was der an Auflage bringt? Du musst die Guten stürzen. Nur das hat den gewissen Effekt. Ein Überraschungseffekt in gewisser Weise. Scheisse, ich brauche was zu trinken. Gib mir noch einen Ramazotti.“

„Es ist elf Uhr, Wegner.“

„Oh! Gut, dann einen doppelten.“

„Wegner. So etwas wie das mit Roy Black, das…“

Der Kolumnist unterbrach ihn: „Ach keine Angst. Kosinski ist aus anderem Holz gemacht. Der kann viel mehr wegstecken.“

„Geschnitzt.“

„Was?“

„Aus anderem Holz geschnitzt, Wegner. Prost.“

Kapitel 4

Hagen Elbers betrat den Flughafen Köln Bonn. Nach dem für ihn persönlich peinlichen Auftritt in Wetzlar hatte er beschlossen, sein Landhaus in Schweden aufzusuchen. Es lag idyllisch an einem See im schwedischen Fjäll. Elbers nannte es gerne das „Liebesnest“. Seine Frau Erika fand das sehr romantisch. Manchmal empfing er dort auch die eine oder andere Dame, die nicht die Ehre der Bekanntschaft seiner Ehefrau gemacht hatte und es auch nie tun würde. So hoffte es Elbers jedenfalls.

Der Flug nach Stockholm Arlanda ging in neunzig Minuten. Elbers reiste stets nur mit Handgepäck. Ihm fehlte schlicht die Geduld, die man benötigte, um an einem Gepäckband am Flughafen auf seine Koffer zu warten.

Heute gab es leider beim Sicherheitscheck eine lange Schlange. Urlaubszeit eben.

Elbers flog Business Class. Das bedeutete, der nächste Sitz im Flieger war anderthalb Meter entfernt, Es ginge noch komfortabler, aber für eine First Class Buchung war er zu geizig.

Theoretisch konnte Hagen Elbers sich sogar einen eigenen Jet leisten. Aber er wusste, man blieb nicht reich, wenn man Geld ausgab. Er hatte damals klein angefangen. Noch vor fünfzehn Jahren hatte er von Gelegenheitsjobs gelebt. Lagerarbeiter, Staplerfahrer, Gartenbau. Sogar als Versicherungsvertreter hatte er gearbeitet. Ein Job, der ihm lag. Aber seine natürliche Faulheit und seine große Klappe hatten ihn aus dieser Branche nach drei Wochen wieder herauskatapultiert.

„Keiner schreit mich ungestraft an…“, dachte er, während er sich an eine Szene aus dieser Zeit erinnerte. Er hatte dem Niederlassungsleiter des Versicherungsbüros mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sich mit den Worten: „Ich kündige hiermit…“ verabschiedet.

Elbers lachte, als er daran dachte, und dann war er endlich an der Reihe. Er brachte den Sicherheitscheck hinter sich. Es waren noch vierzig Minuten bis zum Boarding, also bestellte er sich einen völlig überteuerten Cappuccino im Café hinter dem Sicherheitscheck. Der Direktflug würde nur etwas über zwei Stunden dauern. Vielleicht konnte er ja später schlafen.

Zufrieden rief er seinen Manager an.

„AP Entertainment…“, meldete sich die Sekretärin.

„Hallo Joana. Heißt das eigentlich Sekretärin, weil ihr die Sekrete eurer Chefs verwaltet? Ha, ha. Hat Andreas wieder sein Handy umgeleitet? Gib mir mal den Penner!“, Elbers Scherze waren nicht immer auf hohem Niveau.

„Moment, Hagen.“ Eine fürchterliche Warteschleifenmusik setzte ein, und nach etwa zwei Minuten, also kurz, bevor Elbers seine Geduld verlor, meldete sich Andreas Pullner, der Besitzer von AP Entertainment. Man nannte ihn deshalb manchmal APE, wie das englische Wort für Affe.

Es war Elbers, der die Idee dazu hatte.

„APE, ich muss mal raus. Bin am Flughafen und mache mich auf den Weg nach Stockholm. Komm doch rüber, falls du Zeit hast zwischendurch.“

„OK, du rufst also an, weil du Langeweile hast“, mutmaßte Andreas Pullner.

