Peter Rice

Fernes Land

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Ulisses Spiele
Legenden-Band 22

Titelbild: Catalyst Game Labs
Redaktion: Mirko Bader
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Produkt-Nr.: US42122
E-Book-ISBN: 978-3-95752-677-9

Prolog

9. November 2510

Salford Draconis-Kombinat

1

Der Wind heulte über das offene Landefeld von Salford Station und trieb dichte Wolken feinsten Sandes vor sich her, der Männern, Landungsschiffen und Fahrzeugen zu schaffen machte. Der Sand drang unter die Manschetten und Uniformkragen und mischte sich mit dem Schweiß zu einer feinen Paste, die bei jeder Bewegung auf der Haut scheuerte. Die einzige Methode, den Sandwind zu vermeiden, bestand darin, sich abzuwenden; wollte man der konstanten Scheuerwirkung des bereits unter die Uniform eingedrungenen Sandes entkommen, musste man auf jede Bewegung verzichten. Da es unter der Würde eines Bataillonskommandeurs der Vereinigten Soldaten des Draconis-Kombinats war, vor Sandwolken in Deckung zu gehen, entschied sich Chu-sa Tokashio Hamata für die zweite Möglichkeit.

Für die übrigen Mitglieder des Bