Gustave Flaubert

Madame Bovary

Gustave Flaubert

Madame Bovary

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Arthur Schurig
EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1912, 1952
4. Auflage, ISBN 978-3-943466-98-0

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Inhaltsverzeichnis

Ma­da­me Bo­va­ry und Gu­sta­ve Flau­bert

Ers­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

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Madame Bovary und Gustave Flaubert

Gu­sta­ve Flau­bert

Gu­sta­ve Flau­bert, ge­bo­ren im Jahr 1821 in Rou­en, zählt zu den großen Ro­man­ciers der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur und gilt als prä­gen­der Weg­be­rei­ter des »l’art pour l’art«, der Be­we­gung, die eine rei­ne Au­to­no­mie der Kunst an­streb­te, da die­se sich selbst ge­nü­gen soll­te.

Flau­bert wuchs in wohl­ha­ben­den Ver­hält­nis­sen als Sohn ei­nes Arz­tes auf und wur­de des­halb be­reits in jun­gen Jah­ren mit mensch­li­chen Lei­den be­kannt, die er im Kran­ken­haus, dem sein Va­ter als Che­f­arzt vor­stand, mit ei­ge­nen Au­gen se­hen konn­te. Schon früh zeig­te sich die Be­ga­bung des jun­gen Gu­sta­ve, der be­reits in Ju­gend­jah­ren sei­ne Frei­zeit haupt­säch­lich dem Schrei­ben wid­me­te.

Ur­sprüng­lich hät­te Flau­bert auf Wunsch sei­ner Fa­mi­lie Jura stu­die­ren sol­len, muss­te die­se Plä­ne aber aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den auf­ge­ben. Statt­des­sen un­ter­nahm er di­ver­se Rei­sen, prä­gen­de Er­leb­nis­se da­bei wa­ren vor al­lem sei­ne Fahr­ten in den Ori­ent. Der Schrift­stel­ler zog sich nach dem Tod des Va­ters mit der Mut­ter in die Stil­le sei­nes El­tern­hau­ses zu­rück und wid­me­te sich sei­nem Schrei­ben.

Gu­sta­ve Flau­bert ver­stand sich selbst im Grun­de sei­nes Her­zens als der ro­man­ti­schen Strö­mung in­nig­lich ver­bun­den, ver­such­te je­doch, die­se Ge­füh­le in sei­nen Wer­ken zu til­gen. So ging er in die Ge­schich­te der Welt­li­te­ra­tur ein als eben­so gna­den- wie scho­nungs­lo­ser Rea­list, des­sen kunst­vol­le Pro­sa eine Äs­the­tik des Häss­li­chen und der Il­lu­si­ons­lo­sig­keit pro­pa­giert. In der Ein­sam­keit des Fa­mi­li­en­guts op­fer­te sich Flau­bert ganz für sei­ne Kunst auf, die er als »wü­ten­de Chi­mä­re«1 be­zeich­ne­te.

Ob­gleich der Dich­ter be­reits seit sei­nen Ju­gend­jah­ren schrieb, konn­ten sei­ne Wer­ke lan­ge Zeit sei­nen ho­hen An­sprü­chen nicht ge­nü­gen. Erst mit »Ma­da­me Bo­va­ry«, ei­nem Ro­man, den er im Jah­re 1851 be­gon­nen hat­te, wur­de ei­nes sei­ner Wer­ke ver­öf­fent­licht.

»Ma­da­me Bo­va­ry«

»Ma­da­me Bo­va­ry« wur­de zu­al­ler­erst 1856 in der Zeit­schrift »La Re­vue de Pa­ris« ver­öf­fent­licht. Dies ge­sch­ah in zen­sier­ter Form, da dem Ur­he­ber des Ro­mans ein Ver­stoß ge­gen die gu­ten Sit­ten vor­ge­wor­fen wur­de, auch wur­de er be­schul­digt, den Ehe­bruch zu ver­herr­li­chen. Des­we­gen er­folg­te eine An­kla­ge ge­gen Flau­bert, die je­doch wie­der fal­len ge­las­sen wur­de. Im Jahr 1857 kam es end­gül­tig zur Ver­öf­fent­li­chung des Ro­mans in Buch­form. »Ma­da­me Bo­va­ry« gilt heu­te als ei­nes der wich­tigs­ten Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur und wur­de vor al­lem durch die mo­der­ne Er­zähl­wei­se welt­be­rühmt.

Pro­tago­nis­tin ist die jun­ge Emma, die sich aus der länd­li­chen Ein­sam­keit des el­ter­li­chen Hau­ses, das sie al­lei­ne mit ih­rem Va­ter be­wohnt, her­aus­sehnt. Durch die Hei­rat mit dem Arzt Charles Bo­va­ry er­hofft sie sich ein auf­re­gen­des Le­ben in Wohl­stand und Ge­sell­schaft, muss aber bald er­ken­nen, dass die Rea­li­tät hin­ter ih­ren Träu­men zu­rück­bleibt. So stürzt sich die jun­ge Frau, un­ge­ach­tet der Toch­ter, die sie bald dar­auf mit Charles Bo­va­ry be­kommt, nach­ein­an­der in zwei Af­fä­ren, in de­nen sie jene Wün­sche zu be­frie­di­gen sucht, die ihr in ih­rer Ehe ver­wehrt blei­ben. Mehr und mehr ver­strickt sich die Pro­tago­nis­tin in Lü­gen und Schul­den und be­en­det schließ­lich ihr Le­ben durch die Ein­nah­me von Ar­sen.

»Ma­da­me Bo­va­ry« be­sticht vor al­lem durch die vollen­de­te Sprach­form und die Er­zähl­hal­tung. Flau­bert wähl­te einen per­so­na­len Er­zäh­ler, der un­par­tei­isch und neu­tral kei­ner­lei Wer­tung vor­nimmt und er­zeugt den­noch in vollen­de­ter Psy­cho­lo­gi­sie­rung eine In­nen­per­spek­ti­ve der de­tail­liert ge­schil­der­ten Fi­gu­ren. Flau­berts ers­ter ver­öf­fent­lich­ter Ro­man ist ein Meis­ter­werk ho­her Er­zähl­kunst, die mit Tra­di­tio­nen bricht und in ih­rer Ge­stal­tung be­reits Züge mo­der­nen Schrei­bens vor­weg­nimmt.


  1. Mischwe­sen der grie­chi­schen My­tho­lo­gie  <<<

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Es war Ar­beits­stun­de. Da trat der Rek­tor ein, ihm zur Sei­te ein ›Neu­er‹, in ge­wöhn­li­chem An­zu­ge, der Pe­dell hin­ter den bei­den, Schul­stu­ben­ge­rät in den Hän­den. Alle Schü­ler er­ho­ben sich von ih­ren Plät­zen, wo­bei man so tat, als sei man aus sei­nen Stu­di­en auf­ge­scheucht wor­den. Wer ein­ge­nickt war, fuhr mit auf.

Der Rek­tor wink­te ab. Man setz­te sich wie­der hin. Da­rauf wand­te er sich zu dem die Auf­sicht füh­ren­den Leh­rer.

»Herr Ro­ger!« lis­pel­te er. »Die­sen neu­en Zög­ling hier emp­feh­le ich Ih­nen be­son­ders. Er kommt zu­nächst in die Quin­ta. Bei löb­li­chem Fleiß und Be­tra­gen wird er aber in die Quar­ta ver­setzt, in die er sei­nem Al­ter nach ge­hört.«

Der Neu­ling blieb in dem Win­kel hin­ter der Türe ste­hen. Man konn­te ihn nicht or­dent­lich se­hen, aber of­fen­bar war er ein Bau­ern­jun­ge, so un­ge­fähr fünf­zehn Jah­re alt und grö­ßer als alle an­de­ren. Die Haa­re trug er mit Sim­pel­fran­sen in die Stirn hin­ein, wie ein Dorf­schul­meis­ter. Sonst sah er gar nicht dumm aus, nur war er höchst ver­le­gen. So schmäch­tig er war, be­eng­te ihn sein grü­ner Tuch­rock mit schwar­zen Knöp­fen doch sicht­lich, und durch den Schlitz in den Är­me­lauf­schlä­gen schim­mer­ten rote Hand­ge­len­ke her­vor, die zwei­fel­los die freie Luft ge­wöhnt wa­ren. Er hat­te gelb­brau­ne, durch die Trä­ger über­mä­ßig hoch­ge­zo­ge­ne Ho­sen an und blaue St­rümp­fe. Sei­ne Stie­fel wa­ren derb, schlecht ge­wichst und mit Nä­geln be­schla­gen.

Man be­gann die fer­ti­gen Ar­bei­ten vor­zu­le­sen. Der Neu­ling hör­te auf­merk­samst zu, mit wah­rer Kir­chen­an­dacht, wo­bei er es nicht ein­mal wag­te, die Bei­ne über­ein­an­der zu schla­gen noch den El­len­bo­gen auf­zu­stüt­zen. Um zwei Uhr, als die Schul­glo­cke läu­te­te, muss­te ihn der Leh­rer erst be­son­ders auf­for­dern, ehe er sich den an­de­ren an­schloss.

Es war in der Klas­se Sit­te, beim Ein­tritt in das Un­ter­richts­zim­mer die Müt­zen weg­zu­schleu­dern, um die Hän­de frei zu be­kom­men. Es kam dar­auf an, sei­ne Müt­ze gleich von der Tür aus un­ter die rich­ti­ge Bank zu wer­fen, wo­bei sie un­ter ei­ner tüch­ti­gen Staub­wol­ke laut auf­klatsch­te. Das war so Schul­jun­gen­art.

Sei es nun, dass ihm die­ses Ver­fah­ren ent­gan­gen war oder dass er nicht ge­wagt hat­te, es eben­so zu ma­chen, kurz und gut: als das Ge­bet zu Ende war, hat­te der Neu­ling sei­ne Müt­ze noch im­mer vor sich auf den Kni­en. Das war ein wah­rer Wech­sel­balg von Kopf­be­de­ckung. Be­stand­tei­le von ihr er­in­ner­ten an eine Bä­ren­müt­ze, an­de­re an eine Tschap­ka, wie­der an­de­re an einen run­den Filz­hut, an ein Pelz­ba­rett, an ein wol­le­nes Käp­pi, mit ei­nem Wor­te: an al­ler­lei arm­se­li­ge Din­ge, de­ren stum­me Häss­lich­keit tief­sin­nig stimmt wie das Ge­sicht ei­nes Blöd­sin­ni­gen. Sie war ei­för­mig, und Fisch­bein­stäb­chen ver­lie­hen ihr den in­ne­ren Halt; zu un­terst sah man drei run­de Wüls­te, dar­über (von­ein­an­der durch ein ro­tes Band ge­trennt) Rau­ten aus Samt und Ka­nin­chen­fell und zu­oberst eine Art Sack, den ein viel­e­cki­ger Papp­de­ckel mit kun­ter­bun­ter Schnuren­sti­cke­rei krön­te und von dem her­ab an ei­nem ziem­lich dün­nen Fa­den eine klei­ne gold­ne Trod­del hing. Die­se Kopf­be­de­ckung war neu, was man am Glan­ze des Schir­mes er­ken­nen konn­te.

»Steh auf!« be­fahl der Leh­rer.

Der Jun­ge er­hob sich. Da­bei ent­glitt ihm sein Tur­ban, und die gan­ze Klas­se fing an zu ki­chern. Er bück­te sich, das Müt­ze­nun­ge­tüm auf­zu­he­ben. Ein Nach­bar stieß mit dem El­len­bo­gen dar­an, so­dass es wie­der­um zu Bo­den fiel. Ein aber­ma­li­ges Sich-da­nach-bücken.

»Leg doch dei­nen Helm weg!« sag­te der Leh­rer, ein Witz­bold.

Das schal­len­de Ge­läch­ter der Schü­ler brach­te den ar­men Jun­gen gänz­lich aus der Fas­sung, und nun wuss­te er gleich gar nicht, ob er sei­nen ›Hel­m‹ in der Hand be­hal­ten oder auf dem Bo­den lie­gen las­sen oder auf­set­zen soll­te. Er nahm Platz und leg­te die Müt­ze über sei­ne Knie.

»Steh auf!« wie­der­hol­te der Leh­rer, »und sag mir dei­nen Na­men!«

Der Neu­ling stot­ter­te einen un­ver­ständ­li­chen Na­men her.

»Noch mal!«

Das­sel­be Sil­ben­ge­stam­mel mach­te sich hör­bar, von dem Ge­läch­ter der Klas­se über­tönt.

»Lau­ter!« rief der Leh­rer. »Lau­ter!«

Nun­mehr nahm sich der Neu­ling fest zu­sam­men, riss den Mund weit auf und gab mit vol­ler Lun­gen­kraft, als ob er je­man­den ru­fen woll­te, das Wort von sich: »Ka­bo­va­ry!«

Höl­len­lärm er­hob sich und wur­de im­mer stär­ker; da­zwi­schen gell­ten Rufe. Man brüll­te, heul­te, gröl­te wie­der und wie­der: »Ka­bo­va­ry! Ka­bo­va­ry!« Nach und nach ver­lor sich der Spek­ta­kel in ver­ein­zel­tes Brum­men, kam müh­sam zur Ruhe, leb­te aber in den Ban­krei­hen heim­lich wei­ter, um da und dort plötz­lich als halb er­stick­tes Ge­ki­cher wie­der auf­zu­kom­men, wie eine Ra­ke­te, die im Ver­lö­schen im­mer wie­der noch ein paar Fun­ken sprüht.

Wäh­rend­dem ward un­ter ei­nem Ha­gel von Straf­ar­bei­ten die Ord­nung in der Klas­se all­mäh­lich wie­der­ge­won­nen, und es ge­lang dem Leh­rer, den Na­men ›Karl Bo­va­ry‹ fest­zu­stel­len, nach­dem er sich ihn hat­te dik­tie­ren, buch­sta­bie­ren und dann noch ein­mal im gan­zen wie­der­ho­len las­sen. Als­dann be­fahl er dem ar­men Schelm, sich auf die Straf­bank dicht vor dem Ka­the­der zu set­zen. Der Jun­ge woll­te den Be­fehl aus­füh­ren, aber kaum hat­te er sich in Gang ge­setzt, als er be­reits wie­der ste­hen blieb.

»Was suchst du?« frag­te der Leh­rer.

»Mei­ne Mü…«, sag­te er schüch­tern, in­dem er mit scheu­en Bli­cken Um­schau hielt.

»Fünf­hun­dert Ver­se die gan­ze Klas­se!«

Wie das Qu­os ego1 bän­dig­te die Stim­me, die die­se Wor­te wü­tend aus­rief, einen neu­en Sturm im Ent­ste­hen.

»Ich bit­te mir Ruhe aus!« fuhr der em­pör­te Schul­meis­ter fort, wäh­rend er sich mit sei­nem Ta­schen­tu­che den Schweiß von der Stir­ne trock­ne­te. »Und du, du Re­krut du, du schreibst mir zwan­zig­mal den Satz auf: Ri­di­cu­lus sum!«2 Sein Zorn ließ nach. »Na, und dei­ne Müt­ze wirst du schon wie­der­fin­den. Die hat dir nie­mand ge­stoh­len.«

Al­les ward wie­der ru­hig. Die Köp­fe ver­san­ken in den Hef­ten, und der Neu­ling ver­harr­te zwei Stun­den lang in mus­ter­haf­ter Hal­tung, ob­gleich ihm von Zeit zu Zeit mit ei­nem Fe­der­hal­ter ab­ge­schwupp­te klei­ne Pa­pier­ku­geln ins Ge­sicht flo­gen. Er wisch­te sich je­des Mal mit der Hand ab, ohne sich wei­ter zu be­we­gen noch die Au­gen auf­zu­schla­gen.

Abends, im Ar­beits­saal, hol­te er sei­ne Är­mel­scho­ner aus sei­nem Pult, brach­te sei­ne Hab­se­lig­kei­ten in Ord­nung und li­ni­ier­te sich sorg­sam sein Schreib­pa­pier. Die an­de­ren be­ob­ach­te­ten, wie er ge­wis­sen­haft ar­bei­te­te; er schlug alle Wör­ter im Wör­ter­bu­che nach und gab sich viel Mühe. Zwei­fel­los ver­dank­te er es dem großen Flei­ße, den er an den Tag leg­te, dass man ihn nicht in der Quin­ta zu­rück­be­hielt; denn wenn er auch die Re­geln ganz leid­lich wuss­te, so ver­stand er sich doch nicht ge­wandt aus­zu­drücken. Der Pfar­rer sei­nes Hei­mat­dor­fes hat­te ihm kaum ein biss­chen La­tein bei­ge­bracht, und aus Spar­sam­keit war er von sei­nen El­tern so spät wie nur mög­lich auf das Gym­na­si­um ge­schickt wor­den.

Sein Va­ter, Karl Dio­nys Bar­thel Bo­va­ry, war Stabs­arzt a.D.; er hat­te sich um 1812 bei den Aus­he­bun­gen et­was zu­schul­den kom­men las­sen, wor­auf er den Ab­schied neh­men muss­te. Er setz­te nun­mehr sei­ne kör­per­li­chen Vor­zü­ge in bare Mün­ze um und er­gat­ter­te sich im Handum­dre­hen eine Mit­gift von sech­zig­tau­send Fran­ken, die ihm in der Per­son der Toch­ter ei­nes Hut­fa­bri­kan­ten in den Weg kam. Das Mäd­chen hat­te sich in den hüb­schen Mann ver­liebt. Er war ein Schwe­re­nö­ter und Prahl­hans, der spo­renklin­gend ein­her­stol­zier­te, Schnurr- und Ba­cken­bart trug, die Hän­de vol­ler Rin­ge hat­te und in sei­ner Klei­dung auf­fäl­li­ge Far­ben lieb­te. Ne­ben sei­nem Hau­de­gen­tum be­saß er das ge­wand­te Ge­tue ei­nes El­len­rei­ters. So­bald er ver­hei­ra­tet war, be­gann er zwei, drei Jah­re auf Kos­ten sei­ner Frau zu le­ben, aß und trank gut, schlief bis in den hal­b­en Tag hin­ein und rauch­te aus lan­gen Por­zel­lan­pfei­fen. Nachts pfleg­te er sehr spät heim­zu­kom­men, nach­dem er sich in Kaf­fee­häu­sern her­um­ge­trie­ben hat­te. Als sein Schwie­ger­va­ter starb und nur we­nig hin­ter­ließ, war Bo­va­ry em­pört dar­über. Er über­nahm die Fa­brik, büß­te aber Geld da­bei ein, und so zog er sich schließ­lich auf das Land zu­rück, wo­von er sich gold­ne Ber­ge er­träum­te. Aber er ver­stand von der Land­wirt­schaft auch nicht mehr als von der Hut­ma­che­rei, ritt lie­ber spa­zie­ren, als dass er sei­ne Pfer­de zur Ar­beit ein­span­nen ließ, trank sei­nen Ap­fel­wein fla­schen­wei­se sel­ber, an­statt ihn in Fäs­sern zu ver­kau­fen, ließ das fet­tes­te Ge­flü­gel in den eig­nen Ma­gen ge­lan­gen und schmier­te sich mit dem Speck sei­ner Schwei­ne sei­ne Jagd­s­tie­fel. Auf die­sem Wege sah er zu gu­ter Letzt ein, dass es am tun­lichs­ten für ihn sei, sich in kei­ner­lei Ge­schäf­te mehr ein­zu­las­sen.

Für zwei­hun­dert Fran­ken Jah­res­pacht mie­te­te er nun in ei­nem Dor­fe im Grenz­ge­bie­te von Caux3 und der Pi­kar­die ein Grund­stück, halb Bau­ern­hof, halb Her­ren­haus. Da­hin zog er sich zu­rück fünf­und­vier­zig Jah­re alt, mit Gott und der Welt zer­fal­len, gal­lig und miss­güns­tig zu je­der­mann. Von den Men­schen an­ge­ekelt, wie er sag­te, woll­te er in Frie­den für sich hin­le­ben.

Sei­ne Frau war der­einst toll ver­liebt in ihn ge­we­sen. Aber un­ter tau­send De­mü­ti­gun­gen starb ihre Lie­be doch ret­tungs­los. Ehe­dem hei­ter, mit­teil­sam und herz­lich, war sie all­mäh­lich (just wie sich ab­ge­stan­de­ner Wein zu Es­sig wan­delt) mür­risch, zän­kisch und ner­vös ge­wor­den. Ohne zu kla­gen, hat­te sie viel ge­lit­ten, wenn sie im­mer wie­der sah, wie ihr Mann hin­ter al­len Dorf­dir­nen her war und abends müde und nach Fu­sel stin­kend aus ir­gend­wel­cher Spe­lun­ke zu ihr nach Haus kam. Ihr Stolz hat­te sich zu­nächst mäch­tig ge­regt, aber schließ­lich schwieg sie, würg­te ih­ren Grimm in stum­mem Stoi­zis­mus hin­un­ter und be­herrsch­te sich bis zu ih­rem letz­ten Stünd­lein. Sie war un­abläs­sig tä­tig und im­mer auf dem Pos­ten. Sie war es, die zu den An­wäl­ten und Be­hör­den ging. Sie wuss­te, wenn Wech­sel fäl­lig wa­ren; sie er­wirk­te ihre Ver­län­ge­rung. Sie mach­te alle Haus­ar­bei­ten, näh­te, wusch, be­auf­sich­tig­te die Ar­bei­ter und führ­te die Bü­cher, wäh­rend der Herr und Ge­bie­ter sich um nichts küm­mer­te, aus sei­nem Zu­stan­de gries­gräm­li­cher Schläf­rig­keit nicht her­aus­kam und sich höchs­tens dazu er­mann­te, sei­ner Frau gars­ti­ge Din­ge zu sa­gen. Meist hock­te er am Ka­min, qualm­te und spuck­te ab und zu in die Asche.

Als ein Kind zur Welt kam, muss­te es ei­ner Amme ge­ge­ben wer­den; und als es wie­der zu Hau­se war, wur­de das schwäch­li­che Ge­schöpf gren­zen­los ver­wöhnt. Die Mut­ter nähr­te es mit Zucker­zeug. Der Va­ter ließ es bar­fuß her­um­lau­fen und mein­te höchst wei­se oben­drein, der Klei­ne kön­ne ei­gent­lich ganz nackt ge­hen wie die Jun­gen der Tie­re. Im Ge­gen­satz zu den Be­stre­bun­gen der Mut­ter hat­te er sich ein be­stimm­tes männ­li­ches Er­zie­hungs­ide­al in den Kopf ge­setzt, nach wel­chem er sei­nen Sohn zu mo­deln sich Mühe gab. Er soll­te rau an­ge­fasst wer­den wie ein jun­ger Spar­ta­ner, da­mit er sich tüch­tig ab­här­te. Er muss­te in ei­nem un­ge­heiz­ten Zim­mer schla­fen, einen or­dent­li­chen Schluck Rum ver­tra­gen und auf den ›kirch­li­chen Klim­bim‹ schimp­fen. Aber der Klei­ne war von fried­fer­ti­ger Na­tur und wi­der­streb­te al­len die­sen Be­mü­hun­gen. Die Mut­ter schlepp­te ihn im­mer mit sich her­um. Sie schnitt ihm Papp­fi­gu­ren aus und er­zähl­te ihm Mär­chen; sie un­ter­hielt sich mit ihm in end­lo­sen Selbst­ge­sprä­chen, die von schwer­mü­ti­ger Fröh­lich­keit und wort­rei­cher Zärt­lich­keit über­quol­len. In ih­rer Ver­las­sen­heit pflanz­te sie in das Herz ih­res Jun­gen alle ihre ei­ge­nen un­er­füll­ten und ver­lo­re­nen Sehn­süch­te. Im Trau­me sah sie ihn er­wach­sen, hoch­an­ge­se­hen, schön, klug, als Be­am­ten beim Stra­ßen- und Brücken­bau oder in ei­ner Rats­stel­lung. Sie lehr­te ihn Le­sen und brach­te ihm so­gar an dem al­ten Kla­vier, das sie be­saß, das Sin­gen von ein paar Lied­chen bei. Ihr Mann, der von ge­lehr­ten Din­gen nicht viel hielt, be­merk­te zu al­le­dem, es sei bloß scha­de um die Mühe; sie hät­ten doch nie­mals die Mit­tel, den Jun­gen auf eine hö­he­re Schu­le zu schi­cken oder ihm ein Amt oder ein Ge­schäft zu kau­fen. Zu was auch? Dem Ke­cken ge­hö­re die Welt! Frau Bo­va­ry schwieg still, und der Klei­ne trieb sich im Dor­fe her­um. Er lief mit den Feld­ar­bei­tern hin­aus, scheuch­te die Krä­hen auf, schmaus­te Bee­ren an den Rai­nen, hü­te­te mit ei­ner Ger­te die Trut­häh­ne und durch­streif­te Wald und Flur. Wenn es reg­ne­te, spiel­te er un­ter dem Kir­chen­por­tal mit klei­nen Stein­chen, und an den Fei­er­ta­gen be­stürm­te er den Kir­chen­die­ner, die Glo­cken läu­ten zu dür­fen. Dann häng­te er sich mit sei­nem gan­zen Ge­wicht an den Strang der großen Glo­cke und ließ sich mit em­por­zie­hen. So wuchs er auf wie eine Li­lie auf dem Fel­de, be­kam kräf­ti­ge Glie­der und fri­sche Far­ben.

Als er zwölf Jah­re alt ge­wor­den war, setz­te es sei­ne Mut­ter durch, dass er end­lich et­was Ge­schei­tes ler­ne. Er be­kam Un­ter­richt beim Pfar­rer, aber die Stun­den wa­ren so kurz und so un­re­gel­mä­ßig, dass sie nicht viel Er­folg hat­ten. Sie fan­den statt, wenn der Geist­li­che ein­mal gar nichts an­ders zu tun hat­te, in der Sa­kris­tei, im Ste­hen, in al­ler Hast in den Pau­sen zwi­schen den Tau­fen und Be­gräb­nis­sen. Mit­un­ter, wenn er kei­ne Lust hat­te aus­zu­ge­hen, ließ der Pfar­rer sei­nen Schü­ler nach dem Ave-Ma­ria zu sich ho­len. Die bei­den sa­ßen dann oben im Stüb­chen. Mücken und Nacht­fal­ter tanz­ten um die Ker­ze; aber es war so warm drin, dass der Jun­ge schläf­rig wur­de, und es dau­er­te nicht lan­ge, da schnarch­te der bie­de­re Pfar­rer, die Hän­de über dem Schmer­bau­che ge­fal­tet. Es kam auch vor, dass der See­len­sor­ger auf dem Heim­we­ge von ir­gend­ei­nem Kran­ken in der Um­ge­gend, dem er das Abend­mahl ge­reicht hat­te, den klei­nen Va­ga­bun­den im Frei­en er­wi­sch­te; dann rief er ihn her­an, hielt ihm eine vier­tel­stün­di­ge Straf­pre­digt und be­nutz­te die Ge­le­gen­heit, ihn im Schat­ten ei­nes Bau­mes sei­ne Lek­ti­on her­sa­gen zu las­sen. Ent­we­der war es der Re­gen, der den Un­ter­richt stör­te, oder ir­gend­ein Be­kann­ter, der vor­über­ging. Üb­ri­gens war der Leh­rer durch­weg mit sei­nem Schü­ler zu­frie­den, ja er mein­te so­gar, der ›jun­ge Mann‹ habe ein gar treff­li­ches Ge­dächt­nis.

So konn­te es nicht wei­ter­ge­hen. Frau Bo­va­ry ward ener­gisch, und ihr Mann gab wi­der­stands­los nach, viel­leicht weil er sich sel­ber schäm­te, wahr­schein­li­cher aber aus Ohn­macht. Man woll­te nur noch ein Jahr war­ten; der Jun­ge soll­te erst ge­firmt wer­den.

Dar­über hin­aus ver­strich aber­mals ein hal­b­es Jahr, dann aber wur­de Karl wirk­lich auf das Gym­na­si­um nach Rou­en ge­schickt. Sein Va­ter brach­te ihn sel­ber hin. Das war Ende Ok­to­ber.

Die meis­ten sei­ner da­ma­li­gen Ka­me­ra­den wer­den sich kaum noch deut­lich an ihn er­in­nern. Er war ein ziem­lich phleg­ma­ti­scher Jun­ge, der in der Frei­zeit wie ein Kind spiel­te, in den Ar­beits­stun­den eif­rig lern­te, wäh­rend des Un­ter­richts auf­merk­sam da­saß, im Schlaf­saal vor­schrifts­mä­ßig schlief und bei den Mahl­zei­ten or­dent­lich zu­lang­te. Sein Ver­kehr au­ßer­halb der Schu­le war ein Ei­sen­groß­händ­ler in der Hand­schuh­ma­cher­gas­se, der alle vier Wo­chen ein­mal mit ihm aus­ging, an Sonn­ta­gen nach La­den­schluss. Er lief mit ihm am Ha­fen spa­zie­ren, zeig­te ihm die Schif­fe und brach­te ihn abends um sie­ben Uhr vor dem Abendes­sen wie­der in das Gym­na­si­um. Je­den Don­ners­tag abend schrieb Karl mit ro­ter Tin­te an sei­ne Mut­ter einen lan­gen Brief, den er im­mer mit drei Obla­ten zu­kleb­te. Her­nach ver­tief­te er sich wie­der in sei­ne Ge­schichts­hef­te, oder er las in ei­nem al­ten Exem­plar von Bar­the­le­mys ›Rei­se des jun­gen Anachar­sis‹, das im Ar­beits­saal her­um­lag. Bei Aus­flü­gen plau­der­te er mit dem Pe­dell, der eben­falls vom Lan­de war.

Durch sei­nen Fleiß ge­lang es ihm, sich im­mer in der Mit­te der Klas­se zu hal­ten; ein­mal er­rang er sich so­gar einen Preis in der Na­tur­kun­de. Aber ge­gen Ende des drit­ten Schul­jah­res nah­men ihn sei­ne El­tern vom Gym­na­si­um fort und lie­ßen ihn Me­di­zin stu­die­ren. Sie wa­ren der fes­ten Zu­ver­sicht, dass er sich bis zum Staats­ex­amen schon durch­wür­gen wür­de.

Die Mut­ter mie­te­te ihm ein Stüb­chen, vier Stock hoch, nach der Rue Eau-de-Ro­bec zu ge­le­gen, im Hau­se ei­nes Fär­bers, ei­nes al­ten Be­kann­ten von ihr. Sie traf Ver­ein­ba­run­gen über die Ver­pfle­gung ih­res Soh­nes, be­sorg­te ein paar Mö­bel­stücke, einen Tisch und zwei Stüh­le, wozu sie von zu Hau­se noch eine Bett­stel­le aus Kirsch­baum­holz kom­men ließ. Des wei­te­ren kauf­te sie ein Ka­no­nen­öf­chen und einen klei­nen Vor­rat von Holz, da­mit ihr ar­mer Jun­ge nicht frie­ren soll­te. Acht Tage da­nach reis­te sie wie­der heim, nach­dem sie ihn tau­send- und aber­tau­send­mal er­mahnt hat­te, ja hübsch flei­ßig und so­lid zu blei­ben, sin­te­mal4 er nun ganz al­lein auf sich selbst an­ge­wie­sen sei.

Vor dem Ver­zeich­nis der Vor­le­sun­gen auf dem schwar­zen Bret­te der me­di­zi­ni­schen Hoch­schu­le ver­gin­gen dem neu­ba­cke­nen Stu­den­ten Au­gen und Ohren. Er las da von ana­to­mi­schen und pa­tho­lo­gi­schen Kur­sen, von Kol­le­gi­en über Phy­sio­lo­gie, Phar­ma­zie, Che­mie, Bo­ta­nik, The­ra­peu­tik und Hy­gie­ne, von Kur­sen in der Kli­nik, von prak­ti­schen Übun­gen usw. Alle die­se vie­len Na­men, über de­ren Her­kunft er sich nicht ein­mal klar war, stan­den so recht vor ihm wie ge­heim­nis­vol­le Pfor­ten in das Hei­lig­tum der Wis­sen­schaft.

Er lern­te gar nichts. So auf­merk­sam er auch in den Vor­le­sun­gen war, er be­griff nichts. Umso mehr büf­fel­te er. Er schrieb flei­ßig nach, ver­säum­te kein Kol­leg und fehl­te in kei­ner Übung. Er er­füll­te sein täg­li­ches Ar­beits­pen­sum wie ein Gaul im Hip­po­drom, der in ei­nem fort den Huf­schlag hin­t­rot­tet, ohne zu wis­sen, was für ein Ge­schäft er ei­gent­lich ver­rich­tet.

Zu sei­ner pe­ku­ni­ären Un­ter­stüt­zung schick­te ihm sei­ne Mut­ter all­wö­chent­lich durch den Bo­ten­mann ein Stück Kalbs­bra­ten. Das war sein Früh­stück, wenn er aus dem Kran­ken­hau­se auf einen Husch nach Hau­se kam. Sich erst hin­zu­set­zen, dazu lang­te die Zeit nicht, denn er muss­te als­bald wie­der in ein Kol­leg oder zur Ana­to­mie oder Kli­nik ei­len, durch eine Un­men­ge von Stra­ßen hin­durch. Abends nahm er an der kar­gen Haupt­mahl­zeit sei­ner Wirts­leu­te teil. Hin­ter­her ging er hin­auf in sei­ne Stu­be und setz­te sich an sei­ne Lehr­bü­cher, oft in nas­sen Klei­dern, die ihm dann am Lei­be bei der Rot­glut des klei­nen Ofens zu damp­fen be­gan­nen.

An schö­nen Som­mer­aben­den, wenn die schwü­len Gas­sen leer wur­den und die Dienst­mäd­chen vor den Hau­stü­ren Ball spiel­ten, öff­ne­te er sein Fens­ter und sah hin­aus. Un­ten floss der Fluss vor­über, der aus die­sem Vier­tel von Rou­en ein häss­li­ches Klein-Ve­ne­dig mach­te. Sei­ne gel­ben, vio­lett und blau schim­mern­den Was­ser kro­chen träg zu den Weh­ren und Brücken. Ar­bei­ter kau­er­ten am Ufer und wu­schen sich die Arme in der Flut. An Stan­gen, die aus Spei­cher­gie­beln lang her­vor­rag­ten, trock­ne­ten Bün­del von Baum­wol­le in der Luft. Ge­gen­über, hin­ter den Dä­chern, leuch­te­te der wei­te kla­re Him­mel mit der sin­ken­den ro­ten Son­ne. Wie herr­lich muss­te es da drau­ßen im Frei­en sein! Und dort im Bu­chen­wald wie frisch! Karl hol­te tief Atem, um den köst­li­chen Duft der Fel­der ein­zusau­gen, der doch gar nicht bis zu ihm drang.

Er ma­ger­te ab und sah sehr schmäch­tig aus. Sein Ge­sicht be­kam einen leid­vol­len Zug, der es bei­na­he in­ter­essant mach­te. Er ward trä­ge, was gar nicht zu ver­wun­dern war, und sei­nen gu­ten Vor­sät­zen mehr und mehr un­treu. Heu­te ver­säum­te er die Kli­nik, mor­gen ein Kol­leg, und all­mäh­lich fand er Ge­nuss am Fau­len­zen und ging gar nicht mehr hin. Er wur­de Stamm­gast in ei­ner Win­kel­k­nei­pe und ein pas­sio­nier­ter Do­mi­no­spie­ler. Alle Aben­de in ei­ner schmut­zi­gen Spe­lun­ke zu hocken und mit den bei­ner­nen Spiel­stei­nen auf ei­nem Mar­mor­ti­sche zu klap­pern, das dünk­te ihn der höchs­te Grad von Frei­heit zu sein, und das stärk­te ihm sein Selbst­be­wusst­sein. Es war ihm das so et­was wie der An­fang ei­nes welt­män­ni­schen Le­bens, die­ses Kos­ten ver­bo­te­ner Freu­den. Wenn er hin­kam, leg­te er sei­ne Hand mit ge­ra­de­zu sinn­li­chem Ver­gnü­gen auf die Tür­klin­ke. Eine Men­ge Din­ge, die bis da­hin in ihm un­ter­drückt wor­den wa­ren, ge­wan­nen nun­mehr Le­ben und Ge­stalt. Er lern­te Gas­sen­hau­er aus­wen­dig, die er ge­le­gent­lich zum Bes­ten gab. Béran­ger,5 der Frei­heits­sän­ger, be­geis­ter­te ihn. Er lern­te eine gute Bow­le brau­en, und zu gu­ter Letzt ent­deck­te er die Lie­be. Dank die­sen Vor­be­rei­tun­gen fiel er im me­di­zi­ni­schen Staats­ex­amen glän­zend durch.

Man er­war­te­te ihn am näm­li­chen Abend zu Haus, wo sein Er­folg bei ei­nem Schmaus ge­fei­ert wer­den soll­te. Er mach­te sich zu Fuß auf den Weg und er­reich­te ge­gen Abend sei­ne Hei­mat. Dort ließ er sei­ne Mut­ter an den Dor­fein­gang bit­ten und beich­te­te ihr al­les. Sie ent­schul­dig­te ihn, schob den Mis­ser­folg der Un­ge­rech­tig­keit der Exa­mi­na­to­ren in die Schu­he und rich­te­te ihn ein we­nig auf, in­dem sie ihm ver­sprach, die Sa­che ins Lot zu brin­gen. Erst vol­le fünf Jah­re da­nach er­fuhr Herr Bo­va­ry die Wahr­heit. Da war die Ge­schich­te ver­jährt, und so füg­te er sich drein. Üb­ri­gens hät­te er es nie­mals zu­ge­ge­ben, dass sein leib­li­cher Sohn ein Dumm­kopf sei.

Karl wid­me­te sich von Neu­em sei­nem Stu­di­um und be­rei­te­te sich hart­nä­ckigst auf eine noch­ma­li­ge Prü­fung vor. Al­les, was er ge­fragt wer­den konn­te, lern­te er ein­fach aus­wen­dig. In der Tat be­stand er das Ex­amen nun­mehr mit ei­ner ziem­lich gu­ten Note. Sei­ne Mut­ter er­leb­te einen Freu­den­tag. Es fand ein großes Fest­mahl statt.

Wo soll­te er sei­ne ärzt­li­che Pra­xis nun aus­üben? In Tos­tes. Dort gab es nur einen und zwar sehr al­ten Arzt. Mut­ter Bo­va­ry war­te­te schon lan­ge auf sein Hin­schei­den, und kaum hat­te der alte Herr das Zeit­li­che ge­seg­net, da ließ sich Karl Bo­va­ry auch be­reits als sein Nach­fol­ger da­selbst nie­der.

Aber nicht ge­nug, dass die Mut­ter ih­ren Sohn er­zo­gen, ihn Me­di­zin stu­die­ren las­sen und ihm eine Pra­xis aus­fin­dig ge­macht hat­te: nun muss­te er auch eine Frau ha­ben. Sel­bi­ge fand sie in der Wit­we des Ge­richts­voll­zie­hers von Diep­pe,6 die ne­ben fünf­und­vier­zig Jähr­lein zwölf­hun­dert Fran­ken Ren­te ihr ei­gen nann­te. Ob­gleich sie häss­lich war, dürr wie eine Hop­fen­stan­ge und im Ge­sicht so viel Pi­ckel wie ein Kirsch­baum Blü­ten hat­te, fehl­te es der Wit­we Du­buc kei­nes­wegs an Be­wer­bern. Um zu ih­rem Zie­le zu ge­lan­gen, muss­te Mut­ter Bo­va­ry erst alle die­se Ne­ben­buh­ler aus dem Fel­de schla­gen, was sie sehr ge­schickt fer­tig brach­te. Sie tri­um­phier­te so­gar über einen Flei­scher­meis­ter, des­sen An­wart­schaft durch die Geist­lich­keit un­ter­stützt wur­de.

Karl hat­te in die Hei­rat ein­ge­wil­ligt in der Er­war­tung, sich da­durch güns­ti­ger zu stel­len. Er hoff­te, per­sön­lich wie pe­ku­ni­är un­ab­hän­gi­ger zu wer­den. Aber He­loi­se nahm die Zü­gel in ihre Hän­de. Sie drill­te ihm ein, was er vor den Leu­ten zu sa­gen habe und was nicht. Alle Frei­ta­ge wur­de ge­fas­tet. Er durf­te sich nur nach ih­rem Ge­schma­cke klei­den, und die Pa­ti­en­ten, die nicht be­zahl­ten, muss­te er auf ih­ren Be­fehl hin ku­jo­nie­ren. Sie er­brach sei­ne Brie­fe, über­wach­te je­den Schritt, den er tat, und horch­te an der Türe, wenn weib­li­che We­sen in sei­ner Sprech­stun­de wa­ren. Je­den Mor­gen muss­te sie ihre Scho­ko­la­de ha­ben, und die Rück­sich­ten, die sie er­heisch­te, nah­men kein Ende. Unauf­hör­lich klag­te sie über Mi­grä­ne, Brust­schmer­zen oder Ver­dau­ungs­stö­run­gen. Wenn viel Leu­te durch den Haus­flur lie­fen, ging es ihr auf die Ner­ven. War Karl aus­wärts, dann fand sie die Ein­sam­keit gräss­lich; kehr­te er heim, so war es zwei­fel­los bloß, weil er ge­dacht habe, sie lie­ge im Ster­ben. Wenn er nachts in das Schlaf­zim­mer kam, streck­te sie ihm ihre ma­ge­ren lan­gen Arme aus ih­ren De­cken ent­ge­gen, um­schlang sei­nen Hals und zog ihn auf den Rand ih­res Bet­tes. Und nun ging die Je­re­mi­a­de los. Er ver­nach­läs­si­ge sie, er lie­be eine an­de­re! Man habe es ihr ja gleich ge­sagt, die­se Hei­rat sei ihr Un­glück. Schließ­lich bat sie ihn um einen Löf­fel Arz­nei, da­mit sie ge­sund wer­de, und um ein biss­chen mehr Lie­be.


  1. (Lat.) euch will ich hel­fen!, euch will ich’s zei­gen!  <<<

  2. La­tein für Ich bin lä­cher­lich  <<<

  3. Ku­r­ort im Schwei­zer Kan­ton Waadt  <<<

  4. ver­al­tet: weil, da oder zu­mal  <<<

  5. Pier­re-Jean de Béran­ger (✳ 19. April 1780 in Pa­ris; † 16. Juli 1857 eben­da) war ein fran­zö­si­scher Ly­ri­ker und Lied­tex­ter im be­gin­nen­den 19. Jahr­hun­dert. Der heu­te auch in der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft kaum mehr be­ach­te­te Au­tor galt um 1830 als ei­ner der ganz großen Ly­ri­ker Frank­reichs, den man auf eine Stu­fe stell­te mit Vic­tor Hugo oder Alphon­se de La­mar­ti­ne. (Wi­ki­pe­dia)  <<<

  6. Diep­pe ist eine fran­zö­si­sche Stadt in der Re­gi­on Hau­te-Nor­man­die. Der See- und Fi­sche­rei­ha­fen an der Ala­bas­ter­küs­te be­fin­det sich an je­ner Stel­le, wo der Fluss Ar­ques in den Är­mel­ka­nal mün­det. Ihm ge­gen­über, auf der eng­li­schen Sei­te des Kanals liegt Ne­wha­ven, East Sus­sex. (Wi­ki­pe­dia)  <<<

Zweites Kapitel

Ein­mal nachts ge­gen elf Uhr wur­de das Ehe­paar durch das Ge­trap­pel ei­nes Pfer­des ge­weckt, das ge­ra­de vor der Hau­stü­re zum Ste­hen kam. Ana­sta­sia, das Dienst­mäd­chen, klapp­te ihr Bo­den­fens­ter auf und ver­han­del­te eine Wei­le mit ei­nem Man­ne, der un­ten auf der Stra­ße stand. Er wol­le den Arzt ho­len. Er habe einen Brief an ihn.

Ana­sta­sia stieg frie­rend die Trep­pen hin­un­ter und schob die Rie­gel auf, einen und dann den an­de­ren. Der Bote ließ sein Pferd ste­hen, folg­te dem Mäd­chen und be­trat ohne wei­te­res das Schlaf­ge­mach. Er ent­nahm sei­nem wol­le­nen Käp­pi, an dem eine graue Trod­del hing, einen Brief, der in einen Lap­pen ein­ge­wi­ckelt war, und über­reicht ihn dem Arzt mit höf­li­cher Ge­bär­de. Der rich­te­te sich im Bett auf, um den Brief zu le­sen. Ana­sta­sia stand dicht da­ne­ben und hielt den Leuch­ter. Die Frau Dok­tor kehr­te sich ver­schämt der Wand zu und zeig­te den Rücken.

In dem Brie­fe, den ein nied­li­ches blau­es Sie­gel ver­schloss, wur­de Herr Bo­va­ry drin­gend ge­be­ten, un­ver­züg­lich nach dem Pacht­gut Les Ber­taur zu kom­men, ein ge­bro­che­nes Bein zu be­han­deln. Nun braucht man von Tos­tes über Lon­gue­ville und Sankt Vic­tor bis Ber­taur zu Fuß sechs gute Stun­den. Die Nacht war stock­fins­ter. Frau Bo­va­ry sprach die Be­fürch­tung aus, es kön­ne ih­rem Man­ne et­was zu­sto­ßen. In­fol­ge­des­sen ward be­schlos­sen, dass der Stall­knecht vor­aus­rei­ten, Karl aber erst drei Stun­den spä­ter, nach Mond­auf­gang, fol­gen sol­le. Man wür­de ihm einen Jun­gen ent­ge­gen­schi­cken, der ihm den Weg zum Gute zei­ge und ihm den Hof auf­sch­lös­se.

Früh ge­gen vier Uhr mach­te sich Karl, fest in fei­nen Man­tel gehüllt, auf den Weg nach Ber­taur. Noch ganz ver­schla­fen über­ließ er sich dem Zot­tel­trab sei­nes Gau­les. Wenn die­ser von sel­ber vor ir­gend­ei­nem im Wege lie­gen­den Hin­der­nis zum Hal­ten pa­rier­te, wur­de der Rei­ter je­des Mal wach, er­in­ner­te sich des ge­bro­che­nen Bei­nes und be­gann in sei­nem Ge­dächt­nis­se al­les aus­zu­kra­men, was er von Kno­chen­brü­chen wuss­te.