„Hast du da noch Töne? Nein!“

„Hagen, wie lange kennen wir uns?“

„Ja, schon. Aber deswegen musst du doch nicht so zickig sein. Oder bist du gerade gestresst?“, fragte Elbers, der inzwischen die Kellnerin hinter der Theke mit Blicken sezierte.

„Hagen, wer Kalle Kosinski managt, der hat immer Stress. Gibt es irgendetwas Elementares?“

„So direkt jetzt nicht. Kommst Du denn vorbei?“

„Pass auf. Ich komme gerade aus Barcelona. Ich bin vor einer Stunde gelandet und seit drei Minuten im Büro. Deshalb war mein Handy noch umgeleitet. Ich habe den Schreibtisch voll, und OK, wenn ich hier durch bin, melde ich mich noch einmal. Vielleicht sehen wir uns dann in drei oder vier Tagen in Schweden, ja? Zufrieden?“

„Ich lass ein paar Nutten kommen…“, sagte Elbers noch, doch Pullner hatte schon aufgelegt.

Elbers sah auf und blickte in das erboste Gesicht der Kellnerin. Diese fragte verkniffen: „Vielleicht noch einen Cappuccino vorher?“

Elbers hielt ihrem Blick stand und sagte: „Einen Whiskey, bitte.“

Er mochte Andreas Pullner. Sie waren seit über zwanzig Jahren befreundet, und Pullner war von Anfang an dabei gewesen, hatte ihn auf dem Weg nach oben begleitet. Nun waren sie beide auf dem Gipfel angekommen. Kennengelernt hatten sie sich damals auf einer Party, bei der Elbers mit seiner damaligen Band einen Auftritt bestritt. Pullner hatte damals einen schmierigen Alleinunterhalter unter Vertrag. Sein einziger Kunde, wenn der Begriff „Kunde“ überhaupt zutraf. Pullner witterte zu dieser Zeit Gewinn, da er das unbestreitbare Charisma von Elbers erkannte. Später ergab sich eine seltsame Freundschaft aus dem dauerhaften Kontakt, den ihre Geschäftsbeziehung mit sich brachte. Nun, viele Jahre später, zählte AP Entertainment zu den großen Agenturen in der Branche, und wie es aussah, würde Pullners Unternehmen bald zu einem großen börsennotierten Medienkonzern gehören. Andreas Pullner war nicht mehr aufzuhalten.

„Du alte Ratte. Hast es auch geschafft. Dank mir…“, dachte Elbers und trank den Scotch mit einem einzigen Schluck aus. Dann sah er noch einmal auf das Display seines Smartphones und stellte es auf Flugmodus.

Die alten Zeiten kamen ihm in den Sinn.

Damals hatte Elbers in einer Top-40-Band gespielt. In erster Linie wegen des Geldes, das er so nebenher verdienen konnte, aber auch die vielen Frauen, die er bei diesen Gelegenheiten flachlegen konnte, waren ihm ein Anliegen. Er hatte sich in dieser Zeit durch ganze Ortschaften gevögelt. Elbers der Lead-Sänger. Auch damals schon konnte man ihn einen unterhaltsamen Entertainer nennen. Er hatte das Publikum im Griff. Und nach den Auftritten die Frauen. Irgendwann buchte man die Band hauptsächlich wegen Elbers. Aus Neid und Eifersucht wurde er von den anderen Musikern gefeuert.

„Noch einen Whiskey, bitte“, rief Elbers der Kellnerin zu. Sie nahm wortlos sein Glas und einen Augenblick später bekam er den zweiten Drink.

Nach dem Rauswurf damals half der Zufall seinem Schicksal auf die Sprünge.

Der neue Chef-Redakteur eines Privat-fernsehsenders hatte ihn vor fünfzehn Jahren angerufen: „Ich habe sie mit dieser Band gesehen. Wir möchten ihnen ein Angebot machen. Eine eigene Fernsehsendung.“

„Ist das ihr Ernst“, fragte Elbers. Denn er konnte es gar nicht fassen.

