Lisa kann keine Kinder bekommen, wird verlassen, rastet aus. Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen, dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens. Barbara ist verloren seit sie Witwe geworden ist, ein kleiner Hund hilft. Verena erbt eine Luxusvilla mit Seeblick, sie steigt auf. Jolie wird entlassen und schwanger. Petra findet die Liebe und zieht um. Tina hat große Angst und trifft eine Entscheidung.

In ihrem zweiten Roman feiert Jovana Reisinger die Frauen, die sie nach Frauenzeitschriften benennt. Sie zeigt auf, welchen Rollenzwängen und welcher Gewalt Frauen in unserer Gesellschaft unterworfen sind. Und es werden Tipps, Tricks und Geschlechterstereotype verhandelt. Es ist ein Text über weibliche Wut und Ausdauer mit teils bösem Humor, der jedoch nie seine Protagonistinnen verurteilt.

Jovana Reisinger, geboren 1989 in München, aufgewachsen in Üsterreich, ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Sie studierte Kommunikationsdesign, Drehbuch und Dokumentarfilmregie. Für ihren Debütroman »Still halten« (2017) erhielt sie den Bayern 2-Wortspiele-Preis. Für den Kurzfilm »pretty boyz don’t die« wurde sie mit dem ZONTA-Preis der Festspielleitung der Oberhausener Kurzfilmtage (2017) ausgezeichnet und für »pretty girls don’t lie« mit dem STARTER Filmpreis der Stadt München (2018). Seit Juni 2020 verantwortet Jovana Reisinger die Kolumne »Bleeding Love« bei VOGUE online. Sie lebt und arbeitet in München.

JOVANA REISINGER

SPITZEN REITER INNEN

ROMAN

14. FEBRUAR

LAURAist erleichtert.

PETRAmuss ihr Leben ändern.

BARBARAtrifft Gloria.

LISAfeiert Geburtstag.

TINAisst zum ersten Mal Austern.

8. MÄRZ

LISAlebt jetzt allein.

PETRAkündigt.

BARBARAträgt Trainingsanzug.

EMMAserviert den Kaffee.

JOLIEprotestiert.

LAURAsetzt auf den Jungfrauen-Effekt.

VERENAerbt.

TINAschläft früh.

15. APRIL

PETRAfährt Zug.

BRIGITTEbraucht Komfort.

VERENAliegt in der Sonne.

LAURAtelefoniert.

LISAgeht joggen.

TINAgeht zum Imbiss.

BARBARAist einsam.

10. MAI

BARBARAtrifft eine Entscheidung.

TINAlebt sich ein.

JOLIEwird entlassen.

LAURAorganisiert eine Party.

VERENAbesucht eine Party.

BRIGITTEisst einen Eisbecher.

LISAgeht schick essen.

21. JUNI

TINAwird überrascht.

PETRAverkündet Neuigkeiten.

BARBARAentspannt sich.

LISAzieht einen Schlussstrich.

VERENAlässt sich zurecht machen.

LAURAtraut sich.

14. FEBRUAR

LAURA

Laura kann ihr Glück kaum fassen. Sie bekam heute zum Mittag nicht nur ein Drei-Gänge-Menü mitsamt Dessert, sondern auch den Heiratsantrag, den sie sich immer gewünscht hat. Mit einem Diamantring in einer dunkelblauen Samtschachtel und einem Glas Champagner und einem Strauß Rosen und einem Mann auf Knien und anschließendem Applaus von Fremden.

Dabei wurde sie von einer Kellnerin gefilmt, damit sie ein Video hat, das sie immer wieder anschauen und herzeigen kann. Denn so ein Moment ist einzigartig, dafür wurden Smartphones erfunden. Laura hatte also, nachdem sie die wichtigste Frage im Leben vernommen hatte, die Hände vors Gesicht gehalten und gestrahlt, und es liefen ihr mindestens zwei Tränen über die Wangen. Eigentlich schon vor der Frage. Die Samtschachtel hatte genügt, in ihr alle Dämme zum Brechen zu bringen. Sie wusste schließlich, wie das läuft. Alle Frauen wissen das. Alle Frauen haben das schon so oft gesehen. Schon so oft mit anschauen müssen. Frauen haben die Prozedur internalisiert und erkennen frühzeitig die Zeichen. Sie wissen, was geschieht und wie eine sich zu verhalten hat in so einer Situation. Das Kramen in der Tasche, Schmuckschachtel, freudestrahlender Mensch, der die Schmuckschachtel hält, ein Kniefall und schwups: verlobt.

Jetzt sitzt Laura in einem Café und erzählt ihrer besten Freundin Verena davon, die artig nickt und die Hand auf ihrem Knie ablegt und monoton über eine Stelle streichelt. Beide Frauen strahlen sich an.

Was bedeutet das, fragt sich Verena, bin ich unfähig, mich an eine Person zu binden, um es auch mal schön zu haben? Sie kriegt wieder alles, was sie will. Und ich kriege nichts. Jetzt hat sie einen Mann. Unfair! Klammheimlich wird Verena von gewaltigen Gefühlen übermannt. Sie ist geübt darin, diese nicht zu zeigen. Es muss ja nicht jeder wissen, was im Inneren so los ist.

Verena nippt an ihrem Glas, während Laura von Kleidern plaudert und schon Termine arrangiert. Verena zermartert sich hinter ihrer rosigen Fassade das Hirn. Das ist eine Niederlage. Laura gewinnt im Frauengame. So ein Debakel muss mit Fassung getragen werden. Würdevoll nimmt Verena noch einen großen Schluck und schenkt sich nach. Beide wissen in diesem Moment: Laura wird es jetzt schön haben. Noch schöner als ohnehin schon. Beide haben Tränen in den Augen.

