Das Horn erklang, lange bevor Kazim irgendwas am graublauen Meereshorizont erkennen konnte. Dann erschien die Spitze eines Mastes, das Flackern von Segeltuch. Eine Flagge war nicht auszumachen, aber die trapezförmigen Segel und der bauchige Rumpf ließen auf ein Handelsschiff aus Samarra schließen, das mit seiner Fracht unterwegs nach Rabiyah war. Wahrscheinlich mit Gewürzen oder Stoffen, vielleicht sogar Seide. Auf jeden Fall eine aussichtsreiche Beute, die früher einmal für heiteren Krawall am Deck des Piratenschiffs gesorgt hätte. Kazim machte sich jedoch gar nicht erst die Mühe, sein Entermesser für die Übernahme des feindlichen Schiffes zu ziehen. Nach Durak, dem Kapitän, war er der oberste Befehlshaber über die Mannschaft. Zu anderen Zeiten hätte er bei der Sichtung eines Handelsschiffs die Kanonen zünden lassen, wäre kreuz und quer über Deck gerannt und hätte Befehle geschrien, während das Blut vor Erregung durch seine Adern rauschte.
Jetzt stand er nur noch untätig an der Reling und beobachtete den hoffnungslosen Versuch des Handelsschiffs, ihnen mit Hilfe eines Wendemanövers auszuweichen. Der Wind stand günstig, blies mit gewaltiger Kraft in ihre Segel und trug sie direkt auf das Schiff zu. Von den anderen Männern an Bord rührte sich ebenfalls kaum einer. Ein paar von ihnen grölten vor Gier und reckten ihre Waffen in die Luft, als bereiteten sie sich auf einen Kampf vor, der niemals stattfinden würde. Ihre Hilfe wurde nicht benötigt. Nicht seitdem der Djinn ihrem Schiff folgte: Jaal, Ranis neuer Freund.
Kazim begann zu wünschen, dass Rani den Djinn niemals aus seiner Flasche befreit hätte, dass sie sich niemals auf ein törichtes Bündnis mit ihm eingelassen hätte. Den Djinn war nicht zu trauen, das wusste jeder. Kazim glaubte keine Sekunde lang, dass Jaal dem Mädchen Gutes wollte.
Jaal stand an der Spitze des über das Wasser ragenden Bugspriets. Ein gewöhnlicher Mensch hätte sein Gleichgewicht auf der dünnen Spiere niemals halten können, doch Jaal stand so ruhig darauf, als wäre er an Ort und Stelle aus Stein gemeißelt worden. Er ließ sich auch von den peitschenden Gegenwinden nicht aus der Fassung bringen. Sein Blick war auf das samarrische Schiff gerichtet. Als sie nur noch eine knappe Seemeile trennte, stieg er von der Spiere ins Leere. Kazim zuckte beim Anblick kurz zusammen, aber natürlich stürzte Jaal nicht ab. Seine Füße fanden in der Luft Halt, wo es eigentlich keinen Halt geben konnte. Wie auf unsichtbaren Stufen stieg er vom Bugspriet in die Höhe. Er schwebte auf das Handelsschiff zu und während er auf sie zuflog, wuchs seine menschliche Form immer weiter an, wurde doppelt, dreifach, zehnfach so groß, bis er einen Schatten ähnlich einer Sturmwolke warf, der das gesamte Schiff überdeckte. Das Wasser rund um das Schiff begann zu kochen, Dampf stieg auf, mannshohe Blasen zerplatzten an der Oberfläche und spritzten bis zu den Segelmasten empor.
Die Männer an Deck begannen zu schreien, hohe, verzweifelte Töne, die bis zu ihnen herüberdrangen. Kazim konnte sich vorstellen, dass sie beteten und Schutzzauber aufsagten, doch nichts davon würde sie vor dem Djinn beschützen. Die Djinn waren wie Naturgewalten. Es gab keinen Kampf, nur Ergebung vor dem Schicksal. Wahrscheinlich war es das, was Kazim am meisten ängstigte – das Wissen, über welche Macht der Djinn verfügte, und dass sie sich nicht davor schützen könnten, sollte sich diese Macht jemals gegen sie richten. Heute kämpfte Jaal an ihrer Seite, aber die Djinn waren launisch und so wechselhaft wie ein Sturm auf See. Wer sagte ihm, dass sie Jaal nicht morgen schon als Feind gegenübertraten? Er wäre ihrer aller Ende.
»Ergebt euch«, befahl Jaal mit schwerer, bodenloser Stimme, die wie Donnerschläge über sie hinwegfegte und die Bodenplanken unter Kazims Füßen erzittern ließ. Und natürlich ergaben sie sich. Wer würde das nicht im Angesicht eines solchen Dämons? Jaals Augen glühten golden und die Luft war erfüllt von dem rußigen Geruch des Feuers. Die Männer warfen sich vor ihm auf den Boden. Kein Kampf. Nicht einmal ein Aufflackern davon. So war es bei jedem Schiff, das sie überfielen.
Kazim gab ja zu, als sie das erste Mal mit Jaal in See gestochen waren, hatte die Aussicht, einen Djinn im Gefolge zu haben, einen gewissen Reiz auf ihn ausgeübt. Sie waren unbesiegbar, inzwischen erzitterten die meisten beim bloßen Anblick ihrer Flagge. Aber nun, Monate später, fing er an sich zu langweilen. Er war nicht Pirat geworden, um einen Djinn seine Schlachten kämpfen zu lassen. Er wollte selbst im Getümmel stehen, Schweiß im Nacken, Blut an den Händen; den Tod spüren, wenn er sein Entermesser zog, und ihn eigenhändig besiegen. Nun nutzte er sein Messer höchstens noch zum Kartoffelschälen. Er fühlte sich wie ein Versager. Wie ein Tunichtgut. Er hatte so vieles zurückgelassen, um dieses Leben führen zu können, frei zu sein von allen Verpflichtungen und sich vor niemandem mehr rechtfertigen zu müssen. Ein Djinn durfte ihm das nicht kaputt machen.
Kazim sah sich verstohlen nach Rani um, die nicht weit von ihm an der Reling stand, den Oberkörper nach vorne gebeugt, um auch ja nichts vom Spektakel zu verpassen. Ihre Augen glänzten ohne jedes Anzeichen von Furcht. Sie sah den Djinn als ihren Freund an. Machte sie das besonders mutig oder besonders dumm? Vielleicht beides. Zum Teil bewunderte er sie dafür, dass sie so furchtlos mit dem Djinn umgehen konnte, so vertraut, als wären sie einander tatsächlich ebenbürtig und nicht, als könnte der Djinn sie innerhalb eines Wimpernschlags vernichten. Andererseits war es ihre Schuld, dass Jaal ihnen im Nacken saß. Sie war die Tochter des Kapitäns. So einfach würden sie also weder Rani noch den Djinn wieder loswerden.
Das feindliche Schiff war ihnen nun nah genug, dass er das Wimmern der Männer an Bord hören konnte. Mehr aus Gewohnheit zog Kazim seine Waffe.
»Bereit machen zum Entern!«, schrie er in den Wind hinein.
Ein Überfall ohne Gegenwehr war zwar weniger befriedigend, aber das hieß nicht, dass er sich nicht trotzdem an ihrer Beute bereichern würde.
***
Jaal zog sich zurück, nachdem der Kapitän des Handelsschiffs sich ergeben hatte und die Mannschaft die Waffen niederlegte. Er stieg hoch in die Lüfte, in den wolkenlosen Himmel hinauf, und ließ sich von den Winden treiben. Von dort aus wahrte er den Überblick über das weitere Geschehen. Die Piraten hatten das Handelsschiff erreicht. Mit Enterhaken hatten sie es dicht an das eigene Deck herangezogen und sprangen nun über die Reling auf das feindliche Schiff. Jaals Blick galt vor allem Rani, die sich wie immer als eine der ersten ins Getümmel stürzte. Sie schwang einen Säbel, der viel zu groß für ihre zierliche Figur war, und grinste dabei über das ganze Gesicht. Sie war der einzige Grund, weshalb er den Piraten half, weshalb er sich überhaupt mit Menschen abgab, die er, bevor er Rani kennenlernte, immer als niedere Wesen weit unter seiner Würde angesehen hatte. Da war aber etwas an diesem Mädchen, das ihn von der ersten Sekunde an unweigerlich in ihren Bann gezogen hatte. Eine ungebändigte Leidenschaft für das Leben, für alles, das sie umgab. Eine ausgelassene Freude und Heiterkeit. Ein Feuer in ihr, das so viel heller brannte, als alles, was er bislang gesehen hatte. Er hätte ihr ewig zusehen können, einfach nur dieses Funkeln in ihren Augen, die Art, wie sie lächelte und sich für alles begeisterte. Sei es die Färbung des Himmels oder ein besonders schönes Schmuckstück wie die Kette, nach der sie eben die Finger ausstreckte.
Er lebte schon so lange, doch über die vielen Jahre musste er vergessen haben, was Leben wirklich war. Erst durch Rani begann er die Bedeutung dieses Wortes langsam wieder zu erahnen.
»Ist das ein Lächeln auf deinem Gesicht? Ich schwöre, in all den Jahrhunderten habe ich dich kein einziges Mal lächeln gesehen.«
Sie kam ohne Vorwarnung, ohne eine Veränderung der Luftströme. Blaugrauer Rauch bildete sich aus dem Nichts an seiner Seite, die Schwaden verdichteten sich und bildeten menschliche Züge – Mund, Augen, eine spitze Nase. Es folgte der Rumpf, Arme und lange dünne Finger, die wie Klauen wirkten. Mehr und mehr nahm der Rauch die Form einer jungen Frau an, doch obwohl die Grundzüge stimmten, hätte niemand den Fehler begehen können, sie mit einem Menschen zu verwechseln. Ihre Haut schimmerte bläulich in der Farbe des Meeres und ihre schlangenförmigen Augen glommen wie der goldgelbe Kern einer Flamme. Bis auf eine feine Perlenkette war ihr Oberkörper nackt, alles unterhalb ihres Bauchnabels verlor sich in den blauen Rauchschwaden, die sie wie Schlingpflanzen umwaberten.
Es war nicht ihr Äußeres, das Jaal wiedererkannte, sondern die Energie ihrer Aura.
»Zaida«, formte er ihren Namen mit den Lippen. Sie gehörte zu den Djinn, die sich auf keine Form festlegten, sondern ihr Äußeres ständig veränderten. Als sie sich das letzte Mal begegnet waren, war sie ihm als geflügeltes Ungeheuer erschienen, mit mehreren Köpfen und einem geschuppten Körper.
Zaida spannte die Mundwinkel nun ebenfalls zu einem Lächeln, aber es steckte keine Emotion dahinter, lediglich die Nachahmung einer Gefühlsregung. »Du wirkst überrascht«, sagte sie. »Hast du mich nicht kommen sehen? Du zeigst dieser Tage zu viel von dem, was du denkst. Du solltest deine Gefühle besser verschleiern. Vor allem bei den Blicken, die du diesem Menschenmädchen zuwirfst.« Zaida sah gleichfalls nach unten und folgte Ranis Schritten über das Deck mit den Augen. Die Art, wie sie die Zähne dabei bleckte, zog sich wie ein Messer durch sein Innerstes. »Ich hatte sie für schön gehalten, aber sie wirkt sehr gewöhnlich. Was siehst du in ihr?«
Jaal ließ seine Züge zu einer Maske erstarren, aber in seinem Inneren tobte ein Sturm. Er hätte damit rechnen müssen, dass die anderen Djinn ihn aufsuchen würden, aber doch nicht so bald. Nicht nachdem in ihrer Welt erst Sekunden vergangen waren, seitdem Rani den Verschluss von seiner Flasche gelöst und damit sein Schicksal verändert hatte.
»Du solltest ebenso wie ich wissen, dass wahre Schönheit kein äußerliches Merkmal ist«, erwiderte er ruhig.
Zaidas Augen verdunkelten sich zu schwarzen Spiegeln. »Also stimmt es, was man sich erzählt? Ich wollte es nicht glauben, ehe ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Der große Marid Jaal, vernarrt in eine Sterbliche. Ich werde es nicht Liebe nennen, denn das wäre eine Beleidigung für dich und unsere ganze Art.«
Feuer pulsierte durch seine Adern, ein ganzer Vulkan an Energie, hervorgerufen durch seinen Zorn, der darauf drängte, sich gegen Zaida zu entladen. Doch er hielt sich zurück, zwang sich zur Ruhe. Er war mächtiger als sie, in einem Kampf würde sie ihm rasch unterliegen. Doch was hätte er davon? Sie war die erste, aber sie würde nicht die letzte sein, die ihn aufsuchte. Die anderen Djinn wussten nun von ihm und Rani und sie würden nicht eher ruhen, bis sie sie wieder entzweit hatten. Er war ein Narr gewesen, dass er es so lange hatte fortdauern lassen. Durch seine Torheit hatte er sie in Gefahr gebracht.
Zaida musterte ihn aufmerksam. »Was tust du hier, Jaal? Mit einem Menschenmädchen? Gerade du, der unsere Gesetze besser als jeder andere kennt.«
»Ich habe keine unserer Regeln gebrochen«, sagte er wahrheitsgemäß.
»Du spielst mit dem Feuer und das weißt du.«
»Drohst du mir?« Jaal ließ als Erwiderung etwas von dem Feuer, das in seinem Inneren brannte, durch seine Augen aufleuchten. Seine Stimme bebte. »Du kennst mich gut. Besser als viele andere. Du weißt, was ich getan habe. Wozu ich im Stande bin. Denk auch nur daran, ihr zu schaden, und ich werde dich vernichten.«
»Ich bin es nicht, um die du dich sorgen musst. Aber es gibt andere, die sich durch dein Verhalten verraten fühlen. Sieh meinen Besuch als Warnung an. Vergiss das Mädchen. Kehr zu uns zurück. Die anderen Djinn werden dann vergessen, was geschehen ist. In einem Jahrhundert wird sich niemand mehr an ihre Existenz erinnern.« Ihre Lippen kräuselten sich und in ihren Augen tanzten gelbe Funken. »Nicht einmal du.«
Jaal entließ ein Fauchen. Mit einem Satz war er bei ihr und fegte mit dem Arm durch ihre Körpermitte. Anstatt Fleisch berührte er nur mehr Rauch. Blaue Schwaden umrankten ihn, verdeckten seine Sicht und durchdrangen seine Poren. Zaidas Lachen erklang so nah, als würde sie direkt in seinem Kopf sitzen. »Sie ist bloß ein Mensch. Willst du für sie wirklich alles riskieren?«
Die Worte hallten durch sein Inneres, dann löste der Rauch sich plötzlich auf, wurde vom Wind fortgerissen wie Nebelschwaden und war innerhalb von Sekunden verschwunden. Jaal überlegte kurz Zaida zu verfolgen, aber sie war nur ein Bote. Die wahre Bedrohung lauerte anderswo, dessen war er sich sicher.
Jaal verharrte immer noch regungslos in der Luft, als Minuten später die Luftströme unter ihm erneut durcheinandergewirbelt wurden. Noch immer in Alarmbereitschaft rief Jaal seine Kräfte zu sich, um im Notfall angreifen zu können, aber es war bloß Rani, die auf ihrem fliegenden Teppich zu ihm hinauf schwebte. Es war der erste Wunsch gewesen, den er ihr erfüllt hatte – den Traum vom Fliegen. Sicher hatte sie sich diesen Traum anders ausgemalt, aber die Djinn waren nicht gerade für ihre Aufrichtigkeit bekannt, was das Erfüllen von Wünschen betraf. Die Fransen des Teppichs zitterten, je höher er flog, und der Stoff schlug unruhige Wellen. Alles, was mehr als ein paar Meter vom Boden entfernt war, bereitete dem Teppich Höhenangst.
Die Piraten waren auf ihr Schiff zurückgekehrt. An Deck stapelten sie Kisten und Strohkörbe ihres Diebesguts. Zwei Männer prügelten sich um ein Fass Wein, ehe Kazim mit einem Entermesser dazwischenging und sie zur Ruhe rief. Rani war ebenfalls nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Um ihren Hals hing eine dünne, mit zarten Amuletten beschlagene Silberkette, die sie sich mehrmals umgeschlungen hatte.
Als Rani mit ihm auf einer Höhe war, stieg er zu ihr auf den Teppich und ließ sich gegenüber von ihr nieder. Auf seine Berührung hin gab er einen kurzen Ruck von sich, ehe er sich wieder glättete und zu einer bodengleichen Ebene gefror.
»Willst du mir etwas damit sagen, dass du dir Silber umhängst?«, fragte er mit Blick auf die Silberkette und ließ das Geschmeide durch die Zwischenräume seiner Finger gleiten. Die Djinn reagierten empfindlich auf Silber, doch er war mächtig genug, dass der Zauber in den Amuletten bloß ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut hinterließ.
Rani lächelte entschuldigend. »Alte Gewohnheit. Stört es dich sehr?«
Mit einem Kopfschütteln ließ er die Kette zurück gegen ihre Brust fallen, wo sie im Wind leicht hin und her schwang.
