Boris Akunin
Die Entführung des Großfürsten
Fandorin ermittelt
Roman
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke
Die Originalausgabe unter dem Titel
Koronazia
erschien 2001 bei Sacharow-AST, Moskau.
ISBN 978-3-8412-0161-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© B. Akunin 2001
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Umschlaggestaltung Torsten Lemme
unter Verwendung der Gemälde »Der Student«, 1881,
von Nikolai Alexandrowitsch Jaroschenko
und »The Letter«, 1876–78, von James Jacques Tissot
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH,
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20. Mai
Er starb vor meinen Augen, dieser seltsame und unangenehme Herr.
Es ging schnell, sehr schnell.
Die Schüsse krachten, und er wurde gegen das Seil geschleudert.
Er ließ den kleinen Revolver fallen, griff nach dem schwankenden Geländer und erstarrte mit zurückgeworfenem Kopf. Sein weißes Gesicht mit dem Querstreifen des Schnurrbarts blinkte auf und verschwand wieder hinter dem schwarzen Flor.
»Erast Petrowitsch!« rief ich, ihn zum erstenmal mit Vor- und Vatersnamen ansprechend.
Oder hatte ich nur rufen wollen?
Der unsichere Untergrund schaukelte unter seinen Füßen. Plötzlich flog sein Kopf, wie von einem kräftigen Stoß, nach vorn, der Körper kippte mit der Brust gegen das Seil und stürzte im nächsten Moment mit einer plumpen Drehung hinab, hinab, hinab.
Die kostbare Schatulle entglitt meinen Händen, schlug auf einen Stein und zerbarst, die Brillanten, Saphire und Smaragde entfachten ein blendendes vielfarbiges Gefunkel, aber ich warf keinen Blick auf die unermeßlichen Schätze, die ins Gras fielen.
Aus der Schlucht drang der knackende Laut des Aufpralls, und ich stöhnte auf. Die schwarze Gestalt rollte immer schneller den steilen Hang hinunter und kam erst direkt am Bach zum Halten, wo sie willenlos eine Hand ins Wasser tauchte und so liegenblieb, das Gesicht auf den Kieselsteinen.
Ich hatte diesen Mann nicht gemocht. Hatte ihn vielleicht sogar gehaßt. Jedenfalls gewollt, daß er ein für alle Mal aus unserem Leben verschwand. Doch den Tod hatte ich ihm nicht gewünscht.
Sein Handwerk war das Risiko, er hatte stets mit der Gefahr gespielt, aber sonderbarerweise hätte ich nie gedacht, daß er umkommen könnte. Ich hielt ihn für unsterblich.
Ich weiß nicht, wie lange ich so stand und gebannt nach unten starrte. Wahrscheinlich nicht lange. Aber die Zeit hatte gleichsam einen Riß bekommen, war auseinandergebrochen, und ich stürzte in diesen Spalt – in das frühere, sorglose Leben, das genau zwei Wochen zuvor abgerissen war.
Ja, es war auch ein Montag gewesen, der 6. Mai.