Der Re­gen hör­te auf. Es däm­mer­te. Auf den laub­lo­sen Äs­ten der Ap­fel­bäu­me hock­ten re­gungs­lo­se Vö­gel, das Ge­fie­der ob des küh­len Mor­gen­win­des ge­sträubt. So weit das Auge sah, dehn­te sich fla­ches Land. Auf die­ser end­lo­sen grau­en Flä­che ho­ben sich hie und da in großen Zwi­schen­räu­men tief­vio­let­te Fle­cken ab, die am Ho­ri­zon­te mit des Him­mels trü­ben Far­ben zu­sam­men­flos­sen; das wa­ren Baum­grup­pen um Gü­ter und Meie­rei­en her­um. Von Zeit zu Zeit riss Karl sei­ne Au­gen auf, bis ihn die Mü­dig­keit von Neu­em über­wäl­tig­te und der Schlaf von sel­ber wie­der­kam. Er ge­riet in einen traumar­ti­gen Zu­stand, in dem sich fri­sche Emp­fin­dun­gen mit al­ten Erin­ne­run­gen paar­ten, so­dass er ein Dop­pel­le­ben führ­te. Er war noch Stu­dent und gleich­zei­tig schon Arzt und Ehe­mann. Im näm­li­chen Mo­ment glaub­te er in sei­nem Ehe­bet­te zu lie­gen und wie einst durch den Ope­ra­ti­ons­saal zu schrei­ten. Der Ge­ruch von hei­ßen Um­schlä­gen misch­te sich in sei­ner Fan­ta­sie mit dem fri­schen Duf­te des Mor­gentaus. Dazu hör­te er, wie die Mes­sin­g­rin­ge an den Stan­gen der Bett­vor­hän­ge klirr­ten und wie sei­ne Frau im Schla­fe at­me­te …

Als er durch das Dorf Vas­son­ville ritt, be­merk­te er einen Jun­gen, der am Ran­de des Stra­ßen­gra­bens im Gra­se saß.

»Sind Sie der Herr Dok­tor?«

Als Karl die­se Fra­ge be­jah­te, nahm der Klei­ne sei­ne Holz­pan­tof­feln in die Hän­de und be­gann vor dem Pfer­de her­zu­ren­nen. Un­ter­wegs hör­te Bo­va­ry aus den Re­den sei­nes Füh­rers her­aus, dass Herr Rou­ault, der Pa­ti­ent, der ihn er­war­te­te, ei­ner der wohl­ha­bends­ten Land­wir­te sei. Er hat­te sich am ver­gan­ge­nen Abend auf dem Heim­we­ge von ei­nem Nach­bar, wo man das Drei­kö­nigs­fest ge­fei­ert hat­te, ein Bein ge­bro­chen. Sei­ne Frau war schon zwei Jah­re tot. Er leb­te ganz al­lein mit dem ›gnä­di­gen Fräu­lein‹, das ihm den Haus­halt führ­te.

Die Rad­fur­chen wur­den tiefer. Man nä­her­te sich dem Gute. Plötz­lich ver­schwand der Jun­ge in der Lücke ei­ner Gar­ten­he­cke, um hin­ter der Mau­er ei­nes Vor­ho­fes wie­der auf­zut­au­chen, wo er ein großes Tor öff­ne­te. Das Pferd trat in nas­ses rut­schi­ges Gras, und Karl muss­te sich du­cken, um nicht vom Baum­ge­zweig aus dem Sat­tel ge­ris­sen zu wer­den. Hof­hun­de fuh­ren aus ih­ren Hüt­ten, schlu­gen an und ras­sel­ten an den Ket­ten. Als der Arzt in den ei­gent­li­chen Guts­hof ein­ritt, scheu­te der Gaul und mach­te einen großen Satz zur Sei­te.

Das Pacht­gut Ber­taur war ein an­sehn­li­ches Be­sitz­tum. Durch die of­fen­ste­hen­den Tü­ren konn­te man in die Stäl­le bli­cken, wo kräf­ti­ge Acker­gäu­le ge­mäch­lich aus blan­ken Rau­fen ihr Heu kau­ten. Längs der Wirt­schafts­ge­bäu­de zog sich ein damp­fen­der Mist­hau­fen hin. Un­ter den Hüh­nern und Trut­häh­nen mach­ten sich fünf bis sechs Pfau­en mau­sig, der Stolz der Gü­ter je­ner Ge­gend. Der Schaf­stall war lang, die Scheu­ne hoch und ihre Mau­ern spie­gel­glatt. Im Schup­pen stan­den zwei große Lei­ter­wa­gen und vier Pflü­ge, dazu die nö­ti­gen Pfer­de­ge­schir­re, Kum­te und Peit­schen; auf den blau­en Woi­lachs aus Schaf­wol­le hat­te sich fei­ner Staub ge­la­gert, der von den Korn­bö­den her­un­ter­si­cker­te. Der Hof, der nach dem Wohn­hau­se zu et­was an­stieg, war auf bei­den Sei­ten mit ei­ner Rei­he Bäu­me be­pflanzt. Vom Tüm­pel her er­scholl das fröh­li­che Ge­schnat­ter der Gän­se.

An der Schwel­le des Hau­ses er­schi­en ein jun­ges Frau­en­zim­mer in ei­nem mit drei Vo­lants be­setz­ten blau­en Me­ri­no­klei­de und be­grüß­te den Arzt. Er wur­de nach der Kü­che ge­führt, wo ein tüch­ti­ges Feu­er brann­te. Auf dem Her­de koch­te in klei­nen Töp­fen von ver­schie­de­ner Form das Früh­stück des Ge­sin­des. Oben im Rauch­fang hin­gen nass­ge­wor­de­ne Klei­dungs­stücke zum Trock­nen. Koh­len­schau­fel, Feu­er­zan­ge und Bla­se­balg, alle mit­ein­an­der von rie­si­ger Grö­ße, fun­kel­ten wie von blan­kem Stahl, wäh­rend längs der Wän­de eine Un­men­ge Kü­chen­ge­rät hing, über dem die hel­le Herd­flam­me um die Wet­te mit den ers­ten Strah­len der durch die Fens­ter hu­schen­den Mor­gen­son­ne spiel­te und glit­zer­te.

Karl stieg in den ers­ten Stock hin­auf, um den Kran­ken auf­zu­su­chen. Er fand ihn in sei­nem Bett, schwit­zend un­ter sei­nen De­cken. Sei­ne Nacht­müt­ze hat­te er in die Stu­be ge­schleu­dert. Es war ein stäm­mi­ger klei­ner Mann, ein Fünf­zi­ger, mit weißem Haar, blau­en Au­gen und kah­ler Stirn. Er trug Ohr­rin­ge. Ne­ben ihm auf ei­nem Stuh­le stand eine große Kar­af­fe voll Brannt­wein, aus der er sich von Zeit zu Zeit ein Gläs­chen ein­schenk­te, um ›Mumm in die Kno­chen zu krie­gen‹. An­ge­sichts des Arz­tes leg­te sich sei­ne Er­re­gung. Statt zu flu­chen und zu wet­tern – was er seit zwölf Stun­den ge­tan hat­te – fing er nun­mehr an zu äch­zen und zu stöh­nen.

Der Bruch war ein­fach, ohne jed­we­de Kom­pli­ka­ti­on. Karl hät­te sich einen leich­teren Fall nicht zu wün­schen ge­wagt. Als­bald er­in­ner­te er sich der Al­lü­ren, die sei­ne Lehr­meis­ter an den Kran­ken­la­gern zur Schau ge­tra­gen hat­ten, und spen­de­te dem Pa­ti­en­ten ein reich­li­ches Maß der üb­li­chen gu­ten Wor­te, je­nes Chir­ur­gen­bal­sams, der an das Öl ge­mahnt, mit dem die Se­zier­mes­ser ein­ge­fet­tet wer­den. Er ließ sich aus dem Holz­schup­pen ein paar Lat­ten ho­len, um Holz zu Schie­nen zu be­kom­men. Von den ge­brach­ten Stücken wähl­te er eins aus, schnitt die Schie­nen dar­aus zu­recht und glät­te­te sie mit ei­ner Glas­scher­be. Wäh­rend­dem stell­te die Magd Lein­wand­bin­den her, und Fräu­lein Emma, die Toch­ter des Hau­ses, ver­such­te Pols­ter an­zu­fer­ti­gen. Als sie ih­ren Näh­kas­ten nicht gleich fand, pol­ter­te der Va­ter los. Sie sag­te kein Wort. Aber beim Nä­hen stach sie sich in den Fin­ger, nahm ihn in den Mund und sog das Blut aus.

Karl war er­staunt, was für blen­dend­wei­ße Nä­gel sie hat­te. Sie wa­ren man­del­för­mig ge­schnit­ten und sorg­lich ge­pflegt, und so schim­mer­ten sie wie das feins­te El­fen­bein. Ihre Hän­de frei­lich wa­ren nicht ge­ra­de schön, viel­leicht nicht weiß ge­nug und ein we­nig zu ma­ger in den Fin­gern; da­bei wa­ren sie all­zu schlank, nicht be­son­ders weich und in ih­ren Li­ni­en un­gra­zi­ös. Was je­doch schön an ihr war, das wa­ren ihre Au­gen. Sie wa­ren braun, aber im Schat­ten der Wim­pern sa­hen sie schwarz aus, und ihr of­fe­ner Blick traf die Men­schen mit der Kühn­heit der Un­schuld.

Als der Ver­band fer­tig war, lud Herr Rou­ault den Arzt fei­er­lich ›ei­nen Bis­sen zu es­sen‹, ehe er wie­der auf­brä­che. Karl ward in das Ess­zim­mer ge­führt, das zu ebe­ner Erde lag. Auf ei­nem klei­nen Ti­sche war für zwei Per­so­nen ge­deckt; ne­ben den Ge­de­cken blink­ten sil­ber­ne Be­cher. Aus dem großen Ei­chen­schran­ke, ge­gen­über dem Fens­ter, ström­te Ge­ruch von Iris und feuch­tem Lei­nen. In ei­ner Ecke stan­den auf­recht in Reih und Glied meh­re­re Sä­cke mit Ge­trei­de; sie hat­ten auf der Korn­kam­mer ne­ben­an kei­nen Platz ge­fun­den, zu der drei Stein­stu­fen hin­auf­führ­ten. In der Mit­te der Wand, de­ren grü­ner An­strich sich stel­len­wei­se ab­blät­ter­te, hing in ei­nem ver­gol­de­ten Rah­men eine Blei­stift­zeich­nung: der Kopf ei­ner Mi­ner­va. In schnör­ke­li­ger Schrift stand dar­un­ter ge­schrie­ben. ›Mei­nem lie­ben Va­ter!‹

Sie spra­chen zu­erst von dem Un­fall, dann vom Wet­ter, vom star­ken Frost, von den Wöl­fen, die nachts die Um­ge­gend un­si­cher ma­chen. Frau­lein Rou­ault schwärm­te gar nicht be­son­ders von dem Le­ben auf dem Lan­de, zu­mal jetzt nicht, wo die gan­ze Last der Guts­wirt­schaft fast al­lein auf ihr ruhe. Da es im Zim­mer kalt war, frös­tel­te sie wäh­rend der gan­zen Mahl­zeit. Beim Es­sen fie­len ihre vol­len Lip­pen et­was auf. Wenn das Ge­spräch stock­te, pfleg­te sie mit den Ober­zäh­nen auf die Un­ter­lip­pe zu bei­ßen.

Ihr Hals wuchs aus ei­nem wei­ßen Um­le­ge­kra­gen her­aus. Ihr schwar­zes, hin­ten zu ei­nem rei­chen Kno­ten ver­ein­tes Haar war in der Mit­te ge­schei­telt; bei­de Hälf­ten la­gen so glatt auf dem Kop­fe, dass sie wie zwei Flü­gel aus je ei­nem Stücke aus­sa­hen und kaum die Ohr­läpp­chen bli­cken lie­ßen. Über den Schlä­fen war das Haar ge­wellt, was der Land­arzt noch nie in sei­nem Le­ben ge­se­hen hat­te. Ihre Wan­gen wa­ren ro­sig. Zwi­schen zwei Knöp­fen ih­rer Tail­le lug­te – wie bei ei­nem Herrn – ein Lor­gnon aus Schild­patt her­vor.

Nach­dem sich Karl oben beim al­ten Rou­ault ver­ab­schie­det hat­te, trat er noch­mals in das Ess­zim­mer. Er fand Emma am Fens­ter ste­hend, die Stirn an die Schei­ben ge­drückt. Sie schau­te in den Gar­ten hin­aus, wo der Wind die Boh­nen­stan­gen um­ge­wor­fen hat­te. Sich um­wen­dend, frag­te sie:

»Su­chen Sie et­was?«

»Mei­nen Reit­stock, wenn Sie ge­stat­ten!«

Er fing an zu su­chen, hin­ter den Tü­ren und un­ter den Stüh­len. Der Stock war auf den Fuß­bo­den ge­fal­len, ge­ra­de zwi­schen die Sä­cke und die Wand. Emma ent­deck­te ihn. Als sie sich über die Sä­cke beug­te, woll­te Karl ihr ga­lant zu­vor­kom­men. Wie er sei­nen Arm in der näm­li­chen Ab­sicht wie sie aus­streck­te, be­rühr­te sei­ne Brust den ge­bück­ten Rücken des jun­gen Mäd­chens. Sie fühl­ten es bei­de. Emma fuhr rasch in die Höhe. Ganz rot ge­wor­den, sah sie ihn über die Schul­ter weg an, in­dem sie ihm sei­nen Reit­stock reich­te.

Er hat­te ver­spro­chen, in drei Ta­gen wie­der nach­zu­se­hen; statt des­sen war er be­reits am nächs­ten Tag zur Stel­le, und von da ab kam er re­gel­mä­ßig zwei­mal in der Wo­che, un­ge­rech­net die ge­le­gent­li­chen Be­su­che, die er hin und wie­der mach­te, wenn er ›zu­fäl­lig in der Ge­gen­d‹ war. Üb­ri­gens ging al­les vor­züg­lich; die Hei­lung ver­lief re­gel­recht, und als man nach sechs und ei­ner hal­b­en Wo­che Va­ter Rou­ault ohne Stock wie­der in Haus und Hof her­ums­tie­feln sah, hat­te sich Bo­va­ry in der gan­zen Ge­gend den Ruf ei­ner Ka­pa­zi­tät er­wor­ben. Der alte Herr mein­te, bes­ser hät­ten ihn die ers­ten Ärz­te von Yve­tot oder selbst von Rou­en auch nicht ku­rie­ren kön­nen.

Karl dach­te gar nicht dar­an, sich zu be­fra­gen, warum er so gern nach dem Rou­ault­schen Gute kam. Und wenn er auch dar­über nach­ge­son­nen hät­te, so wür­de er den Be­weg­grund sei­nes Ei­fers zwei­fel­los in die Wich­tig­keit des Fal­les oder viel­leicht in das in Aus­sicht ste­hen­de hohe Ho­no­rar ge­legt ha­ben. Wa­ren dies aber wirk­lich die Grün­de, die ihm sei­ne Be­su­che des Pacht­ho­fes zu köst­li­chen Ab­wech­se­lun­gen in dem arm­se­li­gen Ei­ner­lei sei­nes tä­ti­gen Le­bens mach­ten? An sol­chen Ta­gen stand er zei­tig auf, ritt im Ga­lopp ab und ließ den Gaul die gan­ze Stre­cke lang kaum zu Atem kom­men. Kurz vor sei­nem Zie­le aber pfleg­te er ab­zu­sit­zen und sich die Stie­fel mit Gras zu rei­ni­gen; dann zog er sich die brau­nen Reit­hand­schu­he an, und so ritt er kreuz­ver­gnügt in den Guts­hof ein. Es war ihm ein Won­ne­ge­fühl, mit der Schul­ter ge­gen den nach­ge­ben­den Flü­gel des Hof­to­res an­zu­rei­ten, den Hahn auf der Mau­er krä­hen zu hö­ren und sich von der Dorf­ju­gend um­ringt zu se­hen. Er lieb­te die Scheu­ne und die Stäl­le; er lieb­te den Papa Rou­ault, der ihm so treu­her­zig die Hand schüt­tel­te und ihn sei­nen Le­bens­ret­ter nann­te; er lieb­te die nied­li­chen Holz­pan­tof­feln des Guts­fräu­leins, die auf den im­mer sau­ber ge­scheu­er­ten Flie­sen der Kü­che so al­ler­liebst schlürf­ten und klap­per­ten. In die­sen Schu­hen sah Emma viel grö­ßer aus denn sonst. Wenn Karl wie­der ging, gab sie ihm je­des Mal das Ge­leit bis zur ers­ten Stu­fe der Freitrep­pe. War sein Pferd noch nicht vor­ge­führt, dann war­te­te sie mit. Sie hat­ten schon Ab­schied von­ein­an­der ge­nom­men, und so spra­chen sie nicht mehr. Wenn es sehr win­dig war, kam ihr flau­mi­ges Haar im Na­cken in we­hen­den Wirr­warr, oder die Schür­zen­bän­der be­gan­nen ihr um die Hüf­ten zu flat­tern. Ein­mal war Tau­wet­ter. An den Rin­den der Bäu­me rann Was­ser in den Hof hin­ab, und auf den Dä­chern der Ge­bäu­de schmolz al­ler Schnee. Emma war be­reits auf der Schwel­le, da ging sie wie­der ins Haus, hol­te ih­ren Son­nen­schirm und spann­te ihn auf. Die Son­nen­lich­ter stahlen sich durch die tau­ben­graue Sei­de und tupf­ten tan­zen­de Re­fle­xe auf die wei­ße Haut ih­res Ge­sichts. Das gab ein so war­mes und woh­li­ges Ge­fühl, dass Emma lä­chel­te. Ein­zel­ne Was­ser­trop­fen prall­ten auf das Schirm­dach, laut ver­nehm­bar, ei­ner, wie­der ei­ner, noch ei­ner …

Im An­fang hat­te Frau Bo­va­ry häu­fig nach Herrn Rou­ault und sei­ner Krank­heit ge­fragt, auch hat­te sie nicht ver­fehlt, für ihn in ih­rer dop­pel­ten Buch­füh­rung ein be­sondres Kon­to ein­zu­rich­ten. Als sie aber ver­nahm, dass er eine Toch­ter hat­te, zog sie nä­he­re Er­kun­di­gun­gen ein, und da er­fuhr sie, dass Fräu­lein Rou­ault im Klos­ter, bei den Ur­su­li­ne­rin­nen, er­zo­gen wor­den war, so­zu­sa­gen also ›ei­ne fei­ne Er­zie­hung ge­nos­sen‹ hat­te, dass sie in­fol­ge­des­sen Kennt­nis­se im Tan­zen, in der Erd­kun­de, im Zeich­nen, Sti­cken und Kla­vier­spie­len ha­ben muss­te. Das ging ihr über die Hutschnur, wie man zu sa­gen pflegt.

