Heinrich Mann

Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Heinrich Mann

Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
EV: Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1918
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-23-4

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Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

Be­spre­chung von Kurt Tuchols­ky

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; le­dig­lich of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

Besprechung von Kurt Tucholsky

A­ber es wäre un­nütz, euch zu ra­ten. Die Ge­schlech­ter müs­sen vor­über­ge­hen, der Ty­pus, den ihr dar­stellt, muss sich ab­nut­zen: die­ser wi­der­wär­tig in­ter­essan­te Ty­pus des im­pe­ria­lis­ti­schen Un­ter­ta­nen, des Chau­vi­nis­ten ohne Mit­ver­ant­wor­tung, des in der Mas­se ver­schwin­den­den Machtan­be­ters, des Au­to­ri­täts­gläu­bi­gen wi­der bes­se­res Wis­sen und po­li­ti­schen Selbst­kas­tei­ers. Noch ist er nicht ab­ge­nutzt. Nach den Vä­tern, die sich zer­ra­cker­ten und Hur­ra schri­en, kom­men Söh­ne mit Arm­bän­dern und Mo­no­keln, ein Stand von form­vollen Frei­ge­las­se­nen, der sehn­süch­tig im Schat­ten des Adels lebt …

Hein­rich Mann 1911

Die­ses Buch Hein­rich Manns, heu­te, gott­sei­dank, in al­ler Hän­de, ist das Her­ba­ri­um des deut­schen Man­nes. Hier ist er ganz: in sei­ner Sucht, zu be­feh­len und zu ge­hor­chen, in sei­ner Ro­heit und in sei­ner Re­li­gio­si­tät, in sei­ner Er­fol­gan­be­te­rei und in sei­ner na­men­lo­sen Zi­vil­feig­heit. Lei­der: es ist der deut­sche Mann schlecht­hin ge­we­sen; wer an­ders war, hat­te nichts zu sa­gen, hieß Va­ter­lands­ver­rä­ter und war kai­ser­li­cher­seits an­ge­wie­sen, den Staub des Lan­des von den Pan­tof­feln zu schüt­teln.

Das er­staun­lichs­te an dem Buch ist si­cher­lich die Vor­be­mer­kung: »Der Ro­man wur­de ab­ge­schlos­sen An­fang Juli 1914.« Wenn ein Künst­ler die­ses Ran­ges das schreibt, ist es wahr: bei je­dem an­de­ren wür­de man an My­sti­fi­ka­ti­on1 den­ken, so über­ra­schend ist die Se­her­ga­be, so haar­scharf ist das Ur­teil, be­stä­tigt von der Ge­schich­te, be­stä­tigt von dem, was die Un­ter­ta­nen als al­lein maß­ge­bend be­trach­ten: vom Er­folg. Und es muss im­mer­hin be­merkt wer­den, dass die al­ten Macht­ha­ber – ach, wä­ren sie alt! – die­ses Buch von ih­rem Stand­punkt aus mit Recht ver­bo­ten ha­ben: denn es ist ein ge­fähr­li­ches Buch.

Ein Stück Le­bens­ge­schich­te ei­nes Deut­schen wird auf­ge­rollt: Die­de­rich Hess­ling, Sohn ei­nes klei­nen Pa­pier­fa­bri­kan­ten, wächst auf, stu­diert und geht zu den Korps­stu­den­ten, dient und geht zu den Drücke­ber­gern, macht sei­nen Dok­tor, über­nimmt die vä­ter­li­che Fa­brik, hei­ra­tet reich und zeugt Kin­der. Aber das ist nicht nur Die­de­rich Hess­ling oder ein Typ.

Das ist der Kai­ser, wie er leib­te und leb­te. Das ist die In­kar­na­ti­on des deut­schen Macht­ge­dan­kens, das ist ei­ner der klei­nen Kö­ni­ge, wie sie zu Hun­der­ten und Tau­sen­den in Deutsch­land leb­ten und le­ben, ge­treu dem kai­ser­li­chen Vor­bild, gan­ze Herr­scher­chen und gan­ze Un­ter­ta­nen.

Die­se Par­al­le­le mit dem Staats­ober­haupt ist er­staun­lich durch­ge­ar­bei­tet. Die­de­rich Hess­ling ge­braucht nicht nur die­sel­ben Tro­pen und Aus­drücke, wenn er re­det wie sein kai­ser­li­ches Vor­bild – am lus­tigs­ten ein­mal in der An­tritts­re­de zu den Ar­bei­tern (»Leu­te! Da ihr mei­ne Un­ter­ge­be­nen seid, will ich euch nur sa­gen, dass hier künf­tig forsch ge­ar­bei­tet wird.« Und: »Mein Kurs ist der rich­ti­ge, ich füh­re euch herr­li­chen Ta­gen ent­ge­gen.«) – er han­delt auch im Sin­ne des Ge­wal­ti­gen, er beugt sich nach oben, wie der sei­nem Got­te, so er sei­nem Re­gie­rungs­prä­si­den­ten, und tritt nach un­ten.

Denn die­se bei­den Cha­rak­terei­gen­schaf­ten sind an Hess­ling, sind am Deut­schen auf das sub­tils­te aus­ge­bil­det: skla­vi­sches Un­ter­ord­nungs­ge­fühl und skla­vi­sches Herr­schafts­ge­lüst. Er braucht Ge­wal­ten, Ge­wal­ten, de­nen er sich beugt, wie der Na­tur­mensch vor dem Ge­wit­ter, Ge­wal­ten, die er selbst zu er­rin­gen sucht, um an­de­re zu du­cken. Er weiß: sie du­cken sich, hat er erst ein­mal das ›Am­t‹ ver­lie­hen be­kom­men und den Er­folg für sich. Nichts wird so re­spek­tiert wie der Er­folg; ein­mal heißt es gra­de­zu: »Er be­han­del­te Mag­da mit Ach­tung, denn sie hat­te Er­folg ge­habt.« Aber wie wird die­ser Er­folg ge­ach­tet! Wür­de er es mit nüch­ter­nem Tat­sa­chen­sinn, so hät­ten wir den Ame­ri­ka­nis­mus, und das wäre nicht schön. Aber er wird ge­ach­tet auf ganz ver­lo­gne Art: man schämt sich der al­ten Ver­gan­gen­heit und be­schwört die al­ten Göt­ter, die den wirk­li­chen Dich­tern und Den­kern von einst noch et­was be­deu­te­ten, zi­tiert sie, legt Me­ta­phy­sik in den Er­folg und don­nert voll Über­zeu­gung: »Die Welt­ge­schich­te ist das Welt­ge­richt!« Und ap­pel­liert an kei­ne hö­he­re In­stanz, weil man kei­ne an­de­re kennt.

Das gan­ze bom­bas­ti­sche und doch so klei­ne We­sen des kai­ser­li­chen Deutsch­land wird scho­nungs­los in die­sem Buch auf­ge­rollt. Sei­ne Sucht, Amü­sier­ver­gnü­gen an Stel­le der Freu­de zu set­zen, sei­ne Un­fä­hig­keit, in der Ge­gen­wart zu le­ben, ohne auf die Le­se­bü­cher der Zu­kunft hin­zu­wei­sen, und sei­ne Un­fä­hig­keit, an­ders als nur in der Ge­gen­wart zu le­ben, sei­ne Lust am rau­schen­den Ge­prän­ge – tiefer ist nie die Po­pu­la­ri­tät Wa­gners ent­hüllt wor­den als hier an ei­ner ›Lo­hen­grin‹- Auf­füh­rung, die voll wit­zi­ger Be­zie­hun­gen zur deut­schen Po­li­tik strotzt (»denn hier er­schei­nen ihm, in Text und Mu­sik, alle na­tio­na­len For­de­run­gen er­füllt. Em­pö­rung war hier das­sel­be wie Ver­bre­chen, das Be­ste­hen­de, Le­gi­ti­me ward glanz­voll ge­fei­ert, auf Adel und Got­tes­gna­den­tum höchs­ter Wert ge­legt, und das Volk, ein von den Er­eig­nis­sen ewig über­rasch­ter Chor, schlug sich wil­lig ge­gen die Fein­de sei­ner Her­ren«) –, und vor al­lem zeigt Hein­rich Mann, wo­nach eben das Buch sei­nen Na­men führt: die Un­frei­heit des Deut­schen.

Die alte Ord­nung, die heu­te noch ge­nau so be­steht wie da­mals, nahm und gab dem Deut­schen: sie nahm ihm die per­sön­li­che Frei­heit, und sie gab ihm Ge­walt über an­de­re. Und sie lie­ßen sich alle so wil­lig be­herr­schen, wenn sie nur herr­schen durf­ten! Sie durf­ten. Der Schutz­mann über den Passan­ten, der Un­ter­of­fi­zier über den Re­kru­ten, der Lan­drat über den Dör­f­ler, der Guts­ver­wal­ter über den Bau­ern, der Be­am­te über Leu­te, die sach­lich mit ihm zu tun hat­ten. Und je­der streb­te nur im­mer da­nach, so ein Amt, so eine Stel-lung zu be­kom­men – hat­te er die, er­gab sich das Üb­ri­ge von selbst. Das Üb­ri­ge war: sich du­cken und re­gie­ren und herr­schen und be­feh­len.

