Clemens Sedmak

DAS LAND, IN DEM DIE WÖRTER WOHNEN

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2019 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Roberto Baldissera, Agentur für
Grafik, Innsbruck
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Druck und Bindung: L. E. G. O., Vicenza (I)
ISBN 978-3-7022-3743-1 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3744-8 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhalt

VORWORT

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

VORWORT

Meine Großmutter Henriette hatte drei Kinder: Günther, Pia und Brigitte. Meinem Vater Günther und seinen beiden jüngeren Schwestern ist dieses Buch gewidmet. Natürlich habe ich meinen Vater nie erlebt, als er ein achtjähriger, sicherlich aufgeweckter, wohl auch sprachgewandter und fürsorglich eingestellter Bub war. Aber ich stelle ihn mir als Buben so ähnlich vor wie den Günther in diesem philosophischen Märchen.

Später wurde mein Vater Rechtsanwalt, der Wahrheit und der Macht des Wortes verpflichtet. Das, was man „das erlösende Wort“ nennt, oder auch das, was „das richtige Wort“ (le mot juste) genannt wird, lagen ihm besonders am Herzen. Das konnte man aus seinen Briefen herauslesen und aus seinen Reden heraushören.

Mein Bruder und ich wuchsen in einer Welt von Büchern auf. In unserem Wohnzimmer sah es so ähnlich aus wie in einer kleinen gemütlichen Buchhandlung – viele Bücher in Wohnzimmeratmosphäre. Die gemütliche Sitzgelegenheit – meine erste Begegnung mit dem Wort „Fauteuil“ – durfte nicht fehlen. Viele Stunden ist mein Vater lesend im Wohnzimmer gesessen.

Heute ist der Fauteuil leer. Die Kinder meiner Großmutter Henriette sind schon verstorben. Aber weder sind ihre Stimmen verloren oder vergessen, noch wäre es gut, die Macht des Wortes zu unterschätzen. Worte sind kraftvoll – und können um ihre Kraft gebracht werden, wenn die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt.

So will dieses schmale Buch an die Ehrfurcht vor dem Wort erinnern.

Also: Für Günther, Pia und Brigitte. In Dankbarkeit.

Zum Mittagessen gab es Gemüsepalatschinken. Papa erzählte begeistert von seiner letzten Bergwanderung mit Freunden.

„Das Wetter war herrlich, und es waren auch nicht zu viele Leute“, sagte er, „und von oben hatte man eine wunderbare …“ Er hielt mitten im Satz inne und schüttelte den Kopf. „Jetzt fällt mir das Wort nicht ein.“ Und er blickte uns ratlos an.

Dann gab es noch Birnenkompott, und das macht Mama immer sehr gut. Den kleinen Vorfall mit Papa hatten wir längst vergessen.

Wir, das sind die Kinder der Familie Henriette, Papa, Mama und die drei Kinder, nämlich Brigitte, Pia und ich. Ich bin Günther. Mit „h“. Und ich bin acht Jahre alt, also schon ziemlich groß. Und ich möchte euch jetzt diese Geschichte erzählen. Sie handelt von jenem Land, in dem die Wörter wohnen, die Wörter, die uns verlassen wollten, aber so weit sind wir noch gar nicht. Wir waren eben bei diesem ganz gewöhnlichen Mittagessen an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag. Da hat alles begonnen.

Mama hat nach dem Essen das Geschirr zum Abwaschen in die Küche getragen.

„Komm, nimm du die Gläser“, hat sie zu Brigitte gesagt, „und du, Günther, nimm doch die …“ Und dann stockte sie, schüttelte den Kopf und zeigte auf die Kompottschüssel. „Jetzt fällt mir doch wirklich nicht ein, wie dieses Ding heißt.“

Ich habe mir nicht viel gedacht, nur einfach „hoppala“ gesagt, die Kompottschüssel genommen und in die Küche getragen.

Am Nachmittag nach den wieder recht langweiligen Hausaufgaben gingen Pia und ich einkaufen. Ich bin nämlich sehr gescheit und kann das schon ganz alleine. Und auf meine Schwester kann ich auch aufpassen. Sie ist ja erst sieben Jahre alt. Und Brigitte ist fünf.

An diesem Donnerstag ging ich mit Pia in das große Geschäft am Ende der Straße. Wie immer nahm ich eine Einkaufsliste mit, da schreibt mir Mama immer auf, was wir einkaufen sollen. Milch stand da und Äpfel und Bananen und Haferflocken und Zucker und noch allerlei Dinge. Ich bin nämlich stark und kann viel tragen und Pia hilft mir ein bisschen. Im Geschäft war es dann ganz einfach; der alte Herr Wimmer, der mir im Sommer manchmal ein Eis schenkt, hat mir die Sachen gebracht. Alles klappte wunderbar.

Als ich zahlen wollte, hat mich Pia am Ärmel gezupft, „Kann ich das haben?“ und auf eine Tafel Schokolade gezeigt. Und, seltsam, wir beide hatten das Wort Schokolade vergessen, es fiel uns einfach nicht mehr ein. Seltsam!

Auf dem Rückweg vom Geschäft trödeln wir gerne ein bisschen herum. Wir bleiben vor Schaufenstern stehen und zählen die Autos, wie viele weiße und wie viele rote. Ich kenne auch schon sehr viele Automarken und kann einen Peugeot und einen Volkswagen leicht unterscheiden. An diesem Tag war es aber wie verhext, ich hatte alle Autonamen vergessen. Und Pia, die sich sonst alle Blumennamen merkt, konnte keine einzige Blume benennen. Und mein Freund Hans, der alle Fernsehsendungen kennt, hatte auf einmal die Namen von allen Sendungen vergessen; und meine Freundin Erika, die sehr gerne liest, konnte mir an diesem Tag nicht einmal sagen, welches Buch sie gerade verschlang. Es war ein eigenartiger Nachmittag.

Und es wurde ein eigenartiges Abendessen. Mama wollte erzählen, was sie am Wochenende gerne unternehmen würde, aber die meisten Wörter fielen ihr einfach nicht ein; Papa wollte wissen, was wir am Nachmittag gemacht hatten, aber wir konnten es ihm beim besten Willen nicht erzählen; uns waren wirklich die Wörter ausgegangen. Papa konnte uns keine Gutenachtgeschichte erzählen, Mama konnte uns kein Schlaflied singen, wir alle gemeinsam konnten unser Abendgebet nicht aufsagen. Und ich wurde immer bedrückter.

Am nächsten Morgen waren wir alle stumm. Papa, Mama, Brigitte, Pia und ich. Uns waren alle Wörter ausgegangen. Alle. Es war fürchterlich. An diesem Freitag war ein Feiertag, und wir mussten nicht in die Schule gehen. Aber wie gerne wären wir in der Schule gewesen, denn es war ein schrecklich öder und langer Tag. Wir konnten nicht richtig spielen, wir konnten nichts lesen, wir konnten nicht miteinander reden, ja wir konnten nicht einmal miteinander streiten. Und ich streite so gern.

„Du wirst sicher einmal einen Beruf haben, in dem du viel streiten kannst“, sagt Mama immer. Aber an diesem Freitag war mir gar nicht nach Streiten zumute. Ich hätte so gern mit Hans und Erika geplaudert oder meine Großmutter besucht. Meine Großmutter kann herrlich Geschichten erzählen. Aber an diesem Freitag war alles stumm.

Wir schlichen durch die Straßen und begegneten nur bedrückten stummen Menschen, die die Köpfe hängen ließen. Der Straßenbahnschaffner machte keine Witze, der Eisverkäufer sagte nicht „Guten Morgen“, Herr Trübitz, unser Nachbar, konnte nicht einmal seinen Hund rufen, was er sonst immer in der Mittagspause tut, denn sein Hund streunt mittags gerne herum. An diesem Freitag war alles still. So gern hätten wir sogar Herrn Trübitz schreien gehört oder die andere Nachbarin mit ihrem Mann schimpfen, aber alle blieben stumm. Schweigend aßen wir zu Abend und schweigend legten wir uns ins Bett.

In dieser Nacht hatte ich einen eigenartigen Traum: Ich träumte vom Land der Wörter, und ich träumte davon, dass die Wörter beschlossen hatten, sich aus der Welt der Menschen zurückzuziehen, weil die Menschen immer mehr Lügen erzählten und falsche Worte gebrauchten, falsche Worte, die schön klingen. Und ich träumte davon, dass die Wörter miteinander beratschlagten, wie es denn weitergehen sollte. Und im Traum sah ich unseren Buchladen, die kleine Buchhandlung in unserer Stadt, in die mich Mama schon als ganz kleines Kind mitgenommen hatte. Irgendwie spürte ich, dass dieser Buchladen der Schlüssel zu allem war. Dann wachte ich auf.