Kurz darauf gab es ein Meeting beim Sender.

„Sie sprechen mit Menschen und schenken ihnen Geld. Das ist das eigentliche Konzept.“

„Was ist das für ein Quatsch? Wer soll mich da noch ernst nehmen? Dann kann ich bald gar nicht mehr auf die Straße!“, hatte Elbers geantwortet.

„Dann verkleiden sie sich doch“, sagte da der Chefredakteur. Es war als Scherz gedacht.

Aber dieser Moment setzte den Grundstein für die Geburt von Kalle Kosinski. Pullner stand ihm zur Seite, und Elbers Karriere ging steil. Pullner verdiente natürlich ebenfalls daran.

Ob in einer heruntergekommenen Pommesbude, als schmieriger Taxifahrer oder einfach als Fahrgast an der Bushaltestelle. Kalle Kosinski sprach mit wildfremden Leuten, machte seine flachen Witze und belohnte die Menschen mit 100€-Scheinen, wenn sie die Begriffe zufällig aussprachen, die dem Fernsehpublikum vorher eingeblendet wurden. Die Quoten brachen alle Rekorde. Kalle Kosinski war der neue Publikumsliebling.

Kurz nach der ersten von drei Staffeln bekam Elbers darüber hinaus eine eigene Comedyserie. Dort spielte er als Kalle Kosinski die gerissene Hilfskraft eines türkischstämmigen Besitzers einer Änderungsschneiderei und Reinigung in Oer Erkenschwick. Kalles Wahlheimat.

„Klar wie Kalle“, hieß die Serie. Sämtliche Folgen wurden mehrfach wiederholt. Pullner verstand halt seinen Job.

Endlich begann das Boarding.

Für Elbers war es das Priority Boarding.

Souverän lief er an der langen Schlange der wartenden Fluggäste vorbei.

„Verzeihung…, Entschuldigung…, darf ich?“, murmelte der drahtig wirkende Showstar, als er sich mit seinem RIMOWA-Trolley an der Schlange vorbeidrückte.

Die unflätigen Bemerkungen und das genervte Aufstöhnen der anderen Fluggäste nahm er gar nicht wahr.

Beim Einstieg in den Flieger bot ihm die eine Stewardess Zeitschriften an. Die aktuelle Ausgabe der „Blick aus Berlin“ schob er verächtlich zur Seite. „Keine Zeitung. Ist eh alles gelogen.“

Dann begab er sich zu seinem Platz am Fenster, keine drei Schritte entfernt. Er verstaute sein Handgepäck und setzte sich hin.

Elbers betrachtete ungeniert den Hintern einer Stewardess. „Gar nicht so übel“, befand er. Allerdings konnte der Komiker sich nicht daran erinnern, ob sie große oder eher kleine Brüste hatte. Dies war jedoch Bestandteil seines beschränkten Bewertungsmusters und war unbedingt abzuklären. Er stand auf und berührte ihre Schulter, während andere Fluggäste sich an ihm vorbeidrängelten.

„Entschuldigung? Könnte ich wohl doch ein paar Zeitungen haben?“

Sie reichte ihm sichtlich erstaunt die „BaB“ und die „Financial Times“. Elbers starrte kurz auf ihre Oberweite und setzte sich wieder.

„Von hinten geht’s“, bewertete er die unwissende Stewardess und fing an, in der „Financial Times“ zu blättern. Geld interessierte ihn nicht mehr, seitdem er genug davon besaß. Er hatte weitestgehend in Immobilien investiert. Das Anwesen in Schweden. Geschäftshäuser in Düsseldorf, Berlin und Frankfurt. Wohnhäuser in Köln und München. Sogar ein kleines Schloss in der Provence. Und ein Swinger Club im Ruhrgebiet. Investition soll ja auch Spaß machen, hatte er sich gesagt.

Endlich bemerkte er, dass er die Zeitung die ganze Zeit verkehrt herum gehalten hatte.

Er steckte sie mit der „Blick aus Berlin“ zusammen in das Netz an dem Vordersitz. Endlich schloss man die Türen, und die Turbinen wurden gestartet.

Boarding completed.

An der Fliegerei verabscheute Elbers einzig den Start der Maschine. Der Moment der Beschleunigung und der Verlust der Bodenhaftung. Der Augenblick, der ihm bescheinigte, dass er nicht die Kontrolle besaß.

Danach genoss er den Flug genauso wie den Alkohol in Form von Whiskeykonsum.

Nach dem zweiten Old Jameson merkte Elbers, dass er seine Kopfhörer vergessen hatte. Also konnte er nicht auf dem Smartphone sein Hörbuch weiter genießen. Das fand er ärgerlich. Er hörte „Die Sprache des Feuers“ von Don Winslow. Insgeheim hatte er sich auf den Flug gefreut, weil er wissen wollte, wie die Geschichte weiterging.

„Dann halt Titten“, beschloss er und griff sich die „Blick aus Berlin“, wo in der Regel junge, mittelmäßig aussehende, aber höchst verzweifelte Frauen ihre Körper auf der dritten Seite zur Schau stellten.

Direkt daneben fand er die Kolumne „Wegners Worte“. Elbers empfand diese Rubrik als den absoluten Tiefpunkt von allem, was jemals durch Medien veröffentlicht wurde.

In dieser Ausgabe erblickte er erstaunlicherweise ein Foto vom Polen.

Dazu stand geschrieben:

Lieber Kalle Kosinski,

Menschen müssen lachen. Sie lachen gerne. Auch ich lache gerne. Kalle Kosinski ist lustig, und wir lachen.

Aber wenn Kalle Kosinski feiern geht, lacht er ohne seine Frau und seine Freunde. Und seine Roadies müssen schweigen.

Das ist nicht lustig.

Was machst du nur mit uns, Kalle?

Unter dem Foto stand noch in kleiner Schrift:

Ralf Poll, 42 Jahre, Kosinski-Team Chef. „Ich packe aus…“ – Die Wahrheit über Kalle demnächst hier in der „Blick aus Berlin“

„Ach du Scheiße!“, rief Elbers.

In diesem Augenblick geriet das Flugzeug in Turbulenzen.

Kapitel 5

Andreas Pullner hatte den Tag im Prinzip im gleichen Moment verflucht, in dem er den Anruf von Hagen Elbers beendet hatte. Eine Einladung nach Schweden. So ein Mist.

Abgesehen davon, dass er wirklich keine Zeit hatte, um sich um alle Künstler zu kümmern, die bei ihm unter Vertrag standen: Es fehlte ihm auch die Motivation, sich auf die üblichen Exzesse einzulassen. Ja, Exzesse gingen stets einher mit Elbers Bemühungen, seinen Gästen ein „richtig schönes Wochenende“ zu bereiten.

Es war nicht das Kokain, das es zu konsumieren galt, um nicht die Achtung von Elbers einzubüßen. Es war nicht der Alkohol, der bei diesen Gelegenheiten in Strömen floss. Nein. Es waren einzig die verdammten Nutten.

Pullner stand im Moment eher der Sinn nach einem ordentlichen, gut gebauten, jungen Stricher. Pullner hatte bisexuelle Neigungen, aber die Präferenzen lagen klar beim männlichen Geschlecht.

Aus der Perspektive von Hagen Elbers verband beide eine langjährige Freundschaft. Aus Pullners Sicht sah die Sache jedoch anders aus.

Sie brauchten damals beide dringend Geld, und Elbers war bereit, sich für Geld zum Affen zu machen.

Pullner hingegen kannte die Leute, die nach Affen suchten. Eine Win-win-Situation.

Während er die sexistische und teilweise homophobe Weltanschauung von Elbers verachtete, besorgte er ihm gegen Bares Auftrittsmöglichkeiten und vermittelte ihm Kontakte. Stets gegen eine prozentuale Beteiligung. Dafür hielt er Elbers den Rücken frei. Pullner kümmerte sich um die Technik, um die Anreise, die Abreise, um Hotelbuchungen, um das Essen, um die Gagen, um die Flasche Sekt in der Garderobe und auch um die verdammten Nutten.