Verena greift nach dem Glas, will den Kloß im Hals hinunterschlucken und prustet stattdessen drauf los. Dabei spuckt sie ihrer besten Freundin ins Gesicht. Schnell lachen, einen Witz aus eigenem Scheitern machen, weil es dann erträglicher ist. Gemeinsam über das Unvermögen gackern. Wer will gerade jetzt eine traurige beste Freundin haben? Außerdem sind weinende Frauen in der Öffentlichkeit kein Augenschmaus. Welche weinende Frau sieht denn bitte schön und begehrenswert aus? Und begehrenswert wär Verena gern. Muss sie sein. Schließlich lacht sie ihrer eigenen erfüllten Zukunft nicht eben entgegen.

»Also doch ein Happy End!«

»Gerade noch, würde ich sagen. Schließlich wirst du dieses Jahr fünfunddreißig!«

»Ich werde siebenunddreißig.«

»Wir werden noch mal fünfunddreißig.«

»Hochzeit zehn Jahre später als geplant. Mehr Prosecco?«

»Ja. Den Schampus kann sich nur dein Mann leisten.«

»Wie das klingt, hihi, mein Mann.«

»Ja, gewöhn dich dran. Du hast jetzt einen Mann. Und du bist seine Frau. Da kommen jetzt alle niederen Besitzansprüche hoch! Gehörst jetzt ihm. Er gehört dir. So schön. Wo ist der überhaupt?«

»Termin. Notfall. Irgendwas musste sofort erledigt werden. Kaum waren wir verlobt, Telefonterror. Typisch. Aber ich hab ja auch noch dich. Du rennst mir ja nicht davon.«

»Eher nicht.«

»Eben.«

»Na, er wird’s schon wieder gut machen.«

»Oh, ihm fällt bestimmt was ein.«

»Ist er gut im Sich-entschuldigen?«

»Bisher schon.«

Beide kichern, und obwohl keine so genau weiß, worüber, werden sie lauter, bis die anderen Gäste verstummen und irritiert herüberschauen. Für andere Gäste haben sie allerdings keine Zeit. Laura betrachtet den Ring an ihrem Finger. Verena betrachtet den Ring an Lauras Finger und dazu ihre eigenen Hände. Beide Frauen sind gleich alt, sie gingen auf das gleiche Gymnasium, studierten in der Hauptstadt, sind zurück in die heimatliche, gemütliche, niederbayerische Kleinstadt gekommen, um dort in den Büros zu arbeiten, die ihre Eltern aufgebaut hatten. Sie hatten die gleichen Startvoraussetzungen und große Hoffnungen. Eine von ihnen hat jetzt zumindest einen Mann. So hatten sie sich das nicht vorgestellt.

Laura fühlt sich erlöst. Laura schaut in eine neue Zukunft. In eine schöne. Eigenheim, Ehemann, Erbe.

Verena stürzt das nächste Glas. Hilft jetzt alles nichts. Das Leben geht schließlich weiter. »Mehr Prosecco bitte. Ja, noch eine Flasche!«

Andere Gäste schütteln die Köpfe. Ihnen fehlt das Gespür für die Besonderheit dieses Moments. Schade. Gemeinsam feiert es sich noch schöner. Sich für andere freuen können ist eine erstrebenswerte Eigenschaft.

Laura lädt ein Foto von ihrem Ringfinger bei Instagram hoch. Die Likes prasseln darauf wie ein Unwetter.

Verena aktualisiert ihr Tinder-Profil. Irgendeinen muss es hier doch noch für sie geben. Denn darum geht es schließlich. Einen finden, einen behalten und ihn hoffentlich überleben.

PETRA

Petra weiß, was jetzt kommt. Dafür braucht sie keine weibliche Intuition. Lediglich eine Uhr.

Werktags, früher Nachmittag.

Da stolzieren die Männer nach ihrer Mittagspause durch die große Stahltür, mitten hinein in die Galerie, an deren Empfang sie sitzt, und fordern ihre Pakete und ihre Post. Weil Petra arbeitet nicht nur in einer der angesagtesten Galerien der Stadt, sie ist auch so etwas wie die Postdame der Männer oben drüber. Quasi ihre private Zustellerin. In etwa so etwas wie eine Assistentin. Eine Regelung, die weit vor Petras Einstellung geschaffen wurde. Die wohl so lange bestehen wird, bis es entweder die Galerie oder das Designbüro im Dachboden nicht mehr geben wird. Wenn sie besonders guter Laune sind, fordern die Männer eine Privatführung – mit Augenzwinkern, versteht sich. Petra wird dafür bezahlt, freundlich zu sein. Manchmal muss sie an ihrer Attitüde arbeiten. Das fällt aber nur anderen Leuten auf. Die helfen ihr dann, ihr Benehmen zu korrigieren.

Da sitzt sie also, mit dem letzten Rest Rohkostsalat und ihrer angebissenen Vollkornsemmel und wartet. Eine wartende Frau. Doch worauf wartet sie? Sie wartet darauf, mit unmöglichen Männern in einen unmöglichen Dialog zu treten, tagein, tagaus. Eine ewige Wiederholung, bis es irgendwem irgendwann zu öde wird. Petra wird nicht dafür bezahlt, solche Begegnungen zu hinterfragen, sie wird dafür bezahlt, solche Begegnungen stattfinden zu lassen. Und das ist hier schließlich ein Begegnungsraum. Kunst bringt die Leute zusammen.