Die voll­kom­me­ne Un­fä­hig­keit, an­ders zu den­ken als in sol­chem Ap­pa­rat, der weit wich­ti­ger war denn al­les Le­ben, die Stu­pi­di­tät, zwi­schen Be­am­ten­miss­wirt­schaft und An­ar­chie nicht die ein­zig mög­li­che drit­te Ver­fas­sung zu se­hen, die es für an­stän­di­ge Men­schen gibt: sie bil­det den Grund­bass des Bu­ches. (Und of­fen­bart sie sich nicht heu­te wie­der aufs herr-lichs­te?) Sie kön­nen alle nur ihre Pf­licht tun, wenn man sie du­cken und ge­duckt wer­den lässt; un­zer­trenn­lich er­scheint Bil­dung und Skla­ven­tum, Be­sitz und Duo­dez­re­gie­rung, bür­ger­li­ches Le­ben und Un­ter­ge­be­ne und Vor­ge­setz­te. Sie fas­sen es nicht, dass es wohl Leu­te ge­ben mag, die sach­lich Wei­sun­gen er­tei­len, aber nim­mer­mehr: Vor­ge­setz­te; wohl Men­schen, die für Geld aus­füh­ren, was an­de­re ha­ben wol­len, aber nim­mer­mehr: Un­ter­ge­be­ne. Das Land war – war … – ein ein­zi­ger Ka­ser­nen­hof.

Und noch eins scheint mir in die­sem Werk, das auch noch die klei­nen und kleins­ten Züge der Hur­ra­mie­ne mit dem auf­ge­bürs­te­ten Ka­ter­schnurr­bart ein­ge­fan­gen hat, auf das glück­lichs­te dar­ge­stellt zu sein; das Rät­sel der Kol­lek­ti­vi­tät. Was der Ju­rist Otto Gier­ke einst die rea­le Ver­bands­per­sön­lich­keit be­nann­te, die­se Er­schei­nung, dass ein Ve­rein nicht die Sum­me sei­ner Mit­glie­der ist, son­dern mehr, son­dern et­was andres, über ih­nen Schwe­ben­des: das ist hier in nuce auf­ge­malt und dar­ge­tan. Neu­teu­to­nen und Sol­da­ten und Ju­ris­ten und schließ­lich Deut­sche – es sind al­les Kol­lek­ti­vi­tä­ten, die den ein­zel­nen von je­der Verant­wor­tung frei ma­chen, und de­nen an­zu­ge­hö­ren Ruhm und Ehre ein­bringt, Ach­tung er­heischt und kein Ver­dienst be­an­sprucht. Man ist es eben, und da­mit fer­tig. Der Mus­ke­tier Lyck, der den Ar­bei­ter er­schießt – his­to­risch – und da­für Ge­frei­ter wird; der Bür­ger Hess­ling, der – nicht his­to­risch, aber mehr als das: ty­pisch – alle an­ders­ge­ar­te­ten wie Wil­de an­sieht: sie sind Skla­ven der rät­sel­vol­len Kol­lek­ti­vi­tät, die die­sem Lan­de und die­ser Zeit so un­end­lich Schmach­vol­les auf­ge­bür­det hat. »Dem Eu­ro­pä­er ist nicht wohl, wenn ihm nicht et­was vor­an­weht«, hat Mey­rink mal ge­sagt. Es weh­te ih­nen al­len et­was vor­an, und sie schwö­ren auf die Fah­ne.

Klei­ne und kleins­te Züge be­lus­ti­gen, böse Blink-feu­er der Ero­tik blit­zen auf, der Kampf der Ge­schlech­ter in Fla­nell und mö­blier­ten Zim­mern ist hier ein Gue­ril­la­krieg, es wird mit ver­gif­te­ten Pfei­len ge­schos­sen, und es ist bit­ter­lich spa­ßig, wie Lie­be schließ­lich zum le­gi­ti­men Ge­schlechts­ge­nuss wird. Eine bun­te Fül­le Le­ben zieht vor­bei, und al­les ist auf die letz­te For­mu­lie­rung ge­bracht, und al­les ist ty­pisch, al­les ein für alle Mal. Die alte For­de­rung ist ganz er­füllt: »Wenn nun gleich der Dich­ter uns im­mer nur das ein­zel­ne, in­di­vi­du­el­le vor­führt, so ist, was er er­kann­te und uns da­durch er­ken­nen las­sen will, doch die Idee, die gan­ze Gat­tung.« Lei­der: so ist die gan­ze Gat­tung.

Aus klei­nen Er­eig­nis­sen wird die letz­te Ent­hül­lung des deut­schen See­len­zu­stan­des: am fünf­und­zwan­zigs­ten Fe­bru­ar 1892 de­mons­trier­ten die Ar­beits­lo­sen vor dem Kö­nig­li­chen Schloss in Ber­lin, und dar­aus wird in dem Buch eine gran­dio­se Sze­ne mit dem opern­haf­ten Kai­ser als Mit­tel­staf­fa­ge, ei­ner be­geis­ter­ten Men­ge Volks und in ih­nen, un­ter ih­nen und ganz mit ih­nen: Hess­ling, der Deut­sche, der Claqueur, der jun­ge Mann, der das Staats­er­hal­ten­de liebt, der Un­ter­tan.

Und aus all dem To­hu­wa­bo­hu, aus dem Ge­wirr der spie­ßi­gen Klein­stadt, aus den Klatsch­pro­zes­sen und aus den Schie­bun­gen – man sagt: Ver­ord­nun­gen; und meint: Grund­stückss­pe­ku­la­ti­on –, aus lä­cher­li­chen Ehren­ko­de­xen und sim­peln Gau­ne­rei­en strahlt die Fi­gur des al­ten Buck. Man muss so has­sen kön­nen wie Mann, umso lie­ben zu kön­nen. Der alte Buck ist ein al­ter Achtund­vier­zi­ger, ein Mann von da­mals, wo man die heu­te ge­schmäh­ten Idea­le hat­te, sie zwar nicht ver­wirk­lich­te, schlecht ver­wirk­lich­te, ver­wor­ren war – ge­wiss, aber es wa­ren doch Idea­le. Wie schön ist das, wenn der alte Mann dem neu­en Hess­ling sein al­tes Ge­dicht­buch in die Hand drückt: »Da, neh­men Sie! Es sind mei­ne ›Sturm­glo­cken‹! Man war auch Dich­ter – da­mals!« Die von heu­te sinds nicht mehr. Sie sind Re­al­po­li­ti­ker, ver­la­chen den Idea­lis­ten, weil er – schein­bar – nichts er­reicht, und wis­sen nicht, dass sie ihre küm­mer­li­chen klei­nen Er­fol­ge ne­ben den cha­rak­ter­lo­sen Pak­ten je­nen ver­dan­ken, die einst wahr ge­we­sen sind und un­er­schüt­ter­lich.

Und das Buch ›Der Un­ter­tan‹ (er­schie­nen bei Kurt Wolff in Leip­zig) zeigt uns wie­der, dass wir auf dem rech­ten Wege sind, und be­stä­tigt uns, dass Lie­be, die nach au­ßen in Hass um­schla­gen kann, das ein­zi­ge ist, um in die­sem Vol­ke durch­zu­drin­gen, um die­sem Vol­ke zu hel­fen, um end­lich, end­lich ein­mal die Far­ben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich ver­rannt ha­ben wie die Stie­re, von dem Deutsch­land ab­zu­tren­nen, das wir lie­ben, und das die Bes­ten al­ler Al­ter ge­liebt ha­ben. Es ist ja nicht wahr, dass ver­sipp­tes Cli­quen­tum und ge­hor­sa­me Lüg­ner ewig und un­trenn­bar mit un­serm Lan­de ver­knüpft sein müs­sen. Be­schimp­fen wir die, lo­ben wir doch das an­de­re Deutsch­land; läs­tern wir die, be­seelt uns doch die Lie­be zum Deut­schen. Al­ler­dings: nicht zu die­sem Deut­schen da. Nicht zu dem Bur­schen, der un­ter­tä­nig und re­spekt­voll nach oben him­melt und nie­der­träch­tig und ge­schwol­len nach un­ten tritt, der Rad­fah­rer des lie­ben Got­tes, eine ent­ar­te­te Spe­zi­es der gens hu­mana.

Weil aber Hein­rich Mann der ers­te deut­sche Li­te­rat ist, der dem Geist eine ent­schei­den­de und mit­be­stim­men­de Stel­lung fern al­ler Li­te­ra­tur ein­ge­räumt hat, grü­ßen wir ihn. Und wis­sen wohl, dass die­se we­ni­gen Zei­len sei­ne künst­le­ri­sche Grö­ße nicht aus­ge­schöpft ha­ben, nicht die Kraft sei­ner Dar­stel­lung und nicht das selt­sa­me Rät­sel sei­nes ge­misch­ten Blu­tes.

So wol­len wir kämp­fen. Nicht ge­gen die Herr­scher, die es im­mer ge­ben wird, nicht ge­gen Men­schen, die Ver­ord­nun­gen für an­de­re ma­chen, Las­ten den an­de­ren auf­bür­den und Ar­beit den an­de­ren. Wir wol­len ih­nen die ent­zie­hen, auf de­ren Rücken sie tanz­ten, die, die stumpf­sin­nig und im­mer zu­frie­den das Un­heil die­ses Lan­des ver­schul­det ha­ben, die, die wir den Staub der Hei­mat von den be­blüm­ten Pan­tof­feln ger­ne schüt­teln sä­hen: die Un­ter­ta­nen!

I­g­naz Wro­bel
Die Welt­büh­ne, 20.03.1919, Nr. 13, S. 317.


  1. Ver­schleie­rung, Ver­dun­ke­lung  <<<

I.