Wenn Elbers keine Gelegenheit zum Ficken bekam, war er kaum zu ertragen.

Pullner war geschäftstüchtig genug, um zu erkennen, dass Elbers Potential besaß. Und wenn er seinen Schwanz dafür in die Mösen irgendwelcher Huren stecken musste, damit Elbers ihm im wahrsten Sinne die Stange hielt, dann war das halt so. Aufgebrezelte, billige Osteuropäerinnen entsprachen überhaupt nicht Pullners Wunschvorstellung von einer Frau. Das Alptraumszenario, zusammen in einem Raum mit Elbers und seinen Kumpanen Nutten zu vögeln, bescherte ihm regelmäßige Potenzstörungen. Das Viagra, das er nehmen musste, verlängerte zwar seine Erektionen, steigerte aber keineswegs seine Lust.

Vielleicht mochte er deshalb Männer lieber? Weil er, wenn er Liebe mit einem Mann machte, unmöglich in die Situation kommen konnte, dass neben ihm Elbers auftauchte und ihn im Kokainrausch anbrüllte: „Los, nimm das andere Loch, APE!“

Und jetzt sollte er schon wieder zum Rudel-bumsen nach Schweden. Eine Absage würde Elbers ihn bei der nächsten Gelegenheit mit blöden Sprüchen spüren lassen.

Etwa zu der Zeit, als Elbers an Bord seines Fliegers ging, klingelte bei Pullner das Handy.

Andreas Pullner stand gerade in Verhandlungen mit einem Medienriesen, der seine Agentur übernehmen wollte.

Und das gäbe es zu traumhaften Bedingungen: Pullner würde bei extrem gesteigerten Einkünften seine derzeitige Position behalten. Aber die Fusion befreite ihn von sämtlichen unternehmerischen Risiken.

Künstler konnte man in dieser Hinsicht getrost als tickende Zeitbomben bezeichnen.

Der Nachteil an dem Vertrag mit der Großgesellschaft bestand darin, dass Elbers aka Kalle Kosinski das Zugpferd darstellte. Ohne Elbers keine Fusion. Aufwändiges Social Engineering war deshalb unerlässlich. Aber die Umsätze waren wirklich grandios.

Je mehr das Volk verblödete, desto primitiver wollte es unterhalten werden. Seit Jahren stellte jede Tournee seiner Künstler eine Wiederholung der vorherigen dar. Immer das gleiche Muster.

Das größte Problem stellte das Schicksal ihm in Form seines Verhandlungspartners in den Weg: Simone Schäffer. Eine Frau. Das Display zeigte ihren Namen an, und für Pullner wirkte der Anblick so bedrohlich wie eine Gewitterwolke auf hoher See.

Pullner wickelte jeden um den Finger. Mit insektenhafter Verbissenheit konnte er Verhand-lungen so führen, dass für ihn das Maximum herauskam. Sofern er mit Männern verhandelte. Stand er einer Frau gegenüber, fehlten ihm die richtigen Worte, verließ ihn das nötige Fingerspitzengefühl, schoss er über das Ziel hinaus.

Pullner wusste nicht, wie Frauen tickten. Deshalb galt er allgemein als Chauvinist. Er ging ran. Auch im wörtlichen Sinn.

„Hallo Simone, Schatz.Was ist los. Darf ich dich heute zum Essen ausführen?“, meldete sich Pullner am Telefon.

„Ich befürchte, das werden sie sich bald nicht mehr leisten können. Vielleicht sollte ich tatsächlich ihre Einladung annehmen.“

„Äh, bitte?“

„Schon die Zeitung gelesen? Die „Blick aus Berlin“? Sollten sie mal tun. Und dann bringen sie den Scheiß bitte in Ordnung. Auf Wiederhören.“

Sie legte auf. Pullner hielt sich immer noch sein Handy an sein Ohr, als er durch die geöffnete Zwischentür seiner Sekretärin im Nebenbüro zurief: „Joana! Ich brauche sofort das Hetzblatt von heute. Den Stürmer für Schulabbrecher. Die verdammte „Blick aus Berlin“. Los! Schnell, wenn es geht!“

Polen