Rüdiger Maas
Cyberpsychologie in der Arbeitswelt
Was Führungskräfte über die Auswirkungen des Internetkonsums wissen müssen
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Print-ISBN 978-3-446-46666-1
E-Book-ISBN 978-3-446-46807-8
ePub-ISBN 978-3-446-46950-1
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© 2021 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München
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Lektorat: Lisa Hoffmann-Bäuml
Herstellung: Carolin Benedix
Coverrealisation: Max Kostopoulos
Titelmotiv: © pixabay.com/geralt
Autorenfoto: ©Adrian Beck
Illustrationen: © Institut für Generationenforschung
Vorwort |
Die gewaltige Beeinflussung der Welt durch das Internet wirkt auf unsere Psyche und Gemüter ein. Das Internet verändert die Welt und beeinflusst damit die Menschen und ihr Leben in allen möglichen Facetten. Jedes Unternehmen und jede Führungskraft muss die Mechanismen der Cyber- oder Internetpsychologie kennen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ohne Kenntnisse der Cyber- oder Internetpsychologie werden Sie die kommenden Nachwuchskräfte nicht mehr in Gänze verstehen können, mehr noch, Sie werden die Mechanismen unserer gesamten modernen Welt nicht mehr verstehen. Firmen werden Möglichkeiten verpassen, die ihnen gegebenenfalls durch das Internet möglich gewesen wären. Während der Corona-Pandemie wurde sehr schnell deutlich, welche Unternehmen sich auf die digitalen Erfordernisse einstellen konnten und welche nicht.
Dieses Werk beleuchtet allgemeinpsychologische Phänomene im Kontext des digitalen Zeitalters, wie z. B. der Wahrnehmungsänderung, aber auch die digitalen Auswirkungen und Folgen auf den Menschen. Sie lernen beispielsweise, wie Mitarbeiter im Internetzeitalter geführt, motiviert oder eingesetzt werden oder wie ein Produkt oder Ihr Unternehmen idealerweise beworben werden kann.
Mehr als drei Jahre lang habe ich mit meinem Team aus Psychologen und Soziologen Menschen aller gängigen Generationen über den Umgang mit und das Leben in der digitalen Welt befragt. Mal in Fokusgruppen, mal einzeln. Mal online, mal klassisch mit Stift und Papier. Die Ergebnisse daraus sowie weitere wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen bilden die Grundlage für dieses Buch und runden sich gegenseitig ab. Insgesamt haben wir 2890 Stunden an Konzeption, Erhebung, Auswertung, Befragung und Transkription aufgewendet.
Mit dem Wissen der Cyber- oder Internetpsychologie im Gepäck lernen Sie, unternehmensrelevante Mechanismen neu zu betrachten. Ich wünsche Ihnen durch die Lektüre dieses Buchs viele neue Erkenntnisse und viele Anregungen für Ihre Praxis.
Augsburg, Frühjahr 2021 |
Rüdiger Maas |
Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Warum wir Wissen über die Cyberpsychologie benötigen
1.1 Neuronale Entwicklung
1.2 Verhaltens- und Wahrnehmungsänderung
1.3 Soziale Identität im Internet
1.4 Die Generation Alpha – Digital Natives 3.0
1.5 Anpassungen an das Internet
2 Die Geschichte der Internetpsychologie und die Entwicklung des Homo interneticus
3 Das Internet und der Einfluss auf unsere Persönlichkeit und unser Sozialverhalten
3.1 Internetsüchte
3.2 Weitere psychische Gefahren im Internet
3.3 Fake News – Welche Daten aus dem Internet stimmen?
3.4 Das Leben in der Analog-online-Zwischenwelt
3.4.1 Bedürfnis nach Sicherheiten
3.4.2 Veränderte Kommunikation und Wahrnehmung
3.5 Gruppendynamiken
3.6 Digital Detox und mentale Gesundheit
4 Der digitale Werbeauftritt
5 Wie (be)nutzt man Social Media?
5.1 Instagram
5.2 YouTube
5.3 LinkedIn
6 Wie nutzt man Influencer?
6.1 Die Basis von Influencern
6.2 Die vier Erfolgsfaktoren von Influencern
6.3 Einfluss von Influencern
6.4 Influencer-Marketing
6.5 Bewertung der Erfolgsfaktoren in Bezug auf Marketing
6.6 Den richtigen Influencer-Typ finden
6.7 Chancen und Risiken
7 Der Umgang mit Bewertungen
7.1 Ein „Troll“ als Bewerter
7.2 Die Rolle von Produktbewertungen
7.3 Warnung vor Fake-Bewertungen
7.4 Die Reaktion auf Bewertungen
8 Produktivität und Zeitmanagement trotz Internet
8.1 Begrenzte Aufmerksamkeit bei „Dauerbefeuerung“
8.2 Leistungsfähig trotz Digitalisierung
9 Führung und digitale Hierarchie
9.1 Produktivität und Belastungen im Homeoffice
9.2 Zentral: Feedbackgespräche
9.3 Aufgaben virtueller Führung
9.4 Digitale Hierarchie im Internet
9.5 Auswirkungen von Hierarchie
10 Rekrutierung mithilfe des Internets
10.1 Digitale Bewerbungstrends
10.2 Bewerben einer offenen Arbeitsstelle
10.3 Das digitale Bewerbungsgespräch
10.4 Online-Assessment-Center
10.5 Beurteilung von Messverfahren
11 Kreativität fördern
11.1 Fehlerkultur und Innovationsfähigkeit
11.2 Prozessanalyse als Basis für eine digitale Kreativität
11.3 Das digitale Entwerfen
11.4 Das Entstehen der Kreativität
12 Literaturverzeichnis
13 Glossar
15 Der Autor
Teil I: Die Psychologie durch das Internet |
. . . Toller Sonntagmorgen. Sonne strahlt, Blumen blühen und sogar zwei Vögel zwitschern um die Wette. Das alles mitten in der Stadt auf dem Weg zum Lieblingsbäcker. Brötchen holen. Na ja, wieso sich nicht mal einen Eiskaffee to go gönnen. Passt zum Wetter, passt zum Tag und liegt auf dem Weg. Also rein in die Café-Kette. Ausgabe und Kasse sind getrennte Warteschlagen. Endlich dran. „Einen Eiskaffee zum Mitnehmen bitte.“ Und bevor ich den Preis erfahre, kommt die für mich sehr sonderliche Frage nach meinem Namen? Das sei bei ihnen so üblich, die Kunden lieben es. Na ja, ich sage meinen Namen: „Rüdiger“. Vielleicht ist es aber auch ein Trick, da so die Hürde abzusagen und es sich nochmals anders zu überlegen mit dem Kaffee gegebenenfalls doch viel größer ist. Denn jetzt höre ich den Preis, 5,99 Euro. Irgendwie teuer, denke ich. Aber da hat sie schon den Becher vollgekritzelt. So was erkenne ich als Allgäuer doch sofort. So eine Bauernfängerei, denke ich mir. Wieso sonst braucht sie meinen Namen? Ich möchte den Becher eh nur einmal benutzen. Nun ab zur zweiten Schlange an der Ausgabe. Endlich, jetzt bekomme ich meinen Eiskaffee. Aber was steht da mit dicken Buchstaben auf meinem Becher? „Ruby“, wieso denn Ruby? Habe ich den falschen Kaffee? Nein, es war tatsächlich meiner. Kann ja mal vorkommen . . . dachte ich mir. Aber bei den Preisen?
Aber nun kam auch der Psychologe in mir durch, und ich wollte dem Ganzen doch mal auf den Grund gehen. Was macht ein Psychologe, wenn er etwas nicht versteht? Er stellt unangenehme oder unangebrachte Fragen und wendet dann bis zum Erbrechen Statistik an, um etwas herauszufinden. Irgendwann kommt dann auch noch das Zwischenmenschliche, also mit den Leuten sprechen und auf sie eingehen. Also habe ich erst einmal angefangen, zu recherchieren und zu analysieren. Gelernt ist gelernt. Im Anschluss habe ich dann mit den Café-Mitarbeitern gesprochen und versucht, diese geschickt zu interviewen, eigentlich war es eher ein Verhör. Schließlich habe ich ja Psychologie studiert, unangenehme Fragen zu stellen steht mir zu. Und Tatsache, es stimmte! Die Fehler sind und waren kein Zufall, es war ein System dahinter.
Bild 1 Kaffeebecher
Willkommen in der Zeit der Cyber- oder Internetpsychologie. Denn genau das steckt dahinter. Der Ursprung der Taktik, den Namen auf die Becher zu schreiben, galt Social-Media-affinen Menschen, also hauptsächlich jungen Menschen. Denn diese haben im Laufe der Social-Media-Prägung die Angewohnheit entwickelt, ein Foto von dem Kaffeebecher mit ihrem Namen darauf zu machen und dieses dann stolz zu posten und mit anderen zu teilen. Mit zahlreichen Hashtags und netten Sprüchen verziert, und haben ganz nebenbei natürlich auch das Unternehmenslogo gepostet. Doch irgendwann kam das Unternehmensmarketing auf die geniale Idee, die Namen absichtlich falsch zu schreiben. Je nach Kundentyp und Auftreten, immer im Rahmen des sozial Erwünschten. Dennis würde so maximal Tennis heißen und nicht P . . . Denn wurde der Name falsch geschrieben, erhöhte dies die Chance, dass Social-Media-affine Menschen hiervon sofort ein Foto mit ihrem Smartphone machen und dieses gleich direkt auf die jeweiligen Portale posten. Der Marketing-Effekt war perfekt. Die Social-Media-Freunde waren geradezu begeistert, es dem gleichzutun. Effizienter und günstiger kann Marketing nicht sein. Das musste auch der Allgäuer in mir staunend zugeben. Genau wie dieses Beispiel funktioniert nun eben die Cyber- oder Internetpsychologie. Das Internet und die analoge Welt beeinflussen sich ständig gegenseitig. Eine Art digital-analoge Interaktion, man könnte im Falle des Kaffeeunternehmens sogar fast von einer Symbiose sprechen.
Genau diese Schnittstelle und ihre Auswirkungen werden in dem hier vorliegenden Buch beschrieben. Sie erfahren, warum die Cyberpsychologie Ihnen erklären kann, weshalb sich die sogenannten Digital Natives (ab 1980 Geborenen) oft so anders verhalten wie jene, die das Internet erst im Erwachsenenalter haben kennenlernen dürfen. Sie werden erfahren, welche Macht und welches Potenzial hinter diesen Mechanismen steckt.
Cyberpsychologie, Internetpsychologie oder digitale Psychologie – verschiedene Begriffe, die das Gleiche bedeuten.
Der weltgrößte Vermieter hat kein eigenes Zimmer, der weltgrößte Filmverleih besitzt keine Kinosäle, die weltgrößte Telefonfirma verfügt über kein eigenes Netz, die wertvollste Handelsfirma hat keinen Bestand, der weltgrößte Versandhandel hat keine eigenen Lkws, das weltgrößte Vermittlungsportal hat keine eigenen Protagonisten: Airbnb, Netflix, Skype, Alibaba, Amazon, Tinder, Facebook, Instagram – alles Online-Plattformen und alles Firmen, die es ohne das Internet und die Mechanismen der Cyberpsychologie so nicht geben würde. Diese Plattformen scheinen wie gemacht zu sein für die jungen User, für die Digital Natives. Oder haben genau diese Plattformen dazu beigetragen, die Jugendlichen so zu formen, wie wir sie heute kennen? Auch hierbei kommt die gegenseitige Beeinflussung der Internet-Mensch-Interaktion zutage. Zudem scheint diese Kohorte der Digital Natives wie gemacht zu sein für das Internet und den kollektiven Datentausch. Sie streben nicht nur ins Kollektiv, sie bilden es sogar mit vollem Herzblut.
Viele der älteren Generationen sind immer noch der Meinung: Meins gehört mir und ich will mehr davon. Dies stellt ein Grundproblem dar: Ab- und Aufgeben sind unerwünscht. Infolgedessen wird an den jahrelang gesammelten Erfahrungen festgehalten, oft auch weit nach der Rente. So funktioniert das Internet jedoch nicht. Das Internet ist schlichtweg anders als alles, was davor bekannt war. Zudem sind alle genannten Firmen keine deutschen Firmen. Kein Wunder, denn die Plattformökonomie ist kein wirklich deutsches Mindset. Hier stehen nicht Tiefgang, Qualität, Pünktlichkeit und Genauigkeit an oberster Stelle. Es richtet sich an das Kollektiv, an den Moment und an die intuitive Massentauglichkeit. Denken Sie nur an das Kaffee-Beispiel.
Es gilt gleich zu Beginn zwei wichtige Erkenntnisse zu berücksichtigen:
Die Digital Natives haben die idealen Grundvoraussetzungen für das intuitive Agieren im Internet bzw. im Cyberraum.
Das Verhalten im Internet bzw. im Cyberraum ist abhängig von der analogen Welt.
Genau diese Schnittmenge lernen Sie nun auf den nächsten Seiten kennen.
Bild 2 Menschen mit Smartphone
Die gewaltige Beeinflussung der Welt durch das Internet wirkt auf unsere Psyche und Gemüter ein. Das Internet bringt die Welt in enormen Schritten nach vorn und beeinflusst damit die Menschen und ihr Leben in allen möglichen Facetten. Aus diesem Grund sollte nicht versäumt werden, diese Interaktion ausreichend zu kennen und zu verstehen. Dieses Verständnis setzt die Kenntnis der Cyber- oder Internetpsychologie voraus. Die Mechanismen der Internetpsychologie werden in der Gesellschaft und auch bei Ihnen im Unternehmen einen immer größeren Raum einnehmen. Die Internetpsychologie ist ein Teilgebiet der Medienpsychologie und beschäftigt sich genau mit den genannten Fragestellungen, sprich mit dem Einfluss, den Chancen und auch den Risiken der virtuellen Welt für jeden Einzelnen.
Ohne Kenntnisse der Internetpsychologie werden Sie die kommenden Nachwuchskräfte nicht mehr in Gänze verstehen können, mehr noch, Sie werden die Mechanismen unserer gesamten modernen Welt nicht mehr verstehen. Firmen werden Möglichkeiten verpassen, die ihnen gegebenenfalls durch das Internet möglich gewesen wären.
Ein teurer Fuhrpark für den Vertrieb, muss das im Zeitalter der digitalen Akquisemöglichkeiten noch sein? Eine teure Ausstellung für ein Küchenstudio, die Nebenkosten für das Autohaus, die überhöhte Miete für das Kleidergeschäft. Der Platz, der dadurch frei wird, wird schlicht durch das Internet eingenommen.
Es werden allgemeinpsychologische Phänomene im Kontext des digitalen Zeitalters beleuchtet, wie z. B. der Wahrnehmungsänderung, aber auch die digitalen Auswirkungen und Folgen auf den Menschen.
Warum wollen wir Menschen eigentlich ständig ins Internet?
Was ist die Triebfeder des Internetkonsums?
Wie wirkt sich das Internet auf unsere gesamte Gesellschaft aus?
Mit der Beantwortung dieser Fragen und dem Wissen der Cyber- oder Internetpsychologie im Gepäck lernen Sie, unternehmensrelevante Mechanismen neu zu betrachten. Sie lernen, wie Mitarbeiter im Internetzeitalter geführt, motiviert oder eingesetzt werden. Und wie ein Produkt oder Ihr Unternehmen idealerweise beworben werden kann.
1 | Warum wir Wissen über die Cyberpsychologie benötigen |
Montagmorgen, der Handywecker klingelt. Aufstehen, Morgentoilette, dabei die neuen WhatsApp-Nachrichten lesen, die neuesten Push-Benachrichtigungen von meiner Tageszeitung sowie vier Posts über unternehmensrelevante Entwicklungen. Wieder ein Blick aufs Handy, ach, schon so spät. Was sagt denn die Wetter-App. Schönes Wetter? Komisch, der Blick aus dem Fenster suggeriert mir aber was anderes. Okay, vorsichtshalber die Meteorologen-App herunterladen und schauen, wie sich das Wetter tagsüber entwickelt. Tatsächlich, gegen Mittag soll es schön werden. Also kurzärmlig und Sommerlook. Gott sei Dank, es gibt noch einen E-Roller, schnell den QR-Code abscannen und losfahren. Auf dem Weg zur Arbeit noch ein paar Brötchen und einen Kaffee kaufen, hier schnell mit dem Handy bezahlen. Praktisch. Ich komme in der Arbeit an und setze mich erst mal vor meinen PC. Internet – schon wieder. Oder immer noch? Aber diesmal stationär.
Wir legen täglich völlig freiwillig Datenspuren. Was wirklich mit unseren Daten passiert, werden wir in Gänze wohl nie erfahren – aber wie das Internet uns beeinflusst, erfahren wir täglich.
Seit der Entwicklung der Hypertext Markup Language kurz HTML, der Code, der benötigt wird, um einen Webinhalt zu strukturieren, durch Tim Berners-Lee Anfang der 1990er-Jahre ist das World Wide Web exponentiell gewachsen (Friedman 2005). Innerhalb von drei Jahren hat es das Internet geschafft, fünf Millionen Benutzer, auch User genannt, für sich zu gewinnen. Zum Vergleich, das Radio hat hierfür 30 Jahre benötigt. Das iPhone 5 benötigte für die gleiche Anzahl lediglich drei Tage. Mit der Einführung des iPhones und somit dem ersten Smartphone durch Steve Jobs war das World Wide Web ab 2007 auch für jeden mobil, der kein BlackBerry wollte. In dieser Zeitspanne wuchs nun eine Generation heran, die dank dieser beiden revolutionären Errungenschaften, Internet und später Smartphone, in nahezu symbiotischer Form mit dem Internet verschmolzen ist. Zu ihr gehören vor allem die ab 1995 Geborenen, die in den Medien als Generation Z bekannt sind. Die Mitglieder dieser Generation nutzen jede Gelegenheit, um gebannt Neuigkeiten auf Instagram, TikTok und Snapchat zu teilen, zu liken und zu kommentieren. Jugendliche verbringen mehrere Stunden pro Tag im Internet, davon die meiste Zeit in den sozialen Netzwerken. Der durchschnittliche Vertreter dieser Generation Z, von mir gerne auch Homo interneticus genannt, verbringt vier bis sechs Stunden täglich im Netz. Bedenkt man, dass ein Mensch im Schnitt sieben bis acht Stunden schläft und auch noch zur Schule oder Arbeit geht, sind schnell drei Viertel des Tages vorüber. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für die Offline-Welt übrig. Aber auch schon Zweijährige wischen über den Bildschirm, als wäre es ein angeborener Grundreflex, wie das Saugen oder Zugreifen. Das Internet ist aus dem Alltag dieser jungen Menschen nicht mehr wegzudenken. Vor allem weil die Hürden durch das Smartphone komplett genommen wurden. Jeder kann quasi immer und überall mit zwei „Daumen-Drücker“ im Internet sein.
Die JIM-Studie 2019 hat ergeben, dass 90 % der Zwölf- bis 19-Jährigen hauptsächlich mit dem Smartphone ins Internet gehen (Bild 1.1). Das extreme und vor allem mobile Nutzungsverhalten hat Folgen auf die Psyche, das Verhalten und die Wahrnehmung.
Bild 1.1 Häufigkeit der Geräte, um online zu gehen (JIM-Studie 2019, S. 22)
Die omnipräsente Internet- und Smartphone-Nutzung fordert ein tieferes Verständnis für die Online-offline-Überschneidungen ein. Die permanente Interaktion mit dem Internet in allen Lebenslagen inklusive Arbeitswelt benötigt gerade dieses Verständnis in Zukunft verstärkter. Ein Wissen über die Mechanismen der Internetnutzung, die Auswirkungen auf den Menschen, auf das Erleben und Verhalten ist wichtig, um das heutige Leben an sich verstehen zu können. Und genau das erklärt die Psychologie im Internetkontext, die Cyber- oder Internetpsychologie.
1.1 | Neuronale Entwicklung |
Am Ende eines jeden Tages entsperrt ein durchschnittlicher Nutzer ca. 120-mal sein Smartphone. Junge Menschen haben am Ende eines Tages knapp 300 Nachrichten bzw. Infos gelesen oder versendet. Dazwischen müssen unzählige Werbebotschaften überflogen und gefiltert werden. In der Regel haben sie also 4000- bis 5000-mal das Smartphone angefasst.
Diese Fokussierung auf ein doch relativ kleines Gerät in dieser enormen Nutzungsmenge führt zu einer einseitigen Belastung des Daumens, der Augen und der Wirbelsäule infolge der oft gebeugten Haltung. Es trainiert aber auch die digitale Wahrnehmung.
Aus der Hirnforschung und Neurologie wissen wir, dass oft ausgeführte Tätigkeiten Spuren im Gehirn hinterlassen, vor allem in den besonders beanspruchten Regionen. Und tatsächlich konnten Wissenschaftler feststellen, dass durch die häufige Smartphone-Nutzung der motorische Kortex des Gehirns verändert wurde. Vor allem die Repräsentation der Finger und insbesondere der Daumen in diesem Hirnareal sind im Vergleich zu früher nun überproportional vertreten (Montag 2015, 2017, 2018).
Das wird jedoch nicht dafür sorgen, dass wir Menschen zukünftig geschickter mit dem Daumen sind, besser malen können oder fingerfertiger werden. Es sorgt nur dafür, dass wir effektiver und schneller bei der Smartphone-Nutzung werden.
Menschen, die seit Kindesbeinen gelernt haben, mit dem Smartphone umzugehen, sind den Menschen, die sich das erst im Erwachsenenalter angeeignet haben, in Sachen Smartphone-Nutzungsgeschwindigkeit überlegen.
Die tägliche massive Nutzung von Social Media hinterlässt ebenfalls ihre Spuren im Gehirn. Christian Montag und sein Team beobachteten über fünf Wochen 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Hinblick auf ihre Social-Media-Nutzung am Smartphone. Sie konnten mithilfe von strukturellen Hirnscans feststellen, dass es einen großen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und der Dauer der Smartphone-Nutzung und einem geringeren Volumen „grauer Substanz“, also von Nervenzellenansammlungen des Nucleus accumbens gibt (Montag, Reuter 2017). In weiteren Studien zeigte sich zudem, dass dieser Bereich besonders aktiv war, wenn es um „Likes“ für eigene Bilder und Posts auf Instagram und Co ging (Montag et al. 2017).
Diese Änderungen haben Vorteile für die Cyberwelt. Man reagiert schneller und kann geschickter mit den kleinen Icons umgehen. Für die analoge Welt haben diese Änderungen jedoch bis dato keine bekannten Vorteile. Im Gegenteil, Studien von Aviad Hadar und Kollegen konnten in einem längsschnittlichen Design 2017 zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Smartphone-Nutzung und schlechteren arithmetischen Leistungen, wie z. B. dem Lösen von Mathematikaufgaben unter Zeitdruck, gibt. Darüber hinaus stellten die Wissenschaftler fest, dass die Probanden sensibler auf soziale Zurückweisungen reagieren. „. . . increased fear of social threats leading to high conformity and anxiety regarding social acceptance and approval“ (Hadar et al. 2017, S. 11).
Die Generation, die mit dem Internet groß geworden ist, hat sich zusammengefasst in vielen Bereichen auch neuronal (weiter)entwickelt. Diese Generation hat sich geändert und versteht somit auch vieles aus der „analogen Welt“ nicht mehr. Dieser Nachwuchs wünscht sich nicht nur einen anderen Arbeits- und Führungsstil, er kann mit dem Herkömmlichen oft gar nichts mehr anfangen. Es fehlt schlicht die Fantasie hierfür. Die analoge Welt wird immer weiter zurückgedrängt. Bleiben Sie dort verhaftet, werden Sie auch immer weniger vom Homo interneticus wahrgenommen.
1.2 | Verhaltens- und Wahrnehmungsänderung |
Neben der internetbedingten Verhaltensänderung hat sich auch die Wahrnehmung geändert. Durch den täglichen Gebrauch von Smartphones sowie den täglichen Konsum des Internets sind viele junge Menschen so gut auf die Online-Welt trainiert, dass es hier signifikante Wahrnehmungsunterschiede gibt zwischen dem älteren Homo analogus und dem jüngeren Homo interneticus. Junge Menschen achten im Internet z. B. viel mehr auf Authentizität, erkennen Fake News schneller und akzeptieren die intuitiven Steuerungen früher.
Das Institut für Generationenforschung aus Augsburg hat 2019 440 Menschen aller gängigen Generationen eine typische Szene einer Influencerin und demgegenüber eine eines bekannten Schauspielers gezeigt, die beide auf dem Bild jeweils eindeutig als Werbeträger erkennbar waren. Es wurde zusätzlich noch mal darauf hingewiesen, dass das jeweilige Produkt kommerziell beworben wird.
Die Influencerin trug ein Waschmittel in Form einer Tragetasche und machte ein Selfie in ihrem Zimmer. Der Schauspieler hielt eine Espressotasse in die Kamera.
Auf die Frage, welcher der beiden Werbeträger nun authentischer wirke, gaben 83 % der Generation Z die Influencerin als die authentischere an. Interessanterweise konnten 76 % der Vertreter der Generation X (Jahrgang 1965 bis 1979) und Babyboomer (Jahrgang 1949 bis 1964) dies nicht bestätigen. Sie empfanden die abgebildete Influencerin in keiner Weise als authentisch. 65 % der älteren Probanden ab 39 Jahren fanden Werbeträger generell unauthentisch.
Die jüngeren Probanden (bis ca. 27 Jahre) gaben zu bedenken, man könne bei dem Schauspieler förmlich das Drehbuch aus dem Bild herauslesen, außerdem wirke er austauschbar und sein Produkt ebenfalls. Er könne in dieser Pose ebenso einen Tee oder eine Schokolade bewerben. Betreffend der Influencerin bestätigten 78 % der unter 27-Jährigen, dass man sehe, dass die Influencerin selbst auf die Idee des Fotos kam. Das Foto (Selfie) wirkt für sie stimmiger, „runder“ und somit kongruenter als das Foto des Schauspielers. Dieses mentale Modell über die Entstehung des Werbematerials wurde also von den jüngeren Probanden als authentischer wahrgenommen.