»Du siehst besorgt aus«, sagte Rani. »Alles in Ordnung?«
Ihre Worte trafen ihn wie ein Blitz. War er tatsächlich so durchschaubar geworden? Vielleicht hatte Zaida Recht. Konnte er wirklich zulassen, dass ein Mädchen, das er erst einen Wimpernschlag lang kannte, ihn so stark veränderte?
»Die Djinn«, antwortete er, jede Silbe schwer wie Blei auf seiner Zunge. »Sie haben mich gefunden.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du dich vor ihnen versteckst. Hätten wir weiter weg segeln sollen?«
Ein müdes Lächeln legte sich um seine Mundwinkel. »Entfernungen spielen für uns keine gewichtige Rolle. Ich hätte vorsichtiger sein sollen, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sie schon so früh hier auftauchen. Ich hatte gehofft noch ein paar Tage länger bei dir bleiben zu können.«
»Was meinst du damit?«, fragte Rani, deren Stimme plötzlich schrill geworden war. Sie klammerte sich bei einer aufkommenden Böe am Teppichrand fest. »Kannst du denn nicht bleiben?«
»Vergiss nicht, was ich bin.«
»Du bist Jaal.«
»Ich bin ein Djinn. Und die anderen werden nicht dulden, dass ich noch mehr Zeit unter den Menschen verbringe.«
»Aber … Heißt das, du willst einfach verschwinden? Ist das ein Lebewohl? Du kannst doch nicht –«
»Rani«, unterbrach er ihren Redefluss und sah ihr fest in die Augen. »Weißt du, was ich an ihrer Stelle tun würde? Was ich früher getan hätte? Ich hätte dich getötet. Ich hätte nicht einmal lange darüber nachgedacht oder Reue dabei empfunden.« Er wollte ihr keine Angst machen, aber es war wichtig, dass sie verstand, wie ernst die Lage war. Sie war stur. Auf eine andere Art würde sie es nicht akzeptieren.
Ranis sonnengebräunte Wangen wurden blass. »Wie Anadils Familie?«, krächzte sie.
Die Erinnerung an das, was er getan hatte, schnürte ihm die Brust zu. Er nickte wortlos.
Rani nahm seine Hand zwischen ihre Hände und hauchte einen Kuss auf seine Knöchel. »Aber dieser Jaal bist du nicht mehr.«
Die Art, wie sie das sagte, machte ihn befangen. Er war kein geläutertes Wesen. Er hatte einen anderen Blick auf die Menschen gewonnen, aber im Inneren war er noch immer der gleiche Jaal, der, wenn es die Lage erforderte, rücksichtslos mordete und Schlimmeres. Ob sie ihn immer noch auf diese Weise anlächeln und küssen würde, wenn sie von all den Dingen wusste, die er getan hatte?
Jaal musste den Blick von ihr abwenden. »Es geht nicht um mich, sondern um die anderen Djinn. Und sie würden nicht zögern ein Menschenmädchen zu töten. Ich will nicht riskieren, dass sie dich in ihre Hände bekommen.«
»Wieso kümmert es sie überhaupt? Ich meine …« Rani geriet ins Stocken, ihr Gesicht gewann wieder an Farbe und rötete sich. »Ich dachte, es geht nur darum, dass Menschen und Djinn keine Kinder bekommen sollen. Wie Anadil. Weil sie … Und wir haben schließlich nicht …«
Ihr zaghaftes Stottern lockte ein Lächeln auf seine Lippen. »Allein, dass ich bei dir bin, macht mich in ihren Augen zum Verräter. Die Djinn schätzen die Menschen nicht sehr und wenn sich doch einmal einer von uns unter euch mischt, nimmt das selten ein gutes Ende.«
»Denkst du das auch?«, fragte Rani. »Dass das mit uns kein gutes Ende nehmen wird?«
»Ich will es nicht hoffen. Aber es gibt einen guten Grund für unsere Regeln. Ich hätte niemals so lange bleiben dürfen.«
Rani zog an seinem Hemdärmel, als könnte sie ihn dadurch festhalten. »Und wenn du weggehst und sie töten mich trotzdem? Nur, um auf Nummer sicher zu gehen? Dann wäre ich doch sicherer, wenn du bei mir bleibst. Du bist mächtiger als die meisten anderen Djinn, das hast du selbst gesagt. Solange du bei mir bist, kannst du mich vor ihnen beschützen.«
»Ach, Rani …« Natürlich konnte er sie beschützen. Vor einem Djinn und sogar vor mehreren, aber nicht vor allen. Allerdings hatte sie nicht ganz Unrecht. Wäre er das Risiko eingegangen, sie am Leben zu lassen, wenn die Rollen vertauscht wären? Wahrscheinlich nicht.
Konzentriert schaute er in die Ferne. Es schien keinen vernünftigen Ausweg mehr zu geben. Egal was er tat, Rani war in Gefahr. Und das war allein seine Schuld.
»Versprich mir nur, dass du nicht einfach verschwinden wirst, ohne ein Wort zu sagen«, verlangte Rani. »Versprich mir das.«
Jaal strich die windzerzausten Strähnen auf ihrem Kopf glatt und berührte mit seinen Lippen ihr Haar. »Ich verspreche es.«
Daraufhin erwiderte Rani nichts mehr. Schweigsam saßen sie Seite an Seite auf dem Teppich, während sich unter ihnen die Schiffssegel im Wind bauschten. Die glühende Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und färbte den Himmel rot. In der Ferne wurden die äußersten Landzipfel von Samarra sichtbar. Es war wahrscheinlich das letzte Ziel, das er mit den Piraten ansteuern würde.
Jaal mochte es drehen und wenden, wie er wollte, aber innerlich wusste er, dass er am Ende angelangt war. Ihre gemeinsame Zeit war abgelaufen.
Kazim stand am Bug der Schebecke, als sie kurz vor der Abenddämmerung in den Hafen von Takreb einfuhren. Wenn er auf See war, dachte er nicht mehr viel an sein Leben, bevor er Pirat geworden war. Aber nun rief der vertraute Stadtumriss mit seinen ins Wasser ragenden Befestigungsmauern Erinnerungen an längst vergangene Tage wach. Zu einer anderen Zeit war Takreb seine zweite Heimat gewesen. Mit Wehmut blickte er auf die Kuppeln und Moscheen, den Kai, an dem er als kleiner Junge so viele Stunden gesessen hatte. Er hatte die Füße über dem Wasser baumeln lassen, während er auf die Ankunft der Handelsschiffe wartete, um bei der ersten Sichtung sofort loszustürmen und seinem Vater davon zu berichten.
Der rötliche Sandstein schimmerte in Gold- und Kupfertönen in der Abendsonne. Sie hatten die Segel gehisst und machten sich bereit zum Anlegen. Am Kai liefen, genau wie er früher, mehrere Hafenjungen mit nachlässig umgebundenen Kopftüchern und sonnengebräunten Armen neben dem Schiff her und reckten die Hände in die Höhe, um die Schiffstaue aufzufangen, die sie ihnen zuwarfen. Kazim sprang als einer der ersten von Bord und half den Jungen beim Festmachen des Schiffs. Die Brücke wurde heruntergelassen und der Rest der Mannschaft kam jubelnd von Bord. Für einen Besuch auf dem Markt war es heute schon zu spät, dennoch wurde bereits ein Teil der Fracht verladen. Sie sollte in das Lager eines Kaufmanns transportiert werden, mit dem Durak Geschäfte machen wollte.
Kazim bezog am Ende der Brücke Stellung und behielt ein Auge auf die Ware, die von den Männern von Deck geschafft wurde.
»Kazim, schau mal!«
Ein Schatten warf sich über ihn und als Kazim nach oben blickte, sah er Ranis fliegenden Teppich langsam zu Boden schweben. Auf der Oberfläche stapelten sich zwei miteinander vertäute Kisten und obendrauf saß Rani im Schneidersitz und grinste keck auf ihn herab.
»Das ist reine Angeberei«, sagte er, als sie direkt vor seinen Füßen landete. »Beeindruckt wäre ich erst, wenn du die Kisten mit bloßen Händen über die Brücke getragen hättest.«
Beleidigt verschränkte Rani die Arme vor der Brust. »Sei nicht so ein Miesmacher. Du bist doch bloß neidisch, weil du keinen fliegenden Teppich hast.«
»Ich hätte sicher eine sinnvollere Verwendung für meine Wünsche gehabt.«
»Ach ja? Was hättest du dir denn gewünscht?«
»Als Allererstes hätte ich mir dich vom Leib gewünscht.«
»Ich meine es ernst«, beharrte Rani. »Ich würde es gerne wissen.«
»Das spielt keine Rolle. Ich hätte mich gar nicht erst auf einen Handel mit einem Djinn eingelassen.«
»Lügner. Ich wette, du hättest dir Gold gewünscht.«
Das stimmte wohl. Er war immerhin Pirat, aber es machte keinen Spaß das vor Rani zuzugeben. »Wieso hast du dir keines gewünscht?«
Rani biss sich auf die Unterlippe und blickte grimmig. Sie schien sich über sich selbst zu ärgern. »Ich wollte ja, aber beim dritten Wunsch kam mir leider was dazwischen.«
»Weil du plötzlich deine noble Seite an dir entdeckt hast? Ich habe davon gehört, was du für den Attentäter getan hast. Sehr ehrenhaft, wobei ich mich fragen muss … Von all den Leben, die du hättest retten können, musste es denn ausgerechnet ein Shaitan sein?« Kazim hatte Nidal während ihrer mehrwöchigen Reise kennengelernt und er war nicht gerade angetan gewesen.
»Mir wäre er tot eigentlich auch lieber gewesen als lebendig, aber ich hatte etwas gutzumachen und Nidal lag Amare sehr am Herzen.«
»Na ja, vielleicht nicht das Schlechteste, einen Shaitan in seiner Schuld zu haben.«
»Falls ich dich doch mal umbringen will, meinst du?«
»So ähnlich.« Kazim hakte einen Eintrag auf seiner Inventarsliste ab. »Du kannst übrigens gleich wieder an Deck fliegen. Du hast die falschen Kisten mitgenommen«, sagte er und deutete auf die Markierung auf der Kistenrückseite. »In Samarra haben sie eigene Flachsfelder. Für das Leinen bekommen wir bessere Preise in Kirballa.«
Rani schnaubte über sein Gerede. »Und du bist plötzlich ein Experte für Stoffpreise geworden?«
»Glaub es oder nicht, aber ich war früher einmal Kaufmann. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Tatsächlich?«, fragte Rani ehrlich interessiert. »Du hast mir nie davon erzählt, was du gemacht hast, bevor du zu uns gekommen bist. Wie war das so?«
Der neugierige Ausdruck, mit dem sie ihn plötzlich betrachtete, bereitete Kazim Unbehagen und er bereute seine Geschwätzigkeit sofort. Er hatte seine Gründe, weshalb er nicht gerne von früher erzählte. Dass er jetzt damit anfing, lag wahrscheinlich an der vertrauten Umgebung. Sie weckte nostalgische Gefühle in ihm. Es lag Jahre zurück, dass er zuletzt einen Fuß in Takreb gesetzt hatte. Sie hatten den Hafen in den letzten Jahren zwar ein paar Mal angesteuert, aber bislang hatte er immer eine Ausrede gefunden, um nicht von Bord gehen zu müssen. »Eigentlich unterscheidet es sich gar nicht so sehr vom Piratenleben, außer dass die Ware gestohlen ist und einem jeder an den Kragen will. Und man wäscht sich weniger.« Grinsend beugte sich Kazim über sie. »Willst du mal riechen?«
Rani quiekte entsetzt und warf sich mit dem Rücken auf die Kisten, um ihm zu entkommen. »Igitt!«, rief sie lachend. »Bleib mir bloß fern!«
Er zwinkerte ihr zu. »War doch nur Spaß.«
»Ihr Männer seid widerlich.«
»Dein überirdischer Freund schwitzt wahrscheinlich Rosenwasser. Wenn er überhaupt schwitzt.«
Ein dunkler Schatten fiel bei Jaals Erwähnung über Ranis Gesicht. Da erst fiel Kazim auf, dass er den Djinn seit dem Überfall nicht mehr gesehen hatte. Er sah um sich, aber nirgendwo war ein Zeichen von ihm. »Wo steckt der Quälgeist überhaupt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht erkundet er die Gegend«, antworte Rani betont gleichgültig und hob die schmalen Schultern an. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber Kazim sah, dass sie sich sorgte. War zwischen den beiden irgendetwas vorgefallen?
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ach, Djinn eben«, sagte sie mit einer entspannten Selbstverständlichkeit, als würde sie sich schon ihr ganzes Leben mit solchen Wesen rumschlagen. »Lass uns nicht über Jaal reden. Ich will viel lieber wissen, was wir heute Abend anstellen!«
»Ich stelle gar nichts an. Ich schiebe Nachtwache und passe auf das Schiff auf.«
»Blödsinn. Dafür kannst du doch irgendjemand anderen einstellen. Ich habe gehört, in Takreb gibt es einen geheimen Nachtmarkt, der jede Nacht seinen Standort wechselt, und wo Schmuggler lauter verbotene und gefährliche Gegenstände feilbieten. Das klingt doch spannend, oder? Lass uns da hingehen!«
»Diesen Markt gibt es tatsächlich und der ist mit Sicherheit kein Ort für dich.«
Rani rollte mit den Augen.
»Ach komm schon. Seit wann bist du so langweilig? Wir waren Wochen auf See! Du willst doch sicher auch die Stadt erkunden.«
»Ich war schon oft in Takreb. Für mich gibt es nicht mehr viel zu erkunden. Also macht ruhig, ich hüte das Schiff.« Kazim sagte ihr nicht die ganze Wahrheit – dass er in einem Dorf nicht weit von hier aufgewachsen war und sein Vater ein Geschäft in Takreb hatte. Sein Vater, der ihm alles vermachen wollte und den er ohne ein Wort zu sagen verlassen hatte. Inzwischen hielt man ihn sicher für tot. Nein, er wollte mit Sicherheit keinen Stadtrundgang machen und dabei riskieren, dass ihn jemand erkannte.
Rani zog eine Schnute, aber Kazim ließ sich davon nicht beirren. Er klopfte auf die Kiste, auf der sie saß, und reckte sein Kinn nach oben. »Und jetzt bring das Leinen zurück an Deck. Frag stattdessen Jamil, wo wir das Elfenbein lagern.«
Rani verdrehte die Augen, tat jedoch, was er sagte, und ließ den Teppich sachte ansteigen. Die Stoffoberfläche ruckelte leicht beim Start. Kazim musste den Blick abwenden, als es kurz so aussah, als würden die Kisten samt Rani abstürzen, doch als er dann erneut hinsah, hatte sich der Teppich wieder stabilisiert. Mehrere Meter über ihm hörte er Rani über ihn lachen. Kazim verkniff sich ein Schnauben. Irgendwann, schwor er sich, würde er das freche Gör über Bord werfen.
***
Als die Sonne eine Stunde später untergegangen war, blieb Kazim allein an Deck des Schiffes zurück, während der Rest der Mannschaft die Stadt erkundete, sich betrank und in den umliegenden Wirtshäusern den Bauch vollschlug. Kazim hätte sich ihnen gerne angeschlossen und begann seine Entscheidung mehr und mehr zu bereuen. Aus einer nahen Gasse drangen entferntes Gelächter und Lautenklänge. Jemand spielte einen raschen Takt auf einer Trommel und vor seinem geistigen Auge bewegte sich eine kaum verhüllte Tänzerin dazu. In seiner Magengegend wuchs ein sehnsuchtsvolles Brennen. Zu gern wäre er jetzt auch dort unten. Wäre mit einem Krug Wein durch die Gassen spaziert, hätte getrunken, getanzt. Und dann, am Ende des Abends, hätte er sich vielleicht von einem der Mädchen verführen lassen, die sich immer für solche Gelegenheiten in Hafennähe aufhielten. Gegen bare Münze lasen sie einem jeden Traum von den Augen ab.
Einige Männer begannen zu der Musik zu singen. Es war ein Lied, das in dieser Gegend sehr beliebt war und das Kazim noch aus seiner Kindheit kannte. Er wusste den Text nicht mehr auswendig, aber er summte die Melodie mit und klopfte im Takt auf seine Knie.
Wahrscheinlich war er übervorsichtig. Es war Jahre her, seitdem er zuletzt in Takreb gewesen war. Inzwischen suchte niemand mehr nach ihm. Manchmal fühlte er sich schuldig, weil er einfach so abgehauen war, vor allem, wenn er an die Menschen dachte, die er zurückgelassen hatte. Von plötzlicher Sentimentalität erfasst, berührte er den breiten Kupferarmreif an seinem rechten Handgelenk, ein Geschenk von einst und eines der wenigen Dinge, die er von früher behalten hatte. Er hatte oft überlegt den Reif wegzuwerfen, weil er ihn an ein gebrochenes Versprechen erinnerte, aber irgendwie hatte er es nie fertiggebracht. Vermisste man ihn noch? Seine Mutter bestimmt. Sicher hatte sie geweint, als ihr Sohn nicht mehr wiedergekehrt war. Sie wohnte nur ein paar Meilen entfernt, ein kurzer Besuch und er könnte ihre Tränen stillen, aber trotz all seines Heldenmuts war er ein Feigling, wenn es um seine Vergangenheit ging. Er war nicht direkt gestorben, aber er hatte dieses Leben abgelegt. Es war besser für alle, wenn der Kazim von einst nie mehr auferstand.
Besser für ihn, mahnte eine zynische Stimme in seinem Kopf. Kazim füllte sich einen Becher mit Wein, um die Stimme zum Verstummen zu bringen. Aus einem Becher wurden bald zwei, dann drei. Er wusste, er sollte nicht so viel trinken, wenn er Wache über das Schiff hielt, dennoch hörte er nicht auf. Der Wein fing an ihn schläfrig zu machen. Inzwischen musste es weit nach Mitternacht sein. Eine Wolkenfront schob sich vor den Halbmond am Himmel und ließ das Schiffsdeck in Dunkelheit zurück. Inmitten tiefer Schatten fiel es Kazim noch schwerer, wach zu bleiben. Die Augenlider fielen ihm immer wieder zu. Er kniff sich in die Waden, um nicht einzunicken.
Irgendwann musste ihm der Kopf dann aber doch auf die Brust gefallen sein, denn er schreckte plötzlich hoch. Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlafen hatte, ob nur Sekunden oder mehrere Stunden verstrichen waren. Aber er spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Augenblicklich war er hellwach und auf den Beinen. Angestrengt lauschte er in die Nacht hinein. Die Geräusche waren noch immer die gleichen – Musik und Lachen, knarzendes Holz und gluckerndes Wellenrauschen. Eine Ratte huschte nicht weit von ihm über die Holzplanken, die winzigen Krallen tippelten ähnlich dem Geräusch von Regentropfen auf den Boden.
Kazim lockerte die Schultern und versuchte sich zu entspannen. Vielleicht hatte er bloß schlecht geträumt. Oder zu viel getrunken. Er beschloss dennoch einen Rundgang zu machen, nur zur Sicherheit. Er zog sein Entermesser und hielt es locker an seiner Seite. Seine Schritte waren leicht, fast lautlos. Er horchte weiter, aber außer dem männlichen Grölen aus den fernen Gassen gab es nichts, das die nächtliche Ruhe störte. Er umrundete einmal das ganze Deck und blieb dann beim Hauptmast stehen. Von dort aus hatte er einen guten Blick auf das Heckkastell und den darunterliegenden Frachtraum. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, was an diesem Bild falsch war. Die Tür unter Deck – er hatte sie selbst abgeschlossen.
Sein Griff um das Entermesser verstärkte sich. Er wollte losstürmen, als ein plötzliches Geräusch knapp hinter ihm ihn herumwirbeln ließ. Er sah nicht mehr, was es war, denn da traf ihn bereits etwas Schweres, Hartes am Kopf. Der Schlag machte ihn kurzzeitig bewusstlos. Benommen lag er da, unfähig sich zu rühren, geschweige denn zu kämpfen. Blinzelnd versuchte er wieder zu sich zu kommen, aber es war, als würde er durch tiefen Schlamm waten. Jeder Gedanke, jede Bewegung war von mühsamer Langsamkeit begleitet. Er meinte Stimmen zu hören. Schritte, die einmal näher kamen und sich dann wieder entfernten. Das Gesicht einer Frau erschien direkt über ihm, die Züge waren verschwommen wie hinter einer Nebelwand. Er versuchte etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht. Er glaubte sie leise fluchen zu hören. Ungeniert tastete sie ihn ab. Er hatte kein Gold bei sich, aber ihre weichen, warmen Finger fanden den Kupferarmreif um sein Handgelenk. Sie schien kurz zu zögern, öffnete dann aber den Verschluss und nahm den Armreif an sich. Kazim wollte protestieren, doch seinen Lippen entkam nur ein Keuchen.
Die Frau entfernte sich wieder, seinen Armreif in den Händen. Der Ärger darüber half ihm dabei, wieder zu Sinnen zu kommen. Das Miststück hatte ihn bestohlen! Ihn! Einen Piraten! Schnaufend vor Anstrengung drehte Kazim sich auf die Seite und hievte sich mühsam auf die Knie. Er sah immer noch verschwommen, alles drehte sich und er musste sich am Mast abstützen, um auf die Beine zu kommen. Das Deck schien Wellen zu schlagen wie auf hoher See. Er wankte und sein Kopf pochte unaufhörlich. Wo war die Frau? Er konzentrierte seinen Blick, aber außer ihm schien niemand mehr hier zu sein. Dann hörte er ein Geräusch auf der Backbordseite des Schiffes, etwas, das wie Stiefelabsätze auf Gestein klang. Kazim stolperte zur Reling und sah gerade noch drei Gestalten den Kai entlanglaufen. Jeder trug einen ausgebeulten Leinensack am Rücken. Ausgebeult mit ihren Schätzen! Kazim wurde heiß vor Wut.
»Hey!«, schrie er ihnen nach und hämmerte gegen die Reling, aber die Gestalten rannten einfach weiter. Er konnte nicht zulassen, dass sie entkamen! Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang er von Bord. Er kam hart auf dem Steinboden auf, der Aufprall war bis in seine Schädeldecke spürbar und sandte heiße Schockwellen durch ihn hindurch. Er wurde kurzzeitig blind, weiße Flecken tanzten vor seinen Augen, doch er konnte es sich nicht leisten, weiter Pause zu machen.
Halb benommen rannte er los, in die ungefähre Richtung, in die er die Räuber hatte verschwinden sehen. Nach ein paar Schritten klärte sich seine Sicht wieder, doch die Kopfschmerzen blieben. Mit was hatte die Frau ihn nur geschlagen? Einem Schiffsanker? Oh, wenn er sie in die Finger bekam, würde er sich rächen! Verbissen kämpfte Kazim sich vorwärts, jeder Schritt eine Qual. Die Räuber waren in einer Gasse verschwunden. Er konnte sie nicht mehr sehen, aber er hörte noch das schnelle Traben ihrer Schritte. Ihre Beute machte sie schwerfällig und Kazim holte langsam auf. In seiner Eile hatte er sein Entermesser an Bord zurückgelassen, aber im Moment war ihm das egal. Wenn er sie erwischte, würde er die Räuber notfalls mit bloßen Händen erwürgen.
Die Räuber wählten einen Zick-Zack-Kurs quer durch die Stadt, der ihn wohl verwirren sollte, aber Kazim blieb ihnen hartnäckig auf den Fersen. O nein, so leicht ließ er sich nicht abschütteln! Er rannte an verwahrlosten Sandsteinbauten und engen, stinkenden Gassenmündungen vorbei. Sie ließen die Vergnügungsviertel mit seinen Tavernen und Freudenhäusern hinter sich, durchquerten die Elendsviertel und bewegten sich mehr und mehr auf den Rand der Stadt zu, wo die Häuser nur mehr aus Stroh und Palmblättern bestanden. Wollten die Räuber Takreb etwa verlassen? Kazim holte noch einmal alles aus sich heraus, aber die Entfernung zwischen ihm und den Räubern war noch immer zu groß. Außerhalb der Stadtmauern hatten sie sicherlich Reittiere angebunden und dann bestand keine Chance mehr für ihn, noch aufzuholen. Nur mit Rennen kam er nicht weiter, er musste sich etwas einfallen lassen.
Als sie an einer bröckelnden Mauer entlangliefen, griff sich Kazim einen losen Stein aus der Fassung. Der Stein wog schwer in seiner Hand und hatte spitze Kanten, ein ideales Geschoss. Er wartete, bis sie die nächste Abzweigung hinter sich gelassen hatten, und als er kurz freie Sicht auf die Räuber hatte, holte er aus und warf mit aller Kraft. Er zielte auf die Frau. Er erwischte nicht sie, dafür aber das Bündel, das sie trug. In ihrer Überraschung ließ sie es los und das Bündel fiel zu Boden. Die Waren schepperten laut aneinander und die Frau geriet ins Stolpern. Ihre zwei Gefährten liefen weiter, aber sie schlitterte und blieb stehen. Wendig wirbelte sie herum und streckte die Hand nach dem verknoteten Stoffende aus. Sie war schnell, aber nicht schnell genug. Die Zeit reichte für Kazim aus, um einen weiteren Stein zu werfen. Sein Augenlicht flackerte und die Kopfschmerzen brachten ihn fast um, dennoch fand der Stein diesmal sein Ziel. Er erwischte sie am Arm, mit dem sie das Bündel aufheben wollte. Zischend fiel sie nach hinten und landete mit dem Hintern im Dreck. Er stand jetzt direkt vor ihr und blickte in ein für diese Regionen auffallend helles Gesicht. Honigbraune Locken blitzten unter einem dunklen Tuch hervor, das ihr beim Sturz in den Nacken gerutscht war. Sie war jung, was den Diebstahl noch beschämender machte. Und von so etwas hatte er sich niederschlagen lassen? Wenn die Mannschaft davon erfuhr, würde ihr Gespött ihn bis an sein Lebensende verfolgen.
Anstelle einer Waffe hob er ein zersplittertes Holzstück vom Boden auf, dessen Ende spitz wie das einer Klinge war. Im gleichen Moment zückte sie ein Messer, das sie in ihrer Kleidung versteckt hatte. Noch bevor sie es auf ihn richten konnte, trat er es ihr aus der Hand. Die Klinge rutschte außerhalb ihrer Reichweite unter einen liegengelassenen Holzkarren.
»Du hast mich bestohlen«, warf er ihr vor und hob das Holzstück an ihren Hals. Er wartete auf ihre Antwort, doch sie funkelte ihn nur weiter zornig an und schwieg.
»Ihr werdet uns die Beute wiedergeben.«
Feindselig starrte sie ihn an, die Zähne zusammengebissen wie ein knurrender Hund, als der Ausdruck in ihrem Gesicht sich plötzlich veränderte. Der wütende Zug verschwand, stattdessen begannen ihre Mundwinkel zu zittern und ihre Augen schimmerten feucht. »Es tut mir so leid«, bibberte sie und hielt sich eine Hand vor das hübsche Gesicht. »Ich bin nur eine Sklavin. Sie haben mich gezwungen. Bitte, Herr, tut mir nicht weh.«
O Daga, waren das etwa Tränen? Wenn er mit einem nicht umgehen konnte, dann waren das weibliche Tränen. Kazim stand verdattert da und wusste nicht mehr, was er tun sollte. Die behelfsmäßige Waffe kam ihm plötzlich obszön vor. Langsam ließ er den Arm mit dem Holzstück sinken. »Hey, hey, schon gut«, sagte er und vollführte mit der anderen Hand beschwichtigende Gesten. »Hör auf zu weinen. Ich tu dir ja nichts.«
Die Worte schienen die Tränen aber nur weiter zu schüren. Die Frau schluchzte nun heftig, den Kopf zwischen die bebenden Schultern eingezogen. Sie hielt sich die Hände schützend vor das Gesicht, als müsste sie sich gegen Tritte wehren. »Bitte«, flehte sie.
Vermaledeit, er war doch kein Monster! Er mochte Frauen viel zu sehr, um ihnen Schaden zuzufügen. »Hey.« Er wollte sie besänftigten und griff nach ihrer Schulter. Das erwies sich als schwerer Fehler. Kaum, dass er sie berührte, packte sie ihn am Oberarm und rammte ihm ihren Ellbogen so fest ins Gesicht, dass Blut spritzte. Ein weiterer Schlag gegen das Schlüsselbein, einer in den Magen. Kazim blieb gar nicht genug Zeit, um sich zu wehren. Ächzend ging er zu Boden, sein Kopf ein explodierendes Schießpulverfass.