»Also dar­um!« sag­te sie sich. »Da­rum also lacht ihm das gan­ze Ge­sicht, wenn er zu ihr hin­rei­tet! Da­rum zieht er die neue Wes­te an, gleich­gül­tig, ob sie ihm vom Re­gen ver­dor­ben wird! Oh die­ses Weib, die­ses Weib!«

In­stink­tiv hass­te sie Emma. Zu­erst tat sie sich eine Güte in al­ler­hand An­spie­lun­gen. Karl ver­stand das nicht. Da­rauf ver­such­te sie es mit an­züg­li­chen Be­mer­kun­gen, die er aus Angst vor ei­ner häus­li­chen Sze­ne über sich er­ge­hen ließ. Schließ­lich aber ging sie im Sturm vor. Karl wuss­te nicht, was er sa­gen soll­te. Wes­halb ren­ne er denn ewig nach Ber­taur, wo doch der Alte längst ge­heilt sei, wenn die Ras­sel­ban­de auch noch nicht be­rappt habe? Na frei­lich, weil es da ›ei­ne Per­son‹ gäbe, die fein zu schwat­zen ver­stün­de, ein Weibs­bild, das sti­cken kön­ne und wei­ter nichts, ein Blau­strumpf! In die sei er ver­schos­sen! Ein Stadt­däm­chen, das sei ihm ein ge­fun­de­nes Fres­sen.

»Blöd­sinn!« pol­ter­te sie wei­ter. »Die Toch­ter des al­ten Rou­ault, die und eine fei­ne Dame! O jeh! Ihr Groß­va­ter hat noch die Scha­fe ge­hü­tet, und ein Vet­ter von ihr ist bei­na­he vor den Staats­an­walt ge­kom­men, weil er bei ei­nem Strei­te je­man­den halb­tot ge­dro­schen hat! So was hat gar kei­nen An­lass, sich was Be­son­ders ein­zu­bil­den und Sonn­tags auf­ge­don­nert in die Kir­che zu schwän­zeln, in sei­de­nen Klei­dern wie eine Prin­zes­sin. Und der Alte, der arme Schlu­der! Wenn im ver­gan­ge­nen Jah­re die Rap­sern­te nicht so un­ver­schämt gut aus­ge­fal­len wäre, hät­te er sei­nen lum­pi­gen Pacht nicht mal ble­chen kön­nen!«

Die Freu­de war Karl ver­dor­ben. Er stell­te sei­ne Rit­te nach Ber­taur ein. Sei­ne Frau hat­te ihn nach ei­ner Flut von Trä­nen und Küs­sen und un­ter tau­send Zärt­lich­kei­ten auf ihr Mess­buch schwö­ren las­sen, nicht mehr hin­zu­ge­hen. Er ge­horch­te. Aber in sei­ner heim­li­chen Sehn­sucht war er küh­ner; da war er em­pört über sei­ne tat­säch­li­che eig­ne Feig­heit. Und in nai­vem Ma­chia­vel­lis­mus sag­te er sich, ge­ra­de ob die­ses Ver­bots habe er ein Recht auf sei­ne Lie­be. Was war die ehe­ma­li­ge Wit­we auch für ein Weib: sie war spin­del­dürr und hat­te häss­li­che Zäh­ne; Som­mer wie Win­ter trug sie den­sel­ben schwar­zen Schal mit dem über den Rücken her­ab­hän­gen­den lan­gen Zip­fel; ihre stei­fe Fi­gur stak in den im­mer zu kur­z­en Klei­dern wie in ei­nem Fut­te­ral, und was für plum­pe Schu­he trug sie über ih­ren grau­en St­rümp­fen.

Karls Mut­ter kam von Zeit zu Zeit zu Be­such. Dann wur­de es noch schlim­mer; dann hack­ten sie alle bei­de auf ihn ein. Das vie­le Es­sen be­käme ihm schlecht. Wa­rum er dem ers­ten bes­ten im­mer gleich ein Glas Wein vor­set­ze? Und es sei bloß Dick­köp­fig­keit von ihm, kei­ne Fla­nell­wä­sche zu tra­gen.

Zu Be­ginn des Früh­lings be­gab es sich, dass der Ver­mö­gens­ver­wal­ter der Frau ver­wit­we­ten Du­buc, ein No­tar in In­gou­ville, samt al­len ihm an­ver­trau­ten Gel­dern übers Meer das Wei­te such­te. Nun be­saß sie al­ler­dings au­ßer­dem einen Schiffsan­teil in der Höhe von sechs­tau­send Fran­ken und ein Haus in Diep­pe. Aber von al­len die­sen viel­ge­prie­se­nen Be­sitz­tü­mern hat­te man nie et­was Or­dent­li­ches zu se­hen be­kom­men. Die Wit­we hat­te nichts mit in die Ehe ge­bracht als ein paar Mö­bel und et­li­che Nipp­sa­chen. Nun­mehr ging man der Sa­che auf den Grund, und da stell­te sich denn her­aus, dass be­sag­tes Haus bis an die Feu­er­es­se mit Hy­po­the­ken be­las­tet, dass kein Mensch wuss­te, wie viel Geld wirk­lich mit dem No­tar zum Teu­fel ge­gan­gen, und dass die Schiffs­hy­po­thek kei­ne tau­send Ta­ler wert war. Folg­lich hat­te die lie­be Frau He­loi­se ge­flun­kert. In sei­nem Zorn warf der alte Bo­va­ry einen Stuhl ge­gen die Wand, dass er in tau­send Stücke ging, und mach­te sei­ner Frau den Vor­wurf, sie habe den Jun­gen in das Un­glück ge­stürzt und ihn mit ei­ner al­ten Kra­cke ein­ge­spannt, die des Fut­ters nicht ein­mal mehr wert sei.

Sie fuh­ren nach Tos­tes. Es kam zu ei­ner Aus­ein­an­der­set­zung und zu hef­ti­gen Sze­nen. He­loi­se warf sich wei­nend in die Arme ih­res Gat­ten und be­schwor ihn, sie den El­tern ge­gen­über in Schutz zu neh­men. Karl woll­te die Par­tei sei­ner Frau er­grei­fen. Aber das nah­men ihm die Al­ten übel. Sie reis­ten ab.

Die­sen Schlag ver­moch­te He­loi­se nicht zu ver­win­den. Acht Tage da­nach, als sie da­bei war, Wä­sche im Hofe auf­zu­hän­gen, be­kam sie einen Blut­sturz, und am an­de­ren Mor­gen war sie tot.

Als Karl vom Fried­ho­fe zu­rück­kam, fand er im Erd­ge­schoss kei­nen Men­schen. Er stieg die Trep­pe hin­auf. Wie er in das Schlaf­zim­mer trat, fiel sein Blick auf einen Rock He­loi­sens, der am Bet­te hing. Er lehn­te sich ge­gen das Schreib­pult und blieb da hocken, bis es dun­kel wur­de, in schmerz­li­che Träu­me­rei­en ver­sun­ken. Al­les in al­lem hat­te sie ihn doch ge­liebt …

Drittes Kapitel

Ei­nes Vor­mit­tags er­schi­en Va­ter Rou­ault und brach­te das Ho­no­rar für den be­han­del­ten Bein­bruch: fünf­und­sieb­zig Fran­ken in blan­ken Ta­lern und eine Truthen­ne. Er hat­te Karls Un­glück er­fah­ren und trös­te­te ihn, so gut er konn­te.

»Ich weiß, wie ei­nem da zu­mu­te ist!« sag­te er, in­dem er dem Wit­wer auf die Schul­ter klopf­te. »Habs ja sel­ber mal durch­ge­macht, ganz so wie Sie! Als ich mei­ne Se­li­ge be­gra­ben hat­te, da lief ich hin­aus ins Freie, um al­lein für mich zu sein. Ich warf mich im Wal­de hin und wein­te mich aus. Fing an, mit dem lie­ben Gott zu ha­dern, und mach­te ihm die dümms­ten Vor­wür­fe. An ei­nem Aste sah ich einen ver­reck­ten Maul­wurf hän­gen, dem der Bauch von Wür­mern wim­mel­te. Ich be­nei­de­te den Ka­da­ver! Und wenn ich dar­an dach­te, dass im sel­ben Au­gen­bli­cke an­de­re Män­ner mit ih­ren net­ten klei­nen Frau­en zu­sam­men wa­ren und sie an sich drück­ten, schlug ich mit mei­nem Sto­cke wild um mich. Es war so­zu­sa­gen nicht mehr ganz rich­tig mit mir. Ich aß nicht mehr. Der blo­ße Ge­dan­ke, in ein Kaf­fee­haus zu gehn, ekel­te mich an. Glau­ben Sie mir das! Na, und so nach und nach im Gang der Zei­ten, wie so der Früh­ling dem Win­ter und der Herbst dem Som­mer folg­te, da ging’s eins, zwei, drei, und weg war der Jam­mer! Weg! Hin­un­ter! Das ist das rich­ti­ge Wort: hin­un­ter! Denn ganz kriegt man ja so was im gan­zen Le­ben nicht los. Da tief drin­nen in der Brust bleibt im­mer was ste­cken. Aber Luft kriegt man wie­der! Se­hen Sie, das ist nun ein­mal un­ser al­ler Schick­sal, und des­halb darf man nicht gleich die Flin­te ins Korn wer­fen. Man darf nicht ster­ben wol­len, weil an­de­re ge­stor­ben sind. Auch Sie müs­sen sich auf­rap­peln, Herr Bo­va­ry! Es geht al­les vor­über! Be­su­chen Sie uns! Sie wis­sen ja, mei­ne Emma denkt oft an Sie. Sie hät­ten uns ver­ges­sen, meint sie. Es wird nun Früh­ling. Zer­streu­en Sie sich ein biss­chen bei uns. Schie­ßen Sie ein paar Kar­ni­ckel auf mei­nem Re­vier!«

Karl be­folg­te sei­nen Rat. Er kam wie­der nach Ber­taux und fand da al­les wie einst, das heißt wie vor fünf Mo­na­ten. Die Birn­bäu­me hat­ten schon Blü­ten, und der treff­li­che Va­ter Rou­ault war wie­der mords­ge­­­­­­