14 Uhr. Jetzt wird’s Zeit. Sie schlägt ihr Buch auf und ihr MacBook zu. Überlegt. Vielleicht wäre es schlauer, das Buch zuzuschlagen und das MacBook auf, um Gespräche über das Buch zu vermeiden. Ein prüfender Blick in den Innenhof. Andererseits, es spielt schon gar keine Rolle mehr, was sie anhat, was sie in der Hand hält, was sie in der Galerie zeigen, was die Welt sonst so hergibt, die Typen finden immer was. Vorkehrungen treffen. Maßnahmen im Vorhinein ergreifen, damit es nicht so schlimm wird. Das wurde ihr ebenfalls beigebracht. Was getan werden muss, damit nichts passiert. Oder: Was getan werden muss, damit möglichst wenig passiert. Dass irgendwann etwas passiert, ist schließlich Voraussetzung für das Leben als Frau. Tragisch. Aber so ist das. Frauen wissen bereits als Mädchen, dass es anstrengend wird. Schulterzuckend schaut Petra durch die großen Fenster. Zumindest ein paar Vögelchen tollen davor herum.

»Nicht einmal ignorieren«, findet Petras Mutter. »Die spür’n halt, dass du lesbisch bist, das regt die auf. Madl, Männer sind so. Du bist so fesch, die können das nicht verkraften.« Wenn Petras Mutter so etwas sagt, stutzt sie zugleich über die Unwissenheit ihrer Tochter. »Was regen sich die jungen Frauen immer so auf?«, murmelt sie in ihrem bayerischen Dialekt und schüttelt amüsiert den Kopf. »Warum regst dich überhaupt so auf? Freu dich doch über die Aufmerksamkeit! Ist nicht das Schlechteste! So ein Flirt am Arbeitsplatz? Ich werd schließlich nicht angeflirtet. Schau, wie traurig ist das bitte!«

Dann lachen sie beide. Den Schmerz weglachen. Die Enttäuschung. Die Zumutung. Wie oft haben Elle und Petra schon so miteinander gelacht? Es wurde zu ihrer praktischen Methode. Ein Allheilmittel. Damit lässt sich tagtäglich der nackte Mann im angrenzenden Garten weglachen, der Elle beim Gärtnern beobachtet und gleichzeitig die Hilflosigkeit der betrachteten Gärtnerin. Lachen ist die beste Medizin, sagt Elle. Und Petra weiß, das stimmt.

14:15 Uhr. Petra sitzt wie auf heißen Kohlen. »Auf heißen Kohlen sitzen« ist so ein Satz, den ihre Tante gerne sagt. Tatsächlich sitzt sie auf einem Ikea-Stuhl der nach Eames aussehen soll. Billige Kopie. Sonderpreis.

»Kann ja nicht jeder auf Vitra sitzen, nicht wahr?«, sagte die Chefin, als sie die Stühle hereinbringen ließ.

»Nein, das geht nicht«, stimmte Petra zu.

Auf einem echten Designklassiker sitzt hier nur die Chefin. Das muss sich so eine Galerie nämlich erstmal leisten können. Das Telefon läutet. Jemand erkundigt sich nach den Öffnungszeiten. Petra gibt Auskunft.

Die Kohlen werden heißer. Diese Männer kann Petra nicht so einfach wegkichern. Weglachen fällt ihr schwerer, wenn ihre Mutter nicht dabei ist. Die fängt schließlich immer als Erste an, lauthals zu lachen, und ist dabei so ansteckend. Das Gegenteil einer Spaßbremse.

Petra betrachtet ihre fleckenlose Bluse, kontrolliert im Selfiemodus ihre Zähne nach Essensresten und betrachtet ihre Augenringe. Wieso kommen die jetzt trotz des ultraeffizienten Make-ups so plötzlich hervor? Wer nicht schön ist, hat sich nicht genug angestrengt. Oder nicht genügend Geld in anständige Schminke investiert. Da wurde an der falschen Stelle gespart. Keine gute Grundlage, um zu altern. Darüber muss sich eine dreißigjährige Frau längst Gedanken gemacht haben. Kluge Maßnahmen sollten früh ergriffen werden. Oder es muss mit den Konsequenzen gelebt werden. Keine Frau kommt ungeschoren davon. So viel ist sicher. Mit Sicherheit kann gesagt werden: Andere Mütter haben auch schöne Töchter.

Sie betrachtet ihren Schreibtisch. Ihr Namensschild. Die pflegeleichten Topfpflanzen.

Hier ist sie gelandet, nach einem abgebrochenem Kunststudium in London, einem einjährigen Praktikum in einer Werbeagentur in New York, einem abgeschlossenem Kunstgeschichtestudium in Frankfurt, einer Top-Note auf ihrem Zeugnis, einer Anstellung in einem Museum als kuratorische Assistentin in Amsterdam und nun offiziell als Assistentin in München, tatsächlich jedoch als Aufsichtskraft. In dieser Galerie ist sie nur vorübergehend. Sie sieht gut aus, ist gebildet, ist fleißig, ist idealistisch, ist arm, ist verschuldet und gewillt, sich nach oben zu arbeiten. Wer spärlich lebt, kann bekanntlich schnell die Verbesserung seiner Lebensumstände spüren. Sich durchbeißen können, so wurde ihr beigebracht, ist eine notwendige Charaktereigenschaft, vor allem für Arbeiterkinder. Durchbeißen, Durchhalten, Disziplin, Ausdauer und Geduld. Weil Angeberei wiederum keine gute Eigenschaft von Frauen ist, stapelt Petra eher tief. Wer tief fliegt, fällt nicht so weit. Besonders als eine Frau, deren Fallhöhe immer eine gewaltige sein muss. Petra ist müde. Am Wochenende hat sie wieder ihre Familie besucht. Die lebt praktischerweise nur eine Zugfahrt entfernt.

14:30 Uhr. Die Männer betreten den Innenhof. Endlich. Mit denen wird sie jetzt auch noch fertig. Sie hat schon so viel geschafft in ihrem Leben. Sie muss das hier wie eine sportliche Aktivität betrachten. Es ist anstrengend, verbessert jedoch ihre Kondition. Einatmen, ausatmen und das Gesicht einer Frau aufsetzen, der es wirklich egal ist.

Die Stahltür wird aufgemacht und mit dem ersten Schritt hinein legen sie los.

Mann 1: »Ciao Bella!«

Mann 2: »Hast du was für uns?«

Mann 1: »Petra, Petra, Petra, willst du nicht an diesem zarten Frühlingstag mit uns einen Kaffee trinken gehen?«

Mann 2: »Wir haben noch ein bisschen Zeit.«

Mann 1: »Wär doch schade, wenn du den ganzen Tag hier sitzen müsstest.«

Mann 3: »Bessere Idee, du machst uns Kaffee, und wir setzen uns zu dir?«

Mann 2: »Du schaust so aus, als würdest du richtig guten Kaffee machen.«

Petra: »Hier sind eure Pakete.«

Mann 1: »Oh, schon wieder so zickig.«

Mann 2: »Waren wir schon wieder nicht sensibel genug?«

Petra: »Ich würde gerne, muss aber weiterarbeiten.«

Mann 3: »Deine Arbeit hätte ich auch gern. Sieht so entspannt aus.«

Mann 2: »Musstest du dafür eigentlich studieren, um während der Arbeit Bücher zu lesen?«

Petra: »Ja.«

Mann 3: »Du, stell dir vor: Unsere Putzfrau ist plötzlich nicht mehr aufgetaucht. Weißt schon, die mit dem Alkoholproblem. Wenn du also nichts zu tun hast, könntest du auch für unsere Büroatmosphäre sorgen. Kriegst auch ihren Stundenlohn.«

Mann 2: »Was meinst du, ist das mehr als dein regulärer?«

Mann 1: »Hahaha.«

Mann 3: »War ja nur ein Spaß. Die Petra versteht das, oder?«

Mann 2: »Klar, die Petra ist eine von den Coolen. Nicht so spießig wie die Anderen.«

Mann 1: »Aber grab nicht meine Freundin an, gell? Scherz!«

Mann 3, Mann 2, Mann 1: »Also, tschüss Petra. Bis morgen.«

Unbesonnen und von jeglichen Sorgen befreit schlendern die Männer durch die Ausstellung, tragen dabei ihre Post mit sich und die Aura blanker Unbekümmertheit. Einer streckt sich kurz, die Wirbel knacken. Petra schlägt ihr Buch auf. Sie beneidet diese Selbstsicherheit. Mit dem Zufallen der Tür, die aus der Ausstellung in die oberen Stockwerke führt, fällt ihr ein Stein vom Herzen oder die Anspannung von den Schultern. Es fühlt sich gut an, etwas weggearbeitet zu haben. Für heute sind die Männer erledigt. Auf zum nächsten Punkt im Tagesablaufplan.

Petra macht das hier nicht mehr lange. Das ist nur die Notlösung. Sie hat einige Bewerbungen offen, in anderen Städten, in anderen Ländern, sie ist flexibel, kann überall hin. Sie erfüllt, was von ihr gefordert wird, keine Bindung, kein Ballast kann sie von dem richtigen Jobangebot abhalten. Petra ist hoffnungsvoll und hoffnungslos unterbeschäftigt. Neun Stunden am Tag, zehn Euro pro Stunde, fünf Tage die Woche und das im teuren München.

»Du weißt, Schatzerl«, schiebt da die Tante Bella hinterher, »es hat jede noch so dumme Situation auch immer etwas Positives. Du kannst nicht wissen, wofür diese Erfahrung einmal gut sein wird. Wirst schon sehen. Wenn es dann so weit ist, denkst du an mich. Weil du was gelernt hast und feststellen musst, dass ich Recht hatte.« Die Tante hat so oft Recht. Die Tante Bella kennt das Leben und die Leute. Die Tante Bella ist eine Frau, mit der gern geplaudert wird. Denn die Tante Bella kann gut zuhören. Und das ist schließlich das A und O, wenn etwas herausgefunden werden will.

Ein weißer Defender fährt in den Innenhof. Petra weiß, was jetzt kommt. Ihre Chefin. Genauer: die Frau vom Chef. Die scheint jetzt die Fäden endgültig in der Hand zu haben. Ihr Mann ist schon länger nicht mehr aufgetaucht. Es gab keine Mitteilung, kein Teammeeting, nicht einmal ein öffentliches Statement. Er blieb plötzlich aus, sie räumte sein Büro um, und jetzt macht sie die Ansagen. Gut für sie, denkt sich Petra. Mehr Frauen in Führungspositionen. Vor allem im Kulturbetrieb. Da will Petra schließlich auch mal hin. Immer dranbleiben. Immer nach den Möglichkeiten Ausschau halten.

Der Motor verstummt. Die Chefin steigt aus, öffnet die Hintertür, ein kleiner Dackel springt aus dem Auto und läuft direkt zur Eingangstür, in der mittlerweile Petra steht, weil sie freundlich ist und weiß, dass die Chefin gern begrüßt wird. Die Chefin weiß nicht, dass das ein Automatismus ist. Das Auto, der Hund, der Job, die Stadt. Petra findet das toll. Fehlt nur noch der Jagdschein, die Chefin ist allerdings Vegetarierin.

»Hallihallo Petra! Wie geht es dir heute?«

»Maxi! Gut. Es riefen ein paar Leute an, hier ist die Telefonliste.«

»Ahhh, hmmm, danke. Und sonst?«

»Sonst hat sich wenig getan, später kommen die Akademiestudenten – die führst du durch die Ausstellung, nicht wahr?«

»Ja. Sehr gut. Sehr, sehr gut. Die brauchen wir nämlich.«

»Wen?«

»Die Kunststudenten!«

»Aha.«

»Petra, Liebes, die Kunststudenten sind unsere Zukunft. Sag, kannst du Grazia nehmen? Sonst zieht sie wieder die ganze Aufmerksamkeit auf sich und das mag Mami nicht, wenn sie gerade eine Führung gibt, nicht wahr?«

»Natürlich, wir können eine Runde gehen.«

»Stell auch das Telefon stumm, nicht dass es läutet, während ihr fort seid. Wär auch blöd. Die Leute können schließlich E-Mails schreiben, wenn sie was von mir wollen. Die wichtigen Leute haben eh meine Privatnummern. Der Rest kann warten.«

»Wie lang sollen wir fort sein?«

»Eine Stunde. Am besten du gehst, kurz bevor sie kommen. Sonst wissen sie nichts mit dir anzufangen, und das sorgt nur für Verwirrung.«

»Ist gut.«

»Weißt du was, geh sofort! Dann kann ich mich in Ruhe vorbereiten.«

»Ist gut, Maxi.«

Petra hat eine These in Bezug auf Hunde und Kinder: Wenn den Leuten nichts anderes mehr einfällt, kommt eins von beiden. Für den Sinn im Leben. Weil um den geht’s, den zu finden gilt’s. Sinnlos scheint ein Leben ohne Aufgabe. Eine Möglichkeit ist dabei, sich etwas Sinnstiftendes anzuschaffen. Etwas, worum sich gekümmert werden kann, nur dies sind gute Eigenschaften: Selbstaufopferung, Opferbereitschaft und hingebungsvolle Fürsorge. Mütterliche Eigenschaften. Fraueneigenschaften. Pflegende Eigenschaften. Die Eigenschaften, die die Welt beieinander halten. Fürchterlich findet das Petra.

Petra möchte keine Kinder. Wenn sie das sagt, sagt ihre Mutter, dass sie ihren Muttertrieb schon noch entdecken werde, und ihre Freundinnen, dass das mitnichten eine natürliche Entscheidung sei. Petra hat gute Gründe, keine Kinder zu wollen, aber wird nicht danach gefragt. Nicht einmal ihr Coming-Out scheint noch eine besondere Hürde darzustellen.

»Die biologische Uhr tickt, Petra, du wirst sie schon noch spüren und dich dann befruchten lassen«, säuselte die Tante Bella und griff weise in sich hineingrinsend nach ihrem Aperol Spritz. Befruchten lassen, als würde ihr ein netter, harmloser Herr eine Obstplatte reichen. Oder sie mit einem Smoothie einseifen. Prost!

Petra und Grazia spazieren los. Schön vorbei an den alten Prachtbauten, vorbei an den Wohnhäusern und endlich hinein in die belebteren Straßen. Da sitzen die Leute draußen vor den Cafés, gierig nach Sonne, in ihren Daunenmänteln und ihren Winterstiefeln und ihren Wollhauben, die angesichts der Wetterlage bereits überflüssig sind. Den Leuten hier geht es gut, die Leute hier sehen gesund aus. Froh und munter. Vergnügt und nett. Rote Bäckchen, weiße Zähne, pralle Portemonnaies. Status, Status, Status. Petra wird richtig warm ums Herz, auch dank der gnadenlosen Sonne.

Die Galerie befindet sich in einem beliebten Viertel unter Gutsituierten, ist jedoch ausgerechnet in der Nebenstraße einer Nebenstraße gelandet. Sie wird nicht allzu häufig zufällig gefunden. Ein echter Geheimtipp. Nur für Kenner. Nur für wirklich Interessierte. Nur für die, die Bescheid wissen. Es sind naturgemäß eher ruhige Arbeitstage.

»Was für ein Luxus!«, sagt dazu die Tante. »Dass es solche Jobs überhaupt noch gibt. Bemerkenswert!« Solche Jobs, meint sie, seien völlig überflüssig, weil sie nur von wenigen Menschen in Anspruch genommen werden. Was zählt, sind die Jobs, die viele Menschen glücklich machen, nicht einige wenige. Ihrer zum Beispiel. Zugegeben, hin und wieder weint eine Frau, wenn sie nach einer faltenreduzierenden Spritze entgegen ihrer Warnung zu lange in der Sonne war und nun anstelle der Falten eine Narbe trägt. »Aber die fangen sich dann schon«, sagt die Tante. »Was bringt die Galeristin einer Gesellschaft?«, fragt die Tante und zieht dabei die Augenbraue hoch. »Und was bringt deren Assistentin der Gesellschaft?«, schiebt sie hinterher. »Eben«, schließt die Tante, »niemand weiß, dass es dich gibt. Meine Schusterin ist relevanter als du.«

Autsch. Das saß. Der Petra wird ganz schwindelig bei so einem Gespräch. Nicht weil Petra glaubt, sie sei etwas Besseres als eine Fachkraft für Sohlen und Schuhwerk, nein, weil Petra sich selbst so sieht. Petra, die viel Zeit und Geld in ihre Ausbildung gesteckt hat, fühlt sich wie eine Bilderbuch-Versagerin, denn, so viel ist sicher, mit dreißig fängt die große Karriere nicht mehr an. Das Sorgenkind der Familie. Erst Langzeitstudentin, dann ohne Geld und ohne Einbauküche, mit einem Beruf, den niemand versteht, und obendrauf noch lesbisch. Oh weh! Ihre Mutter und ihre Tante lachen darüber. Bella und Elle sind immer fleißig am Sorgen-weglachen. Was einen nicht angreift, tut einem nicht weh. Was einem nicht weh tut, kann schnell vergessen werden. Immer schön weich bleiben. Harte Frauen wirken doch eher abschreckend, und verhärmte Frauen sind am allerabschreckendsten. Sanft soll sie sein, die Frau, sanft und lieb und nett. Ein gepflegtes Äußeres und ein außerordentlich liebreizendes Inneres. So ist’s recht.

Petra lässt den Hund von der Leine. Grazia weiß zunächst nicht recht, wie ihr geschieht und rührt sich nicht vom Fleck. Sie betrachtet ihr Teilzeit-Frauchen und wartet auf deren Aktion. Aktion, Reaktion. Affirmation ist die bessere Strategie im Job. Freundlich nicken, freundlich lächeln, zustimmen. Ja und ja und ja! Petra ist darin geschult. Sie schaut den Hund an, geht in die Hocke und strahlt aufmunternd. Der Hund weiß immer noch nicht so recht. Da wirft sie ein Stöckchen tiefer in den Park. Und Grazia tut, was von ihr verlangt wird, und läuft dem Stöckchen hinterher. Petra kommt mit, und so gehen sie weiter in die Natur hinein. Die Vöglein zwitschern und das Bächlein sprudelt, und die Autos werden leiser, und die anderen Menschen sind auch ganz stumm. Endlich Ruhe. Die Enten schnattern, weil der Hund dahergerannt kommt und wenn Grazia endlich kackt, zögert Petra keine Sekunde, um die Plastiktüte aus der Jackentasche zu ziehen, die Scheiße aufzuklauben und geschickt das Tütchen zu verknoten. Petra ist geduldig.

»Denn Geduld ist etwas, das wir Frauen brauchen«, gab ihr die Mutter mit auf den Weg, »Geduld und die Fähigkeit, nachsichtig zu sein.« Dabei zwinkerte sie und deutete auf ihren Mann, der lässig auf dem Sofa fernsah und dessen Hand im Hosenbund steckte. Typische Fernsehpose. Geduldig trägt sie die rote Tüte minutenlang durch den Park, bis endlich der nächste Mülleimer auftaucht.

Als die Ehe für alle entschieden wurde, rief Petras Mutter ihre Tochter erleichtert an, denn auf die Hochzeit ihrer eigenen und einzigen Tochter wollte sie nun wirklich nicht verzichten müssen. Lesbisch oder nicht. Petra entfuhr nur ein schrilles Lachen. Schwamm drüber!

Der Hund hat keine Lust mehr und rennt keinem Stöckchen hinterher. Zeit für eine Pause. Petra setzt sich, nimmt Grazia neben sich auf die Bank, sie warten. Auf bessere Zeiten. Auf noch besseres Wetter. Auf bessere Gründe, wieder zurückzugehen. Schwierig wird’s, wenn alles egal ist. Petra lässt Grazia auf ihren Schoß. Beide machen erschöpft die Äuglein zu.

BARBARA

Barbara sitzt auf einer nigelnagelneuen, dunkelgrünen Liege mit cremefarbenen Polstern, auf deren Waschzettel das Wort »Luxus« steht, und schaut starr geradeaus, über ihren Körper und den Pool hinweg, hinein ins Gebüsch, als wäre da was, doch da ist nichts. Sie zieht zur Beruhigung an ihrer dünnen, pastelllilafarbenen Zigarette der Marke Vogue, woraufhin ihr ein tiefer, aufgebender Seufzer entkommt, als wüsste sie, dass sie gleich erledigt ist und zwar so richtig.

Die unbegründete Ahnung einer nahenden Katastrophe hat von ihr Besitz ergriffen, und Barbara ist darüber erleichtert, weil sich überhaupt was regt. Barbara lässt die Angst nicht mehr los, besser als sich an gar nichts mehr klammern zu können. Wenigstens eine Konstante im Leben. Und weil es mit der Angst als Begleiterin nie langweilig wird, steigert sie sich in besonders faden Momenten in sie hinein bis ins Unermessliche. Hinter jedem Schatten vermutet sie einen Mörder, von jedem Baum könnte sie in der nächsten Sekunde erschlagen werden, und in ihrem eigenen Pool sieht sie eine Todesfalle.

Die Zigarette geht aus, sie steckt sich eine neue an. Jetzt ist es auch schon egal, ob der Krebs noch kommt. Vielleicht wär’s sogar besser. Die Vorsorgeuntersuchung hat sie abgesagt. Jetzt will sie auch nicht mehr gerettet werden. Wenigstens ist es angenehm mild. Klimawandel sei Dank sitzt sie heuer schon im Februar draußen.

Im Gebüsch raschelt’s. Barbara ist bereit und wackelt nervös mit dem rechten Bein, das sie über das linke geschlagen hat. Sie schaut so angestrengt, dass sich ihr Oberkörper langsam nach vorne bewegt und sich ihre Augen dabei verengen.

»Barbara! Jetzt sei nicht peinlich!«, schallt es da, »Es kommt kein böser Geist, um dich zu holen, der Postbote kommt gleich, das ist alles, und da vorn sitzt wahrscheinlich eine Amsel drin und du scheißt dich gleich an. Was soll denn das! Du bist doch eine erwachsene Frau!« Endlich, denkt sich Barbara, die zutiefst erschrak und eine erholsame Gänsehaut am ganzen Körper spürt, da ist sie wieder, die scheltende Stimme vom D. – sie wusste doch, dass gleich was kommt. Sie hat es immer schon gewusst. Dass der sich nicht abschütteln lässt, denkt Barbara und zieht an der Vogue. Im Gebüsch raschelt’s weiter. Und dann: absolut nichts zu sehen. »Sag ich’s doch! So eine Aufregung wegen nichts!« Der D. ist tot und zetert trotzdem in ihrem Schädel herum – das Leben ist wirklich ungerecht.

Doch Barbara ist erleichtert, die Stimme ihres toten Mannes hört sie immer noch so klar. Warum war der eigentlich immer so lästig? So leicht reizbar? Das Wippen ihres Beines wird langsamer, bis es schließlich aufhört. Barbara ist sich gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt im Gebüsch geraschelt hat. Denn es ist schön ruhig hier auf der Terrasse, eines Morgens stand sogar ein Reh vor den Büschen. So eine Idylle nennt Barbara ihr Heim. Dass das Reh heimlich die Jungpflanzen frisst, ist ihr noch gar nicht bewusst.