Der nächste Morgen war so stumm, wie der letzte Abend geendet hatte. Dennoch fühlte ich mich nicht so niedergeschlagen, mein Traum hatte mir Mut gemacht. Nach dem Frühstück, bei dem wir alle schweigend um den Tisch saßen, gingen Pia und ich in die Stadt; Brigitte nahmen wir zwischen uns. Meine Schwestern wussten nicht, wohin unser Spaziergang gehen sollte, aber ich wusste es genau. Ich führte sie in den Buchladen, von dem ich geträumt hatte.

Es war kein sehr fröhlicher Spaziergang, schweigend trotteten wir an schweigenden Menschen vorbei, mir kam es so vor, als marschierten wir durch eine Geisterwelt. Endlich waren wir beim Buchladen angelangt. Ich machte die Tür auf, und wir gingen hinein.

Unser Buchladen ist mehr eine Bücherstube, es gibt eine gemütliche Leseecke, es gibt einen netten kleinen Ofen, auf dem ein Teekessel stand, es gibt eine Stehlampe, die warmes Licht verstrahlte, und es gibt eine Unmenge von Büchern. Große Bücher und kleine Bücher, dicke Bücher und dünne Bücher, liegende Bücher und stehende Bücher, Bücher mit Bildern und Bücher mit Zahlen, Bücher mit einem bunten Umschlag und Bücher, die ganz unscheinbar aussahen.

Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählt habe, aber ich liebe Bücher. Ein Buch ist wie ein Freund für mich. Mit einem Buch-Freund kann ich in eine ganz eigene Welt gehen, mit diesem Freund kann ich ganz großartige Dinge erleben, mit diesem Freund kann ich träumen und lachen, weinen und traurig sein. Ein Buch ist auch ein geduldiger Begleiter, der immer da ist, wenn ich ihn brauche. Meine Eltern haben ganz viele Bücher, und wenn ich groß bin, möchte ich auch ganz viele Bücher haben.

In der Bücherstube fühle ich mich immer sehr wohl, ich könnte stundenlang bei den Kinderbüchern stehen und in den Büchern blättern, Bilder anschauen, ein paar Seiten lesen, weiterblättern … So wird es euch nicht wundern, dass ich sofort zu den Kinderbüchern gegangen bin. Ich hab geschmökert und bald die Welt um mich herum vergessen. Ich hörte auch nicht, wie Pia und Brigitte mit dem Buchhändler, einem lieben alten Herrn, redeten, und es fiel mir gar nicht auf, dass sie ganz normal redeten, als wäre die Welt draußen gar nicht stumm geworden. Erst als Pia mich am Ärmel zupfte, wurde ich aufmerksam.

„Hier können wir wieder reden“, sagte sie ganz aufgeregt, „und der Buchhändler kann auch reden, und alle können reden!“

Jetzt erst wurde mir klar, dass wir nicht die Einzigen in der Buchhandlung waren und dass sich eigentlich sehr viele Menschen in der kleinen Bücherstube drängten und munter miteinander schwatzten. Das Reden war wie Musik in meinen Ohren, nach den Stunden der drückenden Stummheit! Es war alles so, wie wir es früher immer gewohnt waren. Und doch, ich kann nicht sagen, warum, war es ein bisschen anders.

Da kam auch der Buchhändler auf uns zu. Er führte Brigitte, die alle Scheu verloren hatte, an der Hand und sagte augenzwinkernd: „Kommt, ich muss euch etwas zeigen.“

Und wir gingen mit ihm in eine Ecke der Bücherstube. Der Buchhändler zog ein großes Buch aus dem Regal. „Das Buch der Wörter“ stand auf dem Umschlag, das konnte ich noch lesen.

„Schlüpft einmal durch dieses Buch“, sagte er, und das taten wir. Wenn ihr nicht wisst, wie das ist, wenn man durch ein Buch schlüpft, dann kann ich euch nur raten, auch in diese Bücherstube zu gehen, denn es ist ganz einfach.