Die älteren Probanden schienen beim Betrachten des Schauspielers einem gewohnten Wahrnehmungsmuster zu folgen. Sie waren es gewohnt, dass Werbeträger nicht zwangsläufig etwas mit dem Produkt gemeinsam haben müssen. Ein TV-Moderator macht Werbung für Fruchtgummi, ein Fußballer für Alkohol und ein Schauspieler für Kaffee. Aus dieser Welt kamen sie. Das Bild der Influencerin entsprach nicht diesem Schema und wurde daher als weniger stimmig und weniger authentisch empfunden.
Was wir wahrnehmen, prägt unser Denken, Fühlen, unsere Erwartungen von der Welt. Unterschiedliche Wahrnehmungen haben daher weitreichende Konsequenzen.
1.3 | Soziale Identität im Internet |
Ich like, also bin ich! Oder: Quo vadis homo digitalis?
Die einstige Schlussfolgerung des Gedankenexperiments von René Descartes (*1596 – † 1650) hieß im Original: „Je pense donc je suis“ später auf Latein: „Cogito ergo sum.“ Descartes stellte sich vor, wenn all unsere Wahrnehmung nur fiktiv wäre, quasi wie ein Traum (Schmidt 2011), wie können wir wissen, dass wir wach sind oder immer noch träumen? Oder nie wach waren? Wie können wir wissen, dass das, was wir sehen, wahr ist?
Weil wir denken können, weil wir uns vorstellen können, dass wir träumen, sind wir real – existieren wir! Auch außerhalb eines Traumes. Somit hat er sein Traumargument bzw. seine Zweifel an allem widerlegt. Heute würde Descartes wahrscheinlich vor seinem Tablet oder Smartphone sinnieren und nach einem Post oder einem philosophischen Meme an seine Follower beim Erhalten des „Daumen-Rauf“ zum Schluss kommen: „Je like donc je suis.“ „Ich like, also bin ich.“
Bild 1.2 René Descartes
Der Homo interneticus geht nicht online – er lebt förmlich online. Die „Digital Natives 2.0“, die „selbständigen digitalen Eingeborenen“. Dieses Phänomen beeinflusst die Persönlichkeits- und Identitätsbildung. Die Identitätsentstehung ist ein ständiger Prozess, der im Dialog unserer inneren Bedürfnisse und dem gesellschaftlichen Wertesystem bzw. dessen Erwartungen steht. Das Feedback unserer Mitmenschen, unser soziales Umfeld nimmt dabei eine große Rolle in der Identitätsbildung ein.
Es wird zwischen einer sozialen und einer personalen Identität unterschieden. Die personale Identität ist unser Selbstkonzept und es bestimmt, wie wir uns selbst wahrnehmen. Die soziale Identität beschreibt unsere sozialen Rollen und die Positionierung, die wir in einer gesellschaftlichen Ordnung einnehmen.
Auch der Cyberspace beeinflusst den Prozess der Identitätsbildung stark. So ist es heutzutage nicht mehr nur die personale und soziale Identität im Offline-Modus, die wir pflegen müssen. Viel interessanter ist für die meisten mittlerweile ihre jeweilige digitale Identität. Diese digitale Identität hat wiederum Einfluss auf unsere Offline-Identität. Als Referenzpunkt wird nicht mehr nur das reale Umfeld zurate gezogen, stattdessen orientiert man sich immer stärker am Netz. Die stärkste Prägung der Identität eines Menschen findet in der Kindheit und Jugend statt.
Die Generation Z ist die erste Generation, die eine Welt ohne Social Media nicht kennt, und folglich sind Social Media ein fester Bestandteil ihrer Identitätsbildung geworden.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass der technische Einfluss in Zukunft noch intensiver werden wird und die nächsten Generationen somit noch mehr durch das Internet beeinflusst werden.
1.4 | Die Generation Alpha – Digital Natives 3.0 |
Die Generation Alpha (geboren ab 2010) wächst als zweite Generation in dieser Smartphone-Welt auf. Sie werden jetzt schon early adopters genannt, da sie die Technik intuitiv von Anfang an aufnehmen, quasi mit der digitalen Muttermilch. Sie können schon swipen, scrollen und Touchscreens benutzen, bevor sie überhaupt sprechen können.
Die Hardware- und Softwareindustrie hat darauf schon längst reagiert. Es gibt Internet- und Smartphone- oder Tablet-Spiele, die speziell auf Kindergartenkinder ausgerichtet sind. Inklusive versteckter Usability-Tests, um die Spiele nach deren Ergebnissen noch intuitiver, noch interessanter und noch nutzerfreundlicher zu machen. Oft bekommen die Kinder in diesem Alter noch kein neues Smartphone, sondern ein altes der Eltern. Eben eines, bei dem der Speicherplatz noch begrenzt ist, was zur Folge hat, dass diese Kinder Apps sofort löschen, wenn diese nicht mehr interessant genug sind. Diese Kinder werden so von Anfang an auch auf das digitale Loslassen von „Unbrauchbarem“ trainiert. Was nochmals eine Beschleunigung der „Schnelllebigkeit“ zur Folge haben wird.
Betrachtet man die beiden unterschiedlichen Smartphone-Nutzungen, so wird man bei älteren Menschen im Schnitt wesentlich mehr Apps auf dem Smartphone finden als bei jüngeren Nutzern. Auch darauf versuchen die Apps- und Spielehersteller zu reagieren. Dank Usability-Tests direkt an den Usern und in Echtzeit. Es beschäftigen sich ganze Forschungszweige mit dieser Art von Zielgruppe und ihrer Usability.
1.5 | Anpassungen an das Internet |
Die Entwicklungen gehen weiter. Bald schon werden die Internet-Devices, wie Laptop, Smartphone und Smartwatches, als unpraktisch angesehen und es wird eine direkte Verbindung von Körper und Netz angestrebt. 32 % der unter 15-Jährigen in Deutschland wünschen sich einen eingebauten Chip, der dies direkt ermöglicht (brand eins 03/2019, Digitalisierung in Zahlen).
In einigen Ländern gibt es dies schon, wie z. B. in Schweden. Dort lassen sich viele Menschen Chips unter die Haut implantieren, beispielsweise um dadurch bequemer im öffentlichen Nahverkehr zahlen zu können.
Bald müssen wir uns auch ernsthaft die Frage stellen, was den Menschen wirklich von einer Maschine unterscheidet. Dies scheint zumindest heute noch trivial zu sein. Ein Mensch besteht aus organischem Material, er lebt und atmet. Eine Maschine hingegen besteht aus Plastik und Metall. Im Regelfall schreiben wir Menschen, die nicht gerade Soziopathen sind, Gefühle und bewusste Erfahrungen zu. Menschen verhalten sich nicht nur ähnlich in ihrer Art und Weise, zu leben und zu interagieren, sondern ihre Gehirne und kognitiven Strukturen sind ebenfalls ähnlich aufgebaut. Ein künstlicher Intellekt hingegen ist von Grund auf anders aufgebaut als ein menschlicher, dennoch kann eine künstliche Intelligenz (KI) menschenähnliches Verhalten zeigen, das normalerweise eine Persönlichkeit darstellt (Bostrom, Yudkowsky 2014). Eine KI kann also zweckmäßig eine menschliche Person darstellen, jedoch hat sie keine Empfindungsfähigkeit. KI besitzt schlicht keine Theory of Mind.
Der Cyberraum wird immer mehr mit der Realität verschwimmen. Bestellungen, Wegbeschreibungen oder Kontaktdaten, für all das benötigen wir heute unser Smartphone. Für alltägliche Dinge benutzen wir das Internet, auch in der Arbeit. Internet of Things, kurz IOT, oder das deutsche Äquivalent „Arbeit 4.0“ bedeutet, dass jetzt schon etwa 50 Milliarden „Dinge“ mit dem Internet verknüpft sind. Eine unvorstellbare Zahl. Das bedeutet sechs Dinge für jeden Menschen dieser Erde. Und es werden mehr. Arbeit und Internet werden immer mehr und mehr verknüpft sein, aber auch unser komplettes Leben mit all den Alltagsgegenständen. Bald werden viele „Dinge“ eine IP-Adresse haben, von denen wir nie gedacht hätten, dass sie mit dem Internet kommunizieren müssen. Hätte jemand vor 20 Jahre gedacht, dass ein Auto an drei verschiedene Cloud-Systeme permanent Daten sendet? Dass ein Kühlschrank, eine Waschmaschine oder eine Brille mit dem Internet verbunden sein muss? Schuhe, Socken, Uhren, alles wird bald mit dem Internet verbunden sein, um unser Leben zu „erleichtern“. Für die jetzigen Kinder bald ein völlig normaler Zustand.
Forscher schätzen, dass in zehn Jahren etwa 90 Milliarden Alltagsgegenstände mit dem Internet verbunden sein werden (Watson 2014).
Maschinen werden zwar in absehbarer Zukunft nicht fähig sein, Emotionen zu empfinden. Aber sie können bereits Emotionen nachahmen. Roboter in der Pflege z. B. sollen von den Patienten als Gefährte oder Freund wahrnehmbar sein. Und auch in die Kinderzimmer hat die KI längst Einzug gehalten. Beispielsweise ein Roboterbaby, nennen wir es Anna, das Babygeräusche macht und sogar unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigt. Wenn Anna weint und ein Kind es daraufhin in den Arm nimmt, „beruhigt“ sich Anna wieder. Wie ein echtes Baby.
Bild 1.3 Mädchen mit Roboterbaby
„Analoges Spielzeug“ ist passiv, Akteur ist allein das Kind. Von seiner Fantasie und Kreativität hängt es ab, ob die Puppe gedrückt, angezogen oder in den Schlaf geschaukelt wurde. Die digitale Anna bringt allerdings selbst zum Ausdruck, was sie will bzw. worauf sie programmiert ist. Das Kind reagiert nur. Kinder bekommen dadurch einen völlig anderen Zugang zu einem „künstlichen Wesen“. Wenn ein Roboter Augenkontakt hält, dem Blick folgt, einem entgegenkommt, neigen Kinder dazu, einen solchen Computer als empfindungsfähiges und sogar fürsorgliches Gegenüber zu betrachten (Turkle 2004).
Es kann auch sein, dass den Kindern der Generation Alpha die humanoide Freundin Anna in Gänze mehr bedeutet als der „echte“ Nachbarjunge Maxi. Das war bis dato bei manchen Kindern auch mit ihrem Nicht-Roboter-Kuscheltier der Fall. Ein klassisches, analoges Spielzeug bringt zumindest den Vorteil, dass man beim Spiel mit einer alten, abgenutzten Puppe lernt, seine Fantasie zu nutzen. Aber was lernt man bei einer Roboterpuppe? Dass der Akku rechtzeitig geladen werden muss? Dass die Roboterpuppe vorgibt, was und wie gespielt wird? Jedenfalls lernen die Kinder, eine Beziehung zu einer Maschine aufzubauen und für diese etwas zu empfinden. (Quo vadis homo digitalis?)
Eindrücke aus der Kindheit als prägende Phase werden mit in das Erwachsenenleben transportiert. Ob das nun für ein Leben in einer immer stärker digital geprägten Welt positiv oder negativ ist, sei dahingestellt.
Bereits jetzt ist ein Arbeiten ohne PC unvorstellbar. Mittlerweile arbeitet fast die Hälfte der Deutschen mit Computern am Arbeitsplatz. Selbst „klassische“ Handwerksberufe sind inzwischen auf PC und Internet angewiesen: Möbel oder Autoteile werden beispielsweise am PC gezeichnet und anschließend noch per Hand oder durch die Bedienung von Maschinen gefertigt. Doch auch diese praktischen Tätigkeiten können zukünftig ganz durch PCs ersetzt werden. 3-D-Drucker können gegenwärtig z. B. schon ganze Teile eines Autos eigenständig herstellen.
Derzeit befinden wir uns noch in der Dienstleistungsgesellschaft. Eine Form der Gesellschaft, die die industrielle Gesellschaft, die wesentlich durch die Produktion von Gütern gekennzeichnet war, überwunden hat. Nun dominieren nicht mehr Güter, sondern Dienstleistungen vor allem via Internet in Handel, Verkehr, Telekommunikation, Banken oder Versicherungen. Diese leisten den größten Beitrag zur wirtschaftlichen Wertschöpfung. Doch Wissenschaftler gehen davon aus, dass auch diese Gesellschaftsform bald überwunden sein wird. Wir befinden uns in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs hin zur „Informations- oder Wissensgesellschaft“. Und das Internet hat hierfür die Weichen gestellt:
Die permanente Verfügbarkeit von Informationen ist für unser Arbeiten ein Muss. Ohne die digitale Technologie kann beispielsweise der Handwerker heute schon keine Zeichnungen mehr anfertigen oder der Banker keine Daten abrufen.
„Smart Work“ heißt dieses neue Arbeitsmodell, insofern, dass es zum Aufbau der Informations- und Wissensgesellschaft beiträgt. Es soll die vorhandenen Technologien nutzen, um ein effizienteres und flexibleres Arbeiten zu ermöglichen. Da internetfähige Arbeitsgeräte einen Zugang zum Netz überall und jederzeit schaffen, sollen unsere jetzigen Arbeitsplätze durch all die Orte ersetzt werden, an denen wir Internet haben. In Ansätzen können wir das bereits im Homeoffice sehen. „Smart“ ist diese neue Form des Arbeitens vor allem deswegen, weil die neuen Technologien eine produktivere Arbeitszeit ermöglichen werden. Unsere internetvernetzten Geräte werden uns hier zukünftig eine Hilfe sein: Die Smartwatch zeigt die Mittagspause an, der Kühlschrank hat bereits Milch für den Kaffee nachbestellt und an der Türe klingelt auch schon der Lieferdienst, der das Mittagessen vorbeibringt . . . Willkommen in der Welt der Internetintelligenz.
Es wird immer wieder das Ende der Dienstleistungsgesellschaft, wie wir sie kennen, beschrieben und auf die nahe Zukunft datiert. Der technische Fortschritt und die Automatisierung werden das Bild der Wirtschaft sowie der Gesellschaft maßgeblich und nachhaltig verändern, sodass wir uns irgendwann in der beschriebenen Informations- und Wissensgesellschaft befinden. In dieser Form der Gesellschaft übernehmen Roboter nahezu alle ausführenden und teils auch planenden oder entscheidungsrelevanten Aufgaben.
Wir benötigen Wissen über die Cyber- oder Internetpsychologie, weil
. . . zukünftige Generationen immer stärker in digitalen Strukturen leben und alles, was sich digital übersetzen lässt, besser wahrgenommen bzw. das, was sich nicht digital darstellen lässt, immer weniger oder gar nicht mehr wahrgenommen wird.
. . . die Technologie das Denken und auch die Wahrnehmung direkt verändert. Das Internet macht uns zwar nicht klüger, aber es verändert uns.
. . . das Internet nicht nur die Identitätsentwicklung beeinflusst, sondern auch eine eigene soziale Welt darstellt und eine eigene Realität kreiert.
. . . ein Leben ohne Digitalisierung für Jüngere nicht vorstellbar ist.
. . . die Grenzen zwischen Mensch und Maschine immer fließender werden.
. . . sich die Gesellschaft hin zu einer Wissens- und Informationsgesellschaft entwickeln wird, in der die Digitalisierung alles umfassen und bestimmen wird.
2 | Die Geschichte der Internetpsychologie und die Entwicklung des Homo interneticus |