Die­de­rich Hess­ling war ein wei­ches Kind, das am liebs­ten träum­te, sich vor al­lem fürch­te­te und viel an den Ohren litt. Un­gern ver­ließ er im Win­ter die war­me Stu­be, im Som­mer den en­gen Gar­ten, der nach den Lum­pen der Pa­pier­fa­brik roch und über des­sen Gold­re­gen- und Flie­der­bäu­men das höl­zer­ne Fach­werk der al­ten Häu­ser stand. Wenn Die­de­rich vom Mär­chen­buch, dem ge­lieb­ten Mär­chen­buch, auf­sah, er­schrak er manch­mal sehr. Ne­ben ihm auf der Bank hat­te ganz deut­lich eine Krö­te ge­ses­sen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mau­er dort drü­ben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schiel­te her!

Fürch­ter­li­cher als Gnom und Krö­te war der Va­ter, und oben­drein soll­te man ihn lie­ben. Die­de­rich lieb­te ihn. Wenn er ge­nascht oder ge­lo­gen hat­te, drück­te er sich so lan­ge schmat­zend und scheu we­delnd am Schreib­pult um­her, bis Herr Hess­ling et­was merk­te und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht her­aus­ge­kom­me­ne Un­tat misch­te in Die­de­richs Er­ge­ben­heit und Ver­trau­en einen Zwei­fel. Als der Va­ter ein­mal mit sei­nem in­va­li­den Bein die Trep­pe her­un­ter­fiel, klatsch­te der Sohn wie toll in die Hän­de – wor­auf er weg­lief.

Kam er nach ei­ner Abstra­fung mit ge­dun­se­nem Ge­sicht und un­ter Ge­heul an der Werk­stät­te vor­bei, dann lach­ten die Ar­bei­ter. So­fort aber streck­te Die­de­rich nach ih­nen die Zun­ge aus und stampf­te. Er war sich be­wusst: »Ich habe Prü­gel be­kom­men, aber von mei­nem Papa. Ihr wä­ret froh, wenn ihr auch Prü­gel von ihm be­kom­men könn­tet. Aber da­für seid ihr viel zu we­nig.«

Er be­weg­te sich zwi­schen ih­nen wie ein lau­nen­haf­ter Pa­scha; droh­te ih­nen bald, es dem Va­ter zu mel­den, dass sie sich Bier hol­ten, und bald ließ er ko­kett aus sich die Stun­de her­aus­schmei­cheln, zu der Herr Hess­ling zu­rück­keh­ren soll­te. Sie wa­ren auf der Hut vor dem Prin­zi­pal:1 er kann­te sie, er hat­te selbst ge­ar­bei­tet. Er war Büt­ten­schöp­fer ge­we­sen in den al­ten Müh­len, wo je­der Bo­gen mit der Hand ge­formt ward; hat­te da­zwi­schen alle Krie­ge mit­ge­macht und nach dem letz­ten, als je­der Geld fand, eine Pa­pier­ma­schi­ne kau­fen kön­nen. Ein Hol­län­der und eine Schnei­de­ma­schi­ne ver­voll­stän­dig­ten die Ein­rich­tung. Er selbst zähl­te die Bo­gen nach. Die von den Lum­pen ab­ge­trenn­ten Knöp­fe durf­ten ihm nicht ent­ge­hen. Sein klei­ner Sohn ließ sich oft von den Frau­en wel­che zu­ste­cken, da­für, dass er die nicht an­gab, die ei­ni­ge mit­nah­men. Ei­nes Ta­ges hat­te er so vie­le bei­sam­men, dass ihm der Ge­dan­ke kam, sie beim Krä­mer ge­gen Bon­bons um­zut­au­schen. Es ge­lang – aber am Abend knie­te Die­de­rich, in­des er den letz­ten Malz­zu­cker zer­lutsch­te, sich ins Bett und be­te­te, angst­ge­schüt­telt, zu dem schreck­li­chen lie­ben Gott, er möge das Ver­bre­chen un­ent­deckt las­sen. Er brach­te es den­noch an den Tag. Dem Va­ter, der im­mer nur me­tho­disch, Ehren­fes­tig­keit und Pf­licht auf dem ver­wit­ter­ten Un­ter­of­fi­ziers­ge­sicht, den Stock ge­führt hat­te, zuck­te dies­mal die Hand, und in die eine Bürs­te sei­nes sil­be­ri­gen Kai­ser­bar­tes lief, über die Run­zeln hüp­fend, eine Trä­ne. »Mein Sohn hat ge­stoh­len«, sag­te er au­ßer Atem, mit dump­fer Stim­me, und sah sich das Kind an wie einen ver­däch­ti­gen Ein­dring­ling. »Du be­trügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Men­schen tot­zu­schla­gen.«

Frau Hess­ling woll­te Die­de­rich nö­ti­gen, vor dem Va­ter hin­zu­fal­len und ihn um Ver­zei­hung zu bit­ten, weil der Va­ter sei­net­we­gen ge­weint habe! Aber Die­de­richs In­stinkt sag­te ihm, dass dies den Va­ter nur noch mehr er­bost ha­ben wür­de. Mit der ge­fühls­se­li­gen Art sei­ner Frau war Hess­ling durch­aus nicht ein­ver­stan­den. Sie verd­arb das Kind fürs Le­ben. Üb­ri­gens er­tapp­te er sie ge­ra­de­so auf Lü­gen wie den Die­del. Kein Wun­der, da sie Ro­ma­ne las! Am Sonn­abend­a­bend war nicht im­mer die Wo­chen­ar­beit ge­tan, die ihr auf­ge­ge­ben war. Sie klatsch­te, an­statt sich zu rüh­ren, mit dem Dienst­mäd­chen … Und Hess­ling wuss­te noch nicht ein­mal, dass sei­ne Frau auch nasch­te, ge­ra­de wie das Kind. Bei Tisch wag­te sie sich nicht satt zu es­sen und schlich nach­träg­lich an den Schrank. Hät­te sie sich in die Werk­statt ge­traut, wür­de sie auch Knöp­fe ge­stoh­len ha­ben.

Sie be­te­te mit dem Kind »aus dem Her­zen«, nicht nach For­meln, und be­kam da­bei ge­röte­te Wan­gen­kno­chen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und ver­zerrt von Rach­sucht. Oft war sie da­bei im Un­recht. Dann droh­te Die­de­rich, sie beim Va­ter zu ver­kla­gen; tat so, als gin­ge er ins Kon­tor, und freu­te sich ir­gend­wo hin­ter ei­ner Mau­er, dass sie nun Angst hat­te. Ihre zärt­li­chen Stun­den nütz­te er aus; aber er fühl­te gar kei­ne Ach­tung vor sei­ner Mut­ter. Ihre Ähn­lich­keit mit ihm selbst ver­bot es ihm. Denn er ach­te­te sich selbst nicht, da­für ging er mit ei­nem zu schlech­ten Ge­wis­sen durch sein Le­ben, das vor den Au­gen des Herrn nicht hät­te be­ste­hen kön­nen.

Den­noch hat­ten die bei­den von Ge­müt über­flie­ßen­de Däm­mer­stun­den. Aus den Fes­ten press­ten sie ge­mein­sam, ver­mit­tels Ge­sang, Kla­vier­spiel und Mär­chen­er­zäh­len, den letz­ten Trop­fen Stim­mung her­aus. Als Die­de­rich am Christ­kind zu zwei­feln an­fing, ließ er sich von der Mut­ter be­we­gen, noch ein Weil­chen zu glau­ben, und er fühl­te sich da­durch er­leich­tert, treu und gut. Auch an ein Ge­s­penst, dro­ben auf der Burg, glaub­te er hart­nä­ckig, und der Va­ter, der hier­von nichts hö­ren woll­te, schi­en zu stolz, bei­na­he straf­wür­dig. Die Mut­ter nähr­te ihn mit Mär­chen. Sie teil­te ihm ihre Angst mit vor den neu­en, be­leb­ten Stra­ßen und der Pfer­de­bahn, die hin­durch­fuhr, und führ­te ihn über den Wall nach der Burg. Dort ge­nos­sen sie das woh­li­ge Grau­sen.

Ecke der Mei­se­stra­ße hin­wie­der muss­te man an ei­nem Po­li­zis­ten vor­über, der, wen er woll­te, ins Ge­fäng­nis ab­füh­ren konn­te! Die­de­richs Herz klopf­te be­weg­lich; wie gern hät­te er einen wei­ten Bo­gen ge­macht! Aber dann wür­de der Po­li­zist sein schlech­tes Ge­wis­sen er­kannt und ihn auf­ge­grif­fen ha­ben. Es war viel­mehr ge­bo­ten, zu be­wei­sen, dass man sich rein und ohne Schuld fühl­te – und mit zit­tern­der Stim­me frag­te Die­de­rich den Schutz­mann nach der Uhr.

*

Nach so vie­len furcht­ba­ren Ge­wal­ten, de­nen man un­ter­wor­fen war, nach den Mär­chen­krö­ten, dem Va­ter, dem lie­ben Gott, dem Burg­ge­spenst und der Po­li­zei, nach dem Schorn­stein­fe­ger, der einen durch den gan­zen Schlot schlei­fen konn­te, bis man auch ein schwar­zer Mann war, und dem Dok­tor, der einen im Hals pin­seln durf­te und schüt­teln, wenn man schrie – nach al­len die­sen Ge­wal­ten ge­riet nun Die­de­rich un­ter eine noch furcht­ba­re­re, den Men­schen auf ein­mal ganz ver­schlin­gen­de: die Schu­le. Die­de­rich be­trat sie heu­lend, und auch die Ant­wor­ten, die er wuss­te, konn­te er nicht ge­ben, weil er heu­len muss­te. All­mäh­lich lern­te er den Drang zum Wei­nen ge­ra­de dann aus­zu­nut­zen, wenn er nicht ge­lernt hat­te – denn alle Angst mach­te ihn nicht flei­ßi­ger oder we­ni­ger träu­me­risch – und ver­mied so, bis die Leh­rer sein Sys­tem durch­schaut hat­ten, man­che üb­len Fol­gen. Dem ers­ten, der es durch­schau­te, schenk­te er sei­ne gan­ze Ach­tung; er war plötz­lich still und sah ihn, über den ge­krümm­ten und vors Ge­sicht ge­hal­te­nen Arm hin­weg, voll scheu­er Hin­ga­be an. Im­mer blieb er den schar­fen Leh­rern er­ge­ben und will­fäh­rig. Den gut­mü­ti­gen spiel­te er klei­ne, schwer nach­weis­ba­re Strei­che, de­ren er sich nicht rühm­te. Mit viel grö­ße­rer Ge­nug­tu­ung sprach er von ei­ner Ver­hee­rung in den Zeug­nis­sen, von ei­nem rie­si­gen Straf­ge­richt. Bei Tisch be­rich­te­te er: »Heu­te hat Herr Behn­ke wie­der drei durch­ge­hau­en.« Und wenn ge­fragt ward, wen?

»Ei­ner war ich.«

Denn Die­de­rich war so be­schaf­fen, dass die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­nem un­per­sön­li­chen Gan­zen, zu die­sem un­er­bitt­li­chen, men­schen­ver­ach­ten­den, ma­schi­nel­len Or­ga­nis­mus, der das Gym­na­si­um war, ihn be­glück­te, dass die Macht, die kal­te Macht, an der er selbst, wenn auch nur lei­dend, teil­hat­te, sein Stolz war. Am Ge­burts­tag des Or­di­na­ri­us be­kränz­te man Ka­the­der und Ta­fel. Die­de­rich um­wand so­gar den Rohr­stock.

Im Lauf der Jah­re be­rühr­ten zwei über Macht­ha­ber her­ein­ge­bro­che­ne Ka­ta­stro­phen ihn mit hei­li­gem und süßem Schau­der. Ein Hilfs­leh­rer ward vor der Klas­se vom Di­rek­tor her­un­ter­ge­macht und ent­las­sen. Ein Ober­leh­rer ward wahn­sin­nig. Noch hö­he­re Ge­wal­ten, der Di­rek­tor und das Ir­ren­haus, wa­ren hier gräss­lich mit de­nen ab­ge­fah­ren, die bis eben so hohe Ge­walt hat­ten. Von un­ten, klein aber un­ver­sehrt, durf­te man die Lei­chen be­trach­ten und aus ih­nen eine die ei­ge­ne Lage mil­dern­de Leh­re zie­hen.

Die Macht, die ihn in ih­rem Rä­der­werk hat­te, vor sei­nen jün­ge­ren Schwes­tern ver­trat Die­de­rich sie. Sie muss­ten nach sei­nem Dik­tat schrei­ben und künst­lich noch mehr Feh­ler ma­chen, als ih­nen von selbst ge­lan­gen, da­mit er mit ro­ter Tin­te wü­ten und Stra­fen aus­tei­len konn­te. Sie wa­ren grau­sam. Die Klei­nen schri­en – und dann war es an Die­de­rich, sich zu de­mü­ti­gen, um nicht ver­ra­ten zu wer­den.

Er hat­te, den Macht­ha­bern nach­zuah­men, kei­nen Men­schen nö­tig; ihm ge­nüg­ten Tie­re, so­gar Din­ge. Er stand am Ran­de des Hol­län­ders und sah die Trom­mel die Lum­pen aus­schla­gen. »Den hast du weg! Un­ter­steht euch noch mal! In­fa­me Ban­de!« mur­mel­te Die­de­rich, und in sei­nen blas­sen Au­gen glomm es. Plötz­lich duck­te er sich; fast fiel er in das Chlor­bad. Der Schritt ei­nes Ar­bei­ters hat­te ihn auf­ge­stört aus sei­nem läs­ter­li­chen Ge­nuss.

Denn recht ge­heu­er und sei­ner Sa­che ge­wiss fühl­te er sich nur, wenn er selbst die Prü­gel be­kam. Kaum je wi­der­stand er dem Übel. Höchs­tens bat er den Ka­me­ra­den: »Nicht auf den Rücken, das ist un­ge­sund.«

Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Lie­be zum ei­ge­nen Vor­teil fehl­te. Aber Die­de­rich hielt da­für, dass Prü­gel, die er be­kam, dem Schla­gen­den kei­nen prak­ti­schen Ge­winn, ihm selbst kei­nen rea­len Ver­lust zu­füg­ten. Erns­ter als die­se bloß idea­len Wer­te nahm er die Schaum­rol­le, die der Ober­kell­ner vom »Net­zi­ger Hof« ihm schon längst ver­spro­chen hat­te und mit der er nie her­aus­rück­te. Die­de­rich mach­te un­zäh­li­ge Male erns­ten Schrit­tes den Ge­schäfts­weg die Mei­se­stra­ße hin­auf zum Markt, um sei­nen be­frack­ten Freund zu mah­nen. Als der aber ei­nes Ta­ges von sei­ner Ver­pflich­tung über­haupt nichts mehr wis­sen woll­te, er­klär­te Die­de­rich und stampf­te ehr­lich ent­rüs­tet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich her­aus­rücken, sag’ ich’s Ihrem Herrn!« Da­rauf lach­te Schorsch und brach­te die Schaum­rol­le.

Das war ein greif­ba­rer Er­folg. Lei­der konn­te Die­de­rich ihn nur has­tig und in Sor­ge ge­nie­ßen, denn es war zu fürch­ten, dass Wolf­gang Buck, der drau­ßen war­te­te, dar­über zu­kam und den An­teil ver­lang­te, der ihm ver­spro­chen war. In­des fand er Zeit, sich sau­ber den Mund zu wi­schen, und vor der Tür brach er in hef­ti­ge Schimpfre­den auf Schorsch aus, der ein Schwind­ler sei und gar kei­ne Schaum­rol­le habe. Die­de­richs Ge­rech­tig­keits­ge­fühl, das sich zu sei­nen Guns­ten noch eben so kräf­tig ge­äu­ßert hat­te, schwieg vor den An­sprü­chen des an­de­ren – die man frei­lich nicht ein­fach au­ßer acht las­sen durf­te, da­für war Wolf­gangs Va­ter eine viel zu ach­tung­ge­bie­ten­de Per­sön­lich­keit. Der alte Herr Buck trug kei­nen stei­fen Kra­gen, son­dern eine weiß­sei­de­ne Hals­bin­de und dar­über einen großen wei­ßen Kne­bel­bart. Wie lang­sam und ma­je­stä­tisch er sei­nen oben gol­de­nen Stock aufs Pflas­ter setz­te! Und er hat­te einen Zy­lin­der auf, und un­ter sei­nem Über­zie­her sa­hen häu­fig Frack­schö­ße her­vor, mit­ten am Tage! Denn er ging in Ver­samm­lun­gen, er be­küm­mer­te sich um die gan­ze Stadt. Von der Ba­de­an­stalt, vom Ge­fäng­nis, von al­lem, was öf­fent­lich war, dach­te Die­de­rich: »Das ge­hört dem Herrn Buck.« Er muss­te un­ge­heu­er reich und mäch­tig sein. Alle, auch Herr Hess­ling, ent­blö­ßten vor ihm lan­ge den Kopf. Sei­nem Sohn mit Ge­walt et­was ab­zu­neh­men, wäre eine Tat voll un­ab­seh­ba­rer Ge­fah­ren ge­we­sen. Um von den großen Mäch­ten, die er so sehr ver­ehr­te, nicht ganz er­drückt zu wer­den, muss­te Die­de­rich lei­se und lis­tig zu Werk ge­hen.

Ein­mal nur, in Un­ter­ter­tia, ge­sch­ah es, dass Die­de­rich jede Rück­sicht ver­gaß, sich blind­lings be­tä­tig­te und zum sie­ges­trun­ke­nen Un­ter­drücker ward. Er hat­te, wie es üb­lich und ge­bo­ten war, den ein­zi­gen Ju­den sei­ner Klas­se ge­hän­selt, nun aber schritt er zu ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Kund­ge­bung. Aus Klöt­zen, die zum Zeich­nen dienten, er­bau­te er auf dem Ka­the­der ein Kreuz und drück­te den Ju­den da­vor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz al­lem Wi­der­stand; er war stark! Was Die­de­rich stark mach­te, war der Bei­fall rings­um, die Men­ge, aus der her­aus Arme ihm hal­fen, die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit drin­nen und drau­ßen. Denn durch ihn han­del­te die Chris­ten­heit von Net­zig. Wie wohl man sich fühl­te bei ge­teil­ter Verant­wort­lich­keit und ei­nem Schuld­be­wusst­sein, das kol­lek­tiv war!

Nach dem Ver­rau­chen des Rau­sches stell­te wohl leich­tes Ban­gen sich ein, aber das ers­te Leh­rer­ge­sicht, dem Die­de­rich be­geg­ne­te, gab ihm al­len Mut zu­rück; es war voll ver­le­ge­nen Wohl­wol­lens. An­de­re be­wie­sen ihm of­fen ihre Zu­stim­mung. Die­de­rich lä­chel­te mit de­mü­ti­gem Ein­ver­ständ­nis zu ih­nen auf. Er be­kam es leich­ter seit­dem. Die Klas­se konn­te die Ehrung dem nicht ver­sa­gen, der die Gunst des neu­en Or­di­na­ri­us be­saß. Un­ter ihm brach­te Die­de­rich es zum Pri­mus und zum ge­hei­men Auf­se­her. We­nigs­tens die zwei­te die­ser Ehren­stel­len be­haup­te­te er auch spä­ter. Er war gut Freund mit al­len, lach­te, wenn sie ihre Strei­che aus­plau­der­ten, ein un­ge­trüb­tes, aber herz­li­ches La­chen, als erns­ter jun­ger Mensch, der Nach­sicht hat mit dem Leicht­sinn – und dann in der Pau­se, wenn er dem Pro­fes­sor das Klas­sen­buch vor­leg­te, be­rich­te­te er. Auch hin­ter­brach­te er die Spitz­na­men der Leh­rer und die auf­rüh­re­ri­schen Re­den, die ge­gen sie ge­führt wor­den wa­ren. In sei­ner Stim­me beb­te, nun er sie wie­der­hol­te, noch et­was von dem wol­lüs­ti­gen Er­schre­cken, wo­mit er sie, hin­ter ge­senk­ten Li­dern, an­ge­hört hat­te. Denn er spür­te, ward ir­gend­wie an den Herr­schen­den ge­rüt­telt, eine ge­wis­se las­ter­haf­te Be­frie­di­gung, et­was ganz un­ter sich Be­we­gen­des, fast wie ein Hass, der zu sei­ner Sät­ti­gung rasch und ver­stoh­len ein paar Bis­sen nahm. Durch die An­zei­ge der an­de­ren sühn­te er die ei­ge­ne sünd­haf­te Re­gung.

An­de­rer­seits emp­fand er ge­gen die Mit­schü­ler, de­ren Fort­kom­men sei­ne Tä­tig­keit in Fra­ge stell­te, zu­meist kei­ne per­sön­li­che Ab­nei­gung. Er be­nahm sich als pflicht­mä­ßi­ger Voll­stre­cker ei­ner har­ten Not­wen­dig­keit. Nach­her konn­te er zu dem Ge­trof­fe­nen hin­tre­ten und ihn, fast ganz auf­rich­tig, be­kla­gen. Einst ward mit sei­ner Hil­fe ei­ner ge­fasst, der schon längst ver­däch­tig war, al­les ab­zu­schrei­ben. Die­de­rich über­ließ ihm, mit Wis­sen des Leh­rers, eine ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­be, die in der Mit­te ab­sicht­lich ge­fälscht und de­ren En­d­er­geb­nis den­noch rich­tig war. Am Abend nach dem Zu­sam­men­bruch des Be­trü­gers sa­ßen ei­ni­ge Pri­ma­ner vor dem Tor in ei­ner Gar­ten­wirt­schaft, was zum Schluss der Turn­spie­le er­laubt war, und san­gen. Die­de­rich hat­te den Platz ne­ben sei­nem Op­fer ge­sucht. Ein­mal, als aus­ge­trun­ken war, ließ er die Rech­te vom Krug her­ab auf die des an­de­ren glei­ten, sah ihm treu in die Au­gen und stimm­te in Bas­s­tö­nen, die von Ge­müt schlepp­ten, ganz al­lein an:


»Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den,
einen bes­sern findst du nit …«

Üb­ri­gens ge­nüg­te er bei zu­neh­men­der Schul­pra­xis in al­len Fä­chern, ohne in ei­nem das Maß des Ge­for­der­ten zu über­schrei­ten, oder auf der Welt ir­gen­det­was zu wis­sen, was nicht im Pen­sum vor­kam. Der deut­sche Auf­satz war ihm das Frem­des­te, und wer sich dar­in aus­zeich­ne­te, gab ihm ein un­er­klär­tes Miss­trau­en ein.

Seit sei­ner Ver­set­zung nach Pri­ma galt sei­ne Gym­na­si­al­kar­rie­re für ge­si­chert, und bei Leh­rern und Va­ter drang der Ge­dan­ke durch, er sol­le stu­die­ren. Der alte Hess­ling, der 66 und 71 durch das Bran­den­bur­ger Tor ein­ge­zo­gen war, schick­te Die­de­rich nach Ber­lin.

*

Weil er sich aus der Nähe der Fried­rich­stra­ße nicht fort­ge­trau­te, mie­te­te er sein Zim­mer dro­ben in der Tieck­stra­ße. Jetzt hat­te er nur in ge­ra­der Li­nie hin­un­ter­zu­ge­hen und konn­te die Uni­ver­si­tät nicht ver­feh­len. Er be­such­te sie, da er nichts an­de­res vor­hat­te, täg­lich zwei­mal, und in der Zwi­schen­zeit wein­te er oft vor Heim­weh. Er schrieb einen Brief an Va­ter und Mut­ter und dank­te ih­nen für sei­ne glück­li­che Kind­heit. Ohne Not ging er nur sel­ten aus. Kaum, dass er zu es­sen wag­te; er fürch­te­te, sein Geld vor dem Ende des Mo­nats aus­zu­ge­ben. Und im­mer­fort muss­te er nach der Ta­sche fas­sen, ob es noch da sei.

So ver­las­sen ihm um das Herz war, ging er doch noch im­mer nicht mit dem Brief des Va­ters in die Blü­cher­stra­ße zu Herrn Göp­pel, dem Zel­lu­lo­se­fa­bri­kan­ten, der aus Net­zig war und auch an Hess­ling lie­fer­te. Am vier­ten Sonn­tag be­sieg­te er sei­ne Scheu – und kaum wat­schel­te der ge­drun­ge­ne, ge­röte­te Mann, den er schon so oft beim Va­ter im Kon­tor ge­se­hen hat­te, auf ihn zu, da wun­der­te Die­de­rich sich schon, dass er nicht frü­her ge­kom­men sei. Herr Göp­pel frag­te gleich nach ganz Net­zig und vor al­lem nach dem al­ten Buck. Denn ob­wohl sein Kinn­bart nun auch er­graut war, hat­te er doch, wie Die­de­rich, nur, wie es schi­en, aus an­de­ren Grün­den, schon als Kna­be den al­ten Buck ver­ehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Ei­ner von de­nen, die das deut­sche Volk hoch­hal­ten soll­te, hö­her als ge­wis­se Leu­te, die im­mer al­les mit Blut und Ei­sen ku­rie­ren woll­ten und da­für der Na­ti­on rie­si­ge Rech­nun­gen schrie­ben. Der alte Buck war schon achtund­vier­zig da­bei­ge­we­sen, er war so­gar zum Tode ver­ur­teilt wor­den. »Ja, dass wir hier als freie Män­ner sit­zen kön­nen«, sag­te Herr Göp­pel, »das ver­dan­ken wir sol­chen Leu­ten wie dem al­ten Buck.« Und er öff­ne­te noch eine Fla­sche Bier. »Heu­te sol­len wir uns mit Küras­siers­tie­feln tre­ten las­sen …«

Herr Göp­pel be­kann­te sich als frei­sin­ni­ger Geg­ner Bis­marcks. Die­de­rich be­stä­tig­te al­les, was Göp­pel woll­te; er hat­te über den Kanz­ler, die Frei­heit, den jun­gen Kai­ser kei­ner­lei Mei­nung. Da aber ward er pein­lich be­rührt, denn ein jun­ges Mäd­chen war ein­ge­tre­ten, das ihm auf den ers­ten Blick durch Schön­heit und Ele­ganz gleich furcht­bar er­schi­en.

»Mei­ne Toch­ter Ag­nes«, sag­te Herr Göp­pel.

Die­de­rich stand da, in sei­nem fal­ten­rei­chen Geh­rock, als ma­ge­rer Ka­dett, und war ro­sig über­zo­gen. Das jun­ge Mäd­chen gab ihm die Hand. Sie woll­te wohl nett sein, aber was war mit ihr an­zu­fan­gen? Die­de­rich ant­wor­te­te ja, als sie frag­te, ob Ber­lin ihm ge­fal­le; und als sie frag­te, ob er schon im Thea­ter ge­we­sen sei, ant­wor­te­te er nein. Er fühl­te sich feucht vor Un­ge­müt­lich­keit und war fest über­zeugt, sein Auf­bruch sei das ein­zi­ge, wo­mit er das jun­ge Mäd­chen in­ter­es­sie­ren kön­ne. Aber wie war von hier fort­zu­kom­men? Zum Glück stell­te ein an­de­rer sich ein, ein brei­ter Mensch na­mens Mahl­mann, der mit un­ge­heu­rer Stim­me Meck­len­bur­gisch sprach, stud. ing. zu sein schi­en und bei Göp­pels Zim­mer­herr sein soll­te. Er er­in­ner­te Fräu­lein Ag­nes an einen Spa­zier­gang, den sie ver­ab­re­det hät­ten. Die­de­rich ward auf­ge­for­dert, mit­zu­kom­men. Ent­setzt schütz­te er einen Be­kann­ten vor, der drau­ßen auf ihn war­te, und mach­te sich so­fort da­von. »Gott sei Dank«, dach­te er, wäh­rend es ihm einen Stich gab, »sie hat schon einen.«

Herr Göp­pel öff­ne­te ihm im Dun­keln die Fl­ur­tür und frag­te, ob sein Freund auch Ber­lin ken­ne. Die­de­rich log, der Freund sei Ber­li­ner. »Denn wenn Sie es bei­de nicht ken­nen, kom­men Sie noch in den falschen Om­ni­bus. Sie ha­ben sich ge­wiss schon mal ver­irrt in Ber­lin.« Und als Die­de­rich es zu­gab, zeig­te Herr Göp­pel sich be­frie­digt. »Das ist nicht wie in Net­zig. Hier lau­fen Sie gleich hal­be Tage. Was glau­ben Sie wohl, wenn Sie von Ih­rer Tieck­stra­ße bis hier­her zum Hal­le­schen Tor ge­hen, dann sind Sie ja schon drei­mal durch ganz Net­zig ge­stie­gen … Na, nächs­ten Sonn­tag kom­men Sie nun aber zum Mit­ta­ges­sen!«

Die­de­rich ver­sprach es. Als es so weit war, hät­te er lie­ber ab­ge­sagt; nur aus Furcht vor sei­nem Va­ter ging er hin. Dies­mal galt es so­gar, ein Al­lein­sein mit dem Fräu­lein zu be­ste­hen. Die­de­rich tat ge­schäf­tig und als sei er nicht auf­ge­legt, sich mit ihr zu be­fas­sen. Sie woll­te wie­der vom Thea­ter an­fan­gen, aber er schnitt mit rau­er Stim­me ab: er habe für so et­was kei­ne Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr ge­sagt, Herr Hess­ling stu­die­re Che­mie?

»Ja. Das ist über­haupt die ein­zi­ge Wis­sen­schaft, die Be­rech­ti­gung hat«, be­haup­te­te Die­de­rich, ohne zu wis­sen, wie er dazu kam.

Fräu­lein Göp­pel ließ ih­ren Beu­tel fal­len; er bück­te sich so nach­läs­sig, dass sie ihn wie­der hat­te, be­vor er zur Stel­le war. Trotz­dem sag­te sie dan­ke, ganz weich, fast be­schämt – was Die­de­rich är­ger­te. »Ko­ket­te Wei­ber sind et­was Gräss­li­ches«, dach­te er. Sie such­te in ih­rem Beu­tel.

»Jetzt hab’ ich es doch ver­lo­ren. Mein eng­li­sches Pflas­ter näm­lich. Es blu­tet wie­der.«

Sie wi­ckel­te ih­ren Fin­ger aus dem Ta­schen­tuch. Er hat­te so sehr die Wei­ße des Schnees, dass Die­de­rich der Ge­dan­ke kam, das Blut, das dar­auf lag, müs­se hin­ein­si­ckern.

»Ich habe wel­ches«, sag­te er, mit ei­nem Ruck.

Er er­griff ih­ren Fin­ger, und be­vor sie das Blut weg­wi­schen konn­te, hat­te er es ab­ge­leckt.

»Was ma­chen Sie denn?«

Er war selbst er­schro­cken. Er sag­te mit streng ge­fal­te­ten Brau­en: »Oh, ich als Che­mi­ker pro­bie­re noch ganz an­de­re Sa­chen.«

Sie lä­chel­te. »Ach ja, Sie sind eine Art Dok­tor … Wie gut Sie das kön­nen«, be­merk­te sie und sah ihm beim Auf­kle­ben des Pflas­ters zu.

»So«, mach­te er ab­leh­nend, und trat zu­rück. Ihm war es schwül ge­wor­den, er dach­te: »Wenn man nur nicht im­mer ihre Haut an­fas­sen müss­te! Sie ist wi­der­lich weich.« Ag­nes sah an ihm vor­bei. Nach ei­ner Pau­se ver­such­te sie: »Ha­ben wir nicht ei­gent­lich in Net­zig ge­mein­schaft­li­che Ver­wand­te?« Und sie nö­tig­te ihn, mit ihr ein paar Fa­mi­li­en durch­zu­ge­hen. Es stell­te sich Vet­tern­schaft her­aus.

»Sie ha­ben auch noch Ihre Mut­ter, nicht? Dann kön­nen Sie sich freu­en. Mei­ne ist längst tot. Ich wer­de wohl auch nicht lan­ge le­ben. Man hat so Ah­nun­gen« – und sie lä­chel­te weh­mü­tig und ent­schul­di­gend.

Die­de­rich be­schloss schwei­gend, die­se Sen­ti­men­ta­li­tät al­bern zu fin­den. Noch eine Pau­se – und wie sie bei­de ei­lig zum Spre­chen an­setz­ten, kam der Meck­len­bur­ger da­zwi­schen. Die Hand Die­de­richs drück­te er so kraft­voll, dass Die­de­richs Ge­sicht sich ver­zerr­te, und zu­gleich lä­chel­te er ihm sieg­haft in die Au­gen. Ohne wei­te­res zog er einen Stuhl bis vor Ag­nes’ Knie und frag­te hei­ter und mit Au­to­ri­tät nach al­lem Mög­li­chen, was nur sie bei­de an­ging. Die­de­rich war sich selbst über­las­sen und ent­deck­te, dass Ag­nes, so in Ruhe be­trach­tet, viel von ih­ren Schre­cken ver­lor. Ei­gent­lich war sie nicht hübsch. Sie hat­te eine zu klei­ne, nach in­nen ge­bo­ge­ne Nase, auf de­ren frei­lich sehr schma­lem Rücken Som­mer­spros­sen sa­ßen. Ihre gelb­brau­nen Au­gen la­gen zu nahe bei­ein­an­der und zuck­ten, wenn sie einen an­sah. Die Lip­pen wa­ren zu schmal, das gan­ze Ge­sicht war zu schmal. »Wenn sie nicht so viel braun­ro­tes Haar über der Stirn hät­te und dazu den wei­ßen Teint …« Auch be­rei­te­te es ihm Ge­nug­tu­ung, dass der Na­gel des Fin­gers, den er be­leckt hat­te, nicht ganz sau­ber ge­we­sen war.

Herr Göp­pel kam mit sei­nen drei Schwes­tern. Eine von ih­nen hat­te Mann und Kin­der mit. Der Va­ter und die Tan­ten um­arm­ten und küss­ten Ag­nes. Sie ta­ten es mit dring­li­cher In­nig­keit und hat­ten da­bei be­hut­sa­me Mie­nen. Das jun­ge Mäd­chen war schlan­ker und grö­ßer als sie alle und blick­te ein we­nig zer­streut auf sie hin­ab, die eben an ih­ren schmäch­ti­gen Schul­tern hing. Nur ih­rem Va­ter er­wi­der­te sie lang­sam und ernst sei­nen Kuss. Die­de­rich sah dem zu und sah in der Son­ne die hell­blau­en Adern, über­zo­gen von ro­ten Haa­ren, ihre Schlä­fe kreu­zen.

Er muss­te eine der Tan­ten ins Ess­zim­mer füh­ren. Der Meck­len­bur­ger hat­te Ag­nes’ Arm in den sei­nen ge­hängt. Um den lan­gen Fa­mi­li­en­tisch ra­schel­ten die sei­de­nen Sonn­tags­klei­der. Die Gehrö­cke wur­den über den Kni­en zu­sam­men­ge­legt. Man räus­per­te sich, die Her­ren rie­ben die Hän­de. Dann kam die Sup­pe.

Die­de­rich saß von Ag­nes weit weg und konn­te sie nicht se­hen, wenn er sich nicht vor­beug­te – was er sorg­fäl­tig ver­mied. Da sei­ne Nach­ba­rin ihn in Ruhe ließ, aß er große Men­gen Kalbs­bra­ten und Blu­men­kohl. Er hör­te aus­führ­lich das Es­sen be­spre­chen und muss­te be­stä­ti­gen, dass es schön schme­cke. Ag­nes ward vor dem Salat ge­warnt, ihr ward zu Rot­wein ge­ra­ten, und sie soll­te Aus­kunft ge­ben, ob sie heu­te Mor­gen Gum­mi­schu­he an­ge­habt habe. Herr Göp­pel er­zähl­te, Die­de­rich zu­ge­wandt, dass er und sei­ne Schwes­tern vor­hin in der Fried­rich­stra­ße, weiß Gott, aus­ein­an­der ge­kom­men sei­en und sich erst im Om­ni­bus wie­der­ge­fun­den hät­ten. »So et­was kann Ih­nen in Net­zig auch nicht pas­sie­ren«, rief er voll Stolz über den Tisch. Mahl­mann und Ag­nes spra­chen von ei­nem Kon­zert. Sie woll­te be­stimmt hin, ihr Papa wer­de es schon er­lau­ben. Herr Göp­pel mach­te zärt­li­che Ein­wän­de, und der Chor der Tan­ten be­glei­te­te sie. Ag­nes müs­se früh schla­fen ge­hen und bald in gute Luft hin­aus; sie habe sich im Win­ter über­an­strengt. Sie be­stritt es. »Ihr lasst mich nie­mals aus dem Hau­se. Ihr seid schreck­lich.«

Die­de­rich nahm in­ner­lich Par­tei für sie. Er hat­te eine Wal­lung von Hel­den­tum: er hät­te ma­chen wol­len, dass sie al­les dürf­te, dass sie glück­lich war und es ihm dank­te … Da frag­te Herr Göp­pel ihn, ob er in das Kon­zert wol­le. »Ich weiß nicht«, sag­te er ver­ächt­lich und sah Ag­nes an, die sich vor­beug­te. »Was ist das für eins? Ich gehe nur in Kon­zer­te, wo ich Bier trin­ken kann.«

»Sehr ver­nünf­tig«, sag­te der Schwa­ger des Herrn Göp­pel.

Ag­nes hat­te sich zu­rück­ge­zo­gen, und Die­de­rich be­reu­te sei­nen Auss­pruch.

Aber die Cre­me, auf die alle ge­spannt wa­ren, blieb aus. Herr Göp­pel riet sei­ner Toch­ter, ein­mal nach­zu­se­hen. Be­vor sie ih­ren Kom­pot­tel­ler hin­ge­setzt hat­te, war Die­de­rich auf­ge­sprun­gen – sein Stuhl flog an die Wand – und fes­ten Schritts zur Tür ge­eilt. »Ma­rie! Der Krehm!« rief er hin­aus. Rot und ohne je­mand an­zu­se­hen, ging er wie­der an sei­nen Platz. Aber er merk­te ganz gut, sie blin­zel­ten sich zu. Mahl­mann stieß so­gar höh­nisch den Atem aus. Der Schwa­ger äu­ßer­te mit künst­li­cher Harm­lo­sig­keit: »Im­mer ga­lant! So soll es sein.« Herr Göp­pel lä­chel­te zärt­lich zu Ag­nes hin, die nicht von ih­rem Kom­pott auf­sah. Die­de­rich stemm­te das Knie ge­gen die Tisch­plat­te, dass sie an­fing sich zu he­ben. Er dach­te: »Gott, o Gott, hät­te ich nur das nicht ge­tan!«

Beim Mahl­zeit­sa­gen gab er al­len die Hand, nur um Ag­nes drück­te er sich her­um. Im Ber­li­ner Zim­mer beim Kaf­fee wähl­te er sei­nen Sitz mit Sorg­falt dort, wo Mahl­manns brei­ter Rücken sie ihm ver­deck­te. Eine der Tan­ten woll­te sich sei­ner an­neh­men.

»Was stu­die­ren Sie denn, jun­ger Mann?« frag­te sie.

»Che­mie.«

»Ach so, Phy­sik?«

»Nein, Che­mie.«

»Ach so.«

Und so im­po­sant sie an­ge­fan­gen hat­te, hier­über kam sie nicht hin­weg. Die­de­rich nann­te sie im Stil­len eine dum­me Gans. Die gan­ze Ge­sell­schaft pass­te ihm nicht. Von feind­se­li­ger Schwer­mut er­füllt, sah er dar­ein, bis die letz­ten Ver­wand­ten auf­ge­bro­chen wa­ren. Ag­nes und ihr Va­ter hat­ten sie hin­aus­be­glei­tet. Herr Göp­pel kehr­te zu­rück, er­staunt, den jun­gen Mann al­lein noch im Zim­mer zu fin­den. Er schwieg for­schend, ein­mal fass­te er in die Ta­sche. Als Die­de­rich un­ver­mit­telt, ohne um Geld ge­be­ten zu ha­ben, Ab­schied nahm, be­kun­de­te Göp­pel große Herz­lich­keit. »Mei­ne Toch­ter werd’ ich von Ih­nen grü­ßen«, sag­te er so­gar, und an der Tür, nach­dem er ein we­nig über­legt hat­te: »Kom­men Sie doch nächs­ten Sonn­tag wie­der!«

Die­de­rich war fest ent­schlos­sen, das Haus nicht mehr zu be­tre­ten. Den­noch ließ er tags dar­auf al­les ste­hen und lie­gen, um sich durch die Stadt bis zu ei­nem Ge­schäft zu fra­gen, wo er für Ag­nes das Kon­zert­bil­lett kau­fen konn­te. Vor­her muss­te er auf den Zet­teln, die dort hin­gen, den Na­men des Vir­tuo­sen her­aus­fin­den, den Ag­nes er­wähnt hat­te. War es der? Hat­te er so ge­klun­gen? Die­de­rich ent­schloss sich. Als er dann er­fuhr, es kos­te vier Mark fünf­zig, riss er vor Schre­cken die Au­gen weit auf. So viel Geld, um einen zu se­hen, der Mu­sik mach­te! Wenn man nur ein­fach wie­der fort­ge­konnt hät­te! Als er be­zahlt hat­te und drau­ßen war, ent­rüs­te­te er sich zu­nächst über den Schwin­del. Dann be­dach­te er, dass es für Ag­nes ge­sche­hen sei, und ward von sich selbst er­schüt­tert. Im­mer wei­cher und glück­li­cher ging er durch das Ge­wühl. Es war das ers­te Geld, das er für einen an­de­ren Men­schen aus­ge­ge­ben hat­te.

Er leg­te das Bil­lett in einen Um­schlag, in den er nichts wei­ter leg­te, und schrieb die Adres­se, um sich nicht zu ver­ra­ten, mit Schön­schrift. Wie er dann am Brief­kas­ten stand, kam Mahl­mann da­her und lach­te höh­nisch. Die­de­rich fühl­te sich durch­schaut; er be­sah die Hand, die er aus dem Kas­ten zu­rück­ge­zo­gen hat­te. Aber Mahl­mann be­kun­de­te nur die Ab­sicht, sich Die­de­richs Bude an­zu­se­hen. Er fand, es sähe drin­nen aus wie bei ei­ner äl­te­ren Dame. So­gar die Kaf­fee­kan­ne hat­te Die­de­rich von zu Hau­se mit­ge­bracht! Die­de­rich schäm­te sich heiß. Als Mahl­mann die Che­mie­bü­cher ver­ächt­lich auf- und zu­klapp­te, schäm­te Die­de­rich sich sei­nes Fa­ches. Der Meck­len­bur­ger wälz­te sich ins Sofa und frag­te: »Wie ge­fällt Ih­nen denn die Göp­pel? Net­ter Kä­fer, was? Nun wird er wie­der rot! Pous­sie­ren Sie doch! Ich tre­te zu­rück, wenn Sie Wert dar­auf le­gen. Ich habe Aus­sicht bei fünf­zehn ver­schie­de­nen.«

Da Die­de­rich nach­läs­sig ab­wehr­te:

»Sie, da ist näm­lich was zu ma­chen. Ich müss­te gar nichts von Wei­bern ver­ste­hen. Die ro­ten Haa­re! – und ha­ben Sie nicht ge­merkt, wie sie einen an­sieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?«

»Mich nicht«, sag­te Die­de­rich noch ge­ring­schät­zi­ger. »Ich pfei­fe auch dar­auf.«

»Ihr Scha­de!« Mahl­mann lach­te to­bend – wor­auf er vor­schlug, einen Bum­mel zu ma­chen. Daraus wur­de eine Bier­rei­se. Die ers­ten Gas­lich­ter sa­hen sie bei­de be­trun­ken. Et­was spä­ter, in der Leip­zi­ger Stra­ße, be­kam Die­de­rich ohne An­lass von Mahl­mann eine mäch­ti­ge Ohr­fei­ge. Er sag­te: »Au! Das ist aber doch eine –« Vor dem Wort »Frech­heit« schrak er zu­rück. Der Meck­len­bur­ger klopf­te ihm auf die Schul­ter. »Recht freund­lich, Klei­ner! Al­les bloß Freund­schaft!« – und über­dies nahm er Die­de­rich die letz­ten zehn Mark ab … Vier Tage spä­ter fand er ihn schwach vor Hun­ger und teil­te ihm von dem, was er in­zwi­schen an­ders­wo ge­pumpt hat­te, groß­mü­tig drei Mark mit. Am Sonn­tag bei Göp­pels – mit we­ni­ger lee­rem Ma­gen wäre Die­de­rich viel­leicht nicht hin­ge­gan­gen – er­zähl­te Mahl­mann, dass Hess­ling all sein Geld ver­lumpt habe und sich heu­te mal satt es­sen müs­se. Herr Göp­pel und sein Schwa­ger lach­ten ver­ständ­nis­voll, aber Die­de­rich hät­te lie­ber nie ge­bo­ren sein wol­len, als von Ag­nes so trau­rig prü­fend an­ge­se­hen wer­den. Sie ver­ach­te­te ihn! Verzwei­felt trös­te­te er sich: »Es ist al­les eins, sie hat es schon im­mer ge­tan!« Da frag­te sie, ob das Kon­zert­bil­lett viel­leicht von ihm ge­we­sen sei. Alle wand­ten sich ihm zu.

»Un­sinn! Wie soll­te ich dazu wohl kom­men«, ent­geg­ne­te er so un­lie­bens­wür­dig, dass sie ihm glaub­ten. Ag­nes zö­ger­te ein we­nig, be­vor sie weg­sah. Mahl­mann bot den Da­men Pra­linés an und stell­te die üb­ri­gen vor Ag­nes hin. Die­de­rich küm­mer­te sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vo­ri­ge Mal. Da doch alle mein­ten, er sei nur des­we­gen da! Als es hieß, der Kaf­fee sol­le im Gru­ne­wald ge­trun­ken wer­den, er­fand Die­de­rich so­fort eine Verab­re­dung. Er setz­te so­gar hin­zu: »Mit je­mand, den ich un­mög­lich war­ten las­sen kann.« Herr Göp­pel leg­te ihm sei­ne ge­drun­ge­ne Hand auf die Schul­ter, blin­zel­te ihn aus ge­senk­tem Kopf an und sag­te halb­laut: »Kei­ne Angst, Sie sind na­tür­lich ein­ge­la­den!« Aber Die­de­rich be­teu­er­te ent­rüs­tet, dass es nicht dar­an lie­ge. »Na, we­nigs­tens kom­men Sie wie­der, so­bald Sie Lust ha­ben«, schloss Göp­pel, und Ag­nes nick­te dazu. Sie schi­en so­gar et­was sa­gen zu wol­len, aber Die­de­rich war­te­te es nicht ab. Er ging den Rest des Ta­ges in selbst­zu­frie­de­ner Trau­er um­her, wie nach Voll­zie­hung ei­nes großen Op­fers. Am Abend in ei­nem über­füll­ten Bier­lo­kal saß er, den Kopf auf­ge­stützt, und nick­te von Zeit zu Zeit auf sein ein­sa­mes Glas hin­ab, als ver­ste­he er jetzt das Schick­sal.

Was war zu ma­chen ge­gen die ge­walt­tä­ti­ge Art, in der Mahl­mann sei­ne An­lei­hen auf­nahm? Am Sonn­tag hat­te dann der Meck­len­bur­ger einen Blu­men­strauß für Ag­nes, und Die­de­rich, der mit lee­ren Hän­den kam, hät­te sa­gen kön­nen: »Der ist ei­gent­lich von mir, Fräu­lein.« In­des­sen schwieg er, mit noch mehr Groll ge­gen Ag­nes als ge­gen Mahl­mann. Denn Mahl­mann for­der­te zur Be­wun­de­rung her­aus, wenn er des Nachts ei­nem Un­be­kann­ten nach­lief, um ihm den Zy­lin­der ein­zu­schla­gen – ob­wohl Die­de­rich kei­nes­wegs die War­nung ver­kann­te, die solch ein Vor­gang für ihn selbst ent­hielt.

Ende des Mo­nats, zu sei­nem Ge­burts­tag, be­kam er eine un­vor­her­ge­se­he­ne Sum­me, die sei­ne Mut­ter ihm er­spart hat­te, und er­schi­en bei Göp­pels mit ei­nem Bou­quet, kei­nem zu großen, um sich nicht bloß­zu­stel­len, und auch, um Mahl­mann nicht her­aus­zu­for­dern. Das jun­ge Mäd­chen hat­te, wie sie es nahm, ein er­grif­fe­nes Ge­sicht; und Die­de­rich lä­chel­te her­ab­las­send und ver­le­gen zu­gleich. Die­ser Sonn­tag deuch­te ihm un­er­hört fest­lich; er war nicht über­rascht, als man in den Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­hen woll­te.

Die Ge­sell­schaft rück­te aus, nach­dem Mahl­mann sie ab­ge­zählt hat­te: elf Per­so­nen. Alle Frau­en un­ter­wegs wa­ren, wie Göp­pels Schwes­tern, voll­stän­dig an­ders an­ge­zo­gen als in der Wo­che: als sei­en sie heu­te von ei­ner hö­he­ren Klas­se oder hät­ten ge­erbt. Die Män­ner tru­gen Gehrö­cke: nur we­ni­ge in Ver­bin­dung mit schwar­zen Ho­sen, wie Die­de­rich, aber vie­le mit Stroh­hü­ten. Kam man durch eine Sei­ten­stra­ße, war sie breit, gleich­för­mig und leer, ohne einen Men­schen, ohne einen Pfer­de­ap­fel. Ein­mal doch tanz­te ein Kreis klei­ner Mäd­chen in wei­ßen Klei­dern, schwar­zen St­rümp­fen und ganz be­han­gen mit Schlei­fen, schrill sin­gend, einen Rin­gel­rei­hen. Gleich dar­auf, in der Ver­kehrs­ader, stürm­ten schwit­zen­de Ma­tro­nen einen Om­ni­bus; und die Ge­sich­ter der Kom­mis,2 die un­nach­sicht­lich mit ih­nen um die Plät­ze ran­gen, sa­hen ne­ben ih­ren hef­tig ro­ten zum Um­fal­len blass aus. Al­les dräng­te vor­wärts, al­les stürz­te ei­nem Ziel zu, wo end­lich das Ver­gnü­gen an­fan­gen soll­te. Alle Mie­nen sag­ten hart: »Nu los, ge­ar­bei­tet ha­ben wir ge­nug!«

Die­de­rich kehr­te vor den Da­men den Ber­li­ner her­aus. In der Stadt­bahn er­ober­te er ih­nen meh­re­re Sit­ze. Ei­nen Herrn, der im Be­griff stand, einen weg­zu­neh­men, hin­der­te er dar­an, in­dem er ihn hef­tig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: »Fle­gel!« Die­de­rich ant­wor­te­te ihm im sel­ben Sinn. Da zeig­te es sich, dass Herr Göp­pel ihn kann­te – und kaum ein­an­der vor­ge­stellt, be­kun­de­ten Die­de­rich und der an­de­re die rit­ter­lichs­ten Sit­ten. Kei­ner woll­te sit­zen, um den an­de­ren nicht ste­hen zu las­sen.

Am Tisch im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­riet Die­de­rich ne­ben Ag­nes – warum ging heu­te al­les glück­lich? –, und als sie gleich nach dem Kaf­fee zu den Tie­ren woll­te, un­ter­stütz­te er sie stür­misch. Er war voll Un­ter­neh­mungs­lust. Vor dem en­gen Gang zwi­schen den Raub­tier­kä­fi­gen kehr­ten die Da­men um. Die­de­rich trug Ag­nes sei­ne Beglei­tung an. »Da neh­men Sie doch lie­ber mich mit hin­ein«, sag­te Mahl­mann. »Wenn wirk­lich eine Stan­ge los­ge­hen soll­te –«

»Dann ma­chen Sie sie auch nicht wie­der fest«, ent­geg­ne­te Ag­nes und trat ein, wäh­rend Mahl­mann sein Ge­läch­ter auf­schlug. Die­de­rich blieb hin­ter ihr. Ihm war ban­ge: vor den Bes­ti­en, die von rechts und links auf ihn zu­stürz­ten, ohne an­de­ren Laut als den des Atems, den sie über ihn hin­s­tie­ßen – und vor dem jun­gen Mäd­chen, des­sen Blu­men­duft ihm vor­an­zog. Ganz hin­ten wand­te sie sich um und sag­te:

»Ich mag das Re­nom­mie­ren nicht!«

»Wirk­lich?« frag­te Die­de­rich, vor Freu­de ge­rührt.

»Heu­te sind Sie mal nett«, sag­te Ag­nes; und er:

»Ich möch­te es ei­gent­lich im­mer sein.«

»Wirk­lich?« – Und jetzt war es an ih­rer Stim­me, ein we­nig zu schwan­ken. Sie sa­hen ein­an­der an, je­der mit ei­ner Mie­ne, als ver­dien­te er das al­les nicht. Das jun­ge Mäd­chen sag­te kla­gend:

»Die Tie­re rie­chen aber furcht­bar.«

Und sie gin­gen zu­rück.

Mahl­mann emp­fing sie. »Ich woll­te nur se­hen, ob Sie nicht aus­rei­ßen wür­den.« Dann nahm er Die­de­rich bei­sei­te. »Na? Was macht die Klei­ne? Geht es bei Ih­nen auch? Ich hab’ es gleich ge­sagt, dass es kei­ne Kunst ist.«

Da Die­de­rich stumm blieb:

»Sie sind wohl scharf ins Zeug ge­gan­gen? Wis­sen Sie was? Ich bin nur noch ein Se­mes­ter in Ber­lin; dann kön­nen Sie mich be­er­ben. Aber so lan­ge war­ten Sie ge­fäl­ligst –« Auf sei­nem un­ge­heu­ren Rumpf ward sein klei­ner Kopf plötz­lich tückisch an­zu­se­hen. »– Freund­chen!«

Und Die­de­rich war ent­las­sen. Er hat­te einen hef­ti­gen Schre­cken be­kom­men und wag­te sich gar nicht mehr in Ag­nes’ Nähe. Sie hör­te nicht sehr auf­merk­sam auf Mahl­mann, sie rief rück­wärts: »Papa! Heu­te ist es schön, heu­te geht es mir aber wirk­lich gut.«

Herr Göp­pel nahm ih­ren Arm zwi­schen sei­ne bei­den Hän­de und tat, als woll­te er fest zu­drücken, aber er be­rühr­te sie kaum. Sei­ne blan­ken Au­gen lach­ten und wa­ren feucht. Als die Fa­mi­lie Ab­schied ge­nom­men hat­te, ver­sam­mel­te er sei­ne Toch­ter und die bei­den jun­gen Leu­te um sich und er­klär­te ih­nen, der Tag müs­se ge­fei­ert wer­den; sie woll­ten die Lin­den ent­lang­ge­hen und nach­her ir­gend­wo es­sen.

»Papa wird leicht­sin­nig!« rief Ag­nes und sah sich nach Die­de­rich um. Aber er hielt die Au­gen ge­senkt. In der Stadt­bahn be­nahm er sich so un­ge­schickt, dass er weit von den an­de­ren ge­trennt ward; und im Ge­drän­ge der Fried­rich­stadt blieb er mit Herrn Göp­pel al­lein zu­rück. Plötz­lich hielt Göp­pel an, tas­te­te ver­stört auf sei­nem Ma­gen um­her und frag­te:

»Wo ist mei­ne Uhr?«

Sie war fort mit­samt der Ket­te. Mahl­mann sag­te:

»Wie lan­­­