Da der Pool, da die zweite Liege – völlig unbenutzt. Da blühen später die Rosen, und da hinten haben D. und Barbara einmal den Kater und die Katze beerdigt. Der Kater war dick, ein wandelnder Hocker auf vier Beinchen, so sah der aus mit seinen langen Haaren, ein Quadrat, und mit einem Schnurren so laut wie ein Motor. Und die Katze war grazil, irgendwie elegant und wenig verschmust, die wollte mehr Action. Ganz wie D. und Barbara, er ein Hocker, sie so abenteuerlustig. Sie weiß gar nicht, wann die Tiere verstorben sind. Zeit ist für Barbara weniger greifbar denn je. Die Zigarette geht aus, sie steckt sich eine neue an. Was soll’s. Ist eh schön. Mir geht’s gut, denkt sich Barbara. Schöner wär’s nur, wenn die Sonne noch ordentlicher scheinen würde. Heute hängt so ein diesiger Dunst, gänzlich unattraktiv. Spuken kann’s auch bei Sonnenschein. Es muss nicht immer trüb sein.

Sie lehnt sich zurück und wackelt wieder nervös, ihre Hand streift über den Poolliegenaufsatz. So gemütlich. Die Zigarette hängt ihr von den Lippen, der Blick hängt an ihren lackierten Fingernägeln.

Mit einem Satz und einem Jauchzen springt ein weißer Spitz aus dem Gestrüpp, rennt schnurstracks auf sie zu und hechelt aufgeregt. Wer weiß, ob vor Freude oder Durst oder Tollwut, und tut dabei so, als wär das ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Als wären sich die beiden schon längst bekannt.

Barbara, die sich so gern fürchtet, hat sich nicht erschrocken, betrachtet den freudig umherhüpfenden Spitz, nimmt erst mal lässig die Kippe aus dem Mund und drückt sie im winzigen Marmoraschenbecher aus, der auf dem Tischchen neben ihrer Liege steht. Der Hund gibt sein Bestes. Er setzt sich artig zu Barbaras Füßen und schaut sie an. Mund auf, Mund zu, Zunge raus, hechel, hechel, die Zunge fährt über ihre Hand. Barbara ist erst in diesem Moment völlig überwältigt und stößt einen spitzen Schrei aus. Jetzt begreift sie erst: Ist die Strafe Gottes ein kleiner, weißer Zuchthund? Der Hund hat keine Ahnung von der tiefen Angst, die sich in Barbara breit zu machen scheint, ist er nur Entzückung und Lobhudelei gewohnt, er schleckt ihr deshalb sanftmütig über das Bein, um ihr die benötigte Zuneigung zu entlocken. Das erinnert Barbara an ihre Krampfadern, und sie lässt die Zuneigung über sich ergehen, als wäre das die verdiente Folter. Sie versucht, sich dran zu erinnern, in welchen Gestalten der Teufel sonst immer auftaucht. Sie hat wohl völlig vergessen, dass sie längst aus der katholischen Kirche ausgetreten ist und sich eigentlich gegen den Glauben entschieden hat. Aber in so einer Gegend, da am Starnberger See, da kann wirklich gut an einen Gott geglaubt werden, so schön ist es da. Und so ein Hund, so ein herangezüchteter, ist ja auch wirklich nicht von dieser Welt.

Der Hund hat keine Zeit für solche Erwägungen, der braucht Nahrung und setzt auf mitleiderregendes Winseln, was sogar die Barbara zurück in die Realität bringt. Kirche! Jesus! Gott!, sie schüttelt den Kopf und wundert sich mehr über sich selbst als über ihren neuen Begleiter. Endlich kommt der Sinn fürs Wesentliche zurück. Sie leert den Aschenbecher in den Pool, den wird sie so schnell eh nicht mehr betreten und steht auf, der Hund springt in die Höh, Barbara geht zur Terrassentür, öffnet diese, geht hinein, nickt dem Hund zu, der keine Einladung mehr gebraucht hätte, und so verschwinden die beiden im Haus. Barbara weiß, was zu tun ist: Küche, Kühlschrank, Fleisch von gestern.

Sie weiß, wie sie das Gewinsel ums Essen abstellen kann.

Das hat sie ihre ganze Ehe lang gewusst. Gefressen wird doch immer gleich.

Dem Hund ist alles Wurst, der stürzt sich auf den Teller, den Barbara just auf den Boden stellt, und frisst in Windeseile alles auf. Sie steht neben ihm, die Hände ineinander geschlagen und ganz gerührt von so einem Appetit. Ein vergessenes Glücksgefühl. In der Zwischenzeit macht der Postbote am Briefkasten herum, und Barbara schaut auf die Uhr. Erst elf. Der Tag ist noch so lang. Der Briefträger ist pünktlich. Brav und vorbildlich. Langweilig und vorhersehbar. Sie schneidet dem Hund noch ein bisschen mehr Fleisch auf. Der Hund liebt sie gerade sehr. Und das fühlt sich gut an.

Also, was ist jetzt zu tun? Wo wird ein fremder Hund gemeldet? Kann schon sein, dass er einer Villentante von einem Seegrundstück abgehauen ist, da würde ich auch fliehen, so ausgschamt san die da drüben – aber dann kommt der ausgerechnet hier an? Das ist ja viel zu weit weg. Hinter dem Gebüsch ist nichts. Ganz lange nichts. Und auf der anderen Seite, also vor dem Haus, da kenn ich mich aus. Da hat niemand so einen Hund. Noch nie gehabt. Der war auch noch nie zu Besuch, des hätt ich doch mitbekommen. Der wird ja nicht an der Loisach entlang spaziert sein bis hierher. So ein Schoßhündchen überlebt doch nicht in der echten Welt. Ach, Schmarrn! Ein bisserl dreckig ist er, aber nicht dreckig genug. Geh, Blödsinn, der ist doch ned durchs Unterholz geirrt. Vielleicht hat ihn jemand an der Bushaltestelle ausgesetzt. Oder einfach hinausgschmissen ausm Auto. Ja, freilich. Was meinst, was der frisst. So ein Rassehund. Sicher nur das Allerfeinste. Irgend so eine Wohlstandsverwahrloste wird den schon verhätschelt haben. Naja, jetzt sagen wir’s mal so: Der Hund kam aus freien Stücken hier an, dann darf er auch bleiben. Jawoll. Ich helfe, wo ich kann. Mei, jetzt schaut er wieder so liab. Vielleicht no a Radl Wurst?

Sie stellt ihm die neu gefüllte Schüssel hin, und der Hund macht keine Anstalten, irgendetwas anderes zu wollen. »Da schau her, Hundi, feines Fleischi!« Der Hund weiß, was feines Fleisch ist. Vielleicht hat er auch tatsächlich ein gutes Gespür fürs Timing, weil lange hätte es Barbara nicht mehr ausgehalten, dann hätte sie vor lauter Langeweile erst ernsthaft Angst und dann wohl doch noch einen Vogel bekommen – und hätte sich wahrscheinlich selbst niedergestreckt. Sie erwartet so sicher eine Bestrafung, dass sie sich permanent selbst bestraft. Eine Bestrafung, weil sie noch lebte, den D. beerdigte, weil sie nicht zuckerkrank ist, weil sie sich auch ein bisschen freut, allein zu sein, den D. nicht mehr im Haus zu haben. Der Ehegatte hat sich überfressen. Passiert. Das ist kein Einzelfall. Und dem hat’s immer geschmeckt. Der D. hat bis zum Schluss versichert, wie fein alles schmeckt. Sie hat ihn zu nichts gezwungen, nein, es war eher umgekehrt: Er hat das Essen eingefordert. Sonst war er noch lästiger. Und wer will freiwillig so einen Grantler zuhause sitzen haben?

»Jetzt muss einmal die Kirche im Dorf gelassen werden. D. war ein erwachsener Mann, der sich selbst in den Tod gefressen hat. Barbara ist lediglich ihrer fraulichen Pflicht nachgegangen und hat für ihn gekocht – das fordert ihr doch von euren Frauen! Ich würd euch alle vergiften!« Das hat Jolie gesagt, kurz nachdem sie auf den Tisch geschlagen hat wie ein Kerl, als die Männer Barbara als Todes-Köchin, als Todes-Gattin verhöhnten. Dann blieb es für einige Minuten mucksmäuschenstill im Wirtshaus. Jolie atmete schwer und setzte sich aufrecht hin, die Männer schauten bedröppelt und erschrocken. So wie Emma, die gar nicht wusste, wie ihr geschah. Jolie reiste ein paar Tage später wieder ab und damit verstummten auch die empörten Männer, die so eine freche Aktion überhaupt nicht gutheißen konnten, aber da hatte die freche junge Frau längst einen Keim in Barbara und in Emma gepflanzt. Barbara merkte, dass sie der Tod des eigenen Mannes auf ungeahnte Weise auch erleichterte. Der Keim sprießt. Die Realität als Witwe. Eine einsame Frau ohne Chance auf eine neue Liebe, denn die gibt es für Frauen in ihrem Alter nicht noch einmal.

Der Spitz ist fertig mit Fressen und möchte jetzt den Bungalow inspizieren, den er sich als neues Heim ausgesucht hat. Barbara folgt ihm und ist zufrieden über die Abwechslung, auch etwas verunsichert, wer weiß, ob der überhaupt stubenrein ist.

Sie greift nach dem Telefon, denn wenn sie eins nicht kann, ist das, gute Neuigkeiten für sich behalten: »Emma, pass auf: Da steht der plötzlich auf meiner Terrass’n, hab ich mich erschrock’n, kannst dir vorstell’n. Hüpft der da aus dem Gebüsch heraus, wie ich nichts-ahnend auf der Liege lieg und mich entspanne. Ja, na freilich, was soll ich denn sonst tun? Aber schau in sei liabs G’sicht, da zergeht dir’s Herz! Ja, eh, wart, ich schick dir gleich ein Foto, gleichzeitig geht das nicht. Du, ganz ehrlich: Ich hab keine Kinder, ich hab Geld auf dem Konto, ich nehm den Hund schon auf, das darfst mir glauben! Mein neuer Freund wird das. Treuer Begleiter, oder? Mei, so liab. Naaa, ich weiß nicht, wem der gehört. Ja, wenn ich’s dir doch sage, da ist keine Hundemarke. Na, die Polizei, so ein Schmarrn, als würden die sich jetzt mit so einem Schoßhündchen herumschlagen wollen, die haben wirklich was Besseres zu tun. Ins Tierheim? Bist narrisch. Das überlebt doch so ein feiner Hund gar nicht. Wenn du den jetzt sehen könntest, würdest nicht so damisch reden. Ich schick dir jetzt ein Bild, weil ich muss sowieso auflegen. Wir hören uns, gell? Ja, freilich sehen wir uns am Freitag. Na, sofort passt’s mir eigentlich nicht. Heute hab ich wirklich gar keine Zeit für einen Besuch. Na geh! Hör auf. Wirklich? Mei, das ist ja schad. Woher weißt du das? Na, sowas aber auch. Du, das tut mir jetzt wirklich leid, aber ich muss wirklich auflegen, weil der Hund ist jetzt irgendwo, und der kennt sich hier nicht aus. Ja, genau. Alsooooo, bis dann! Ja. Na, eh. Durchhalten, gell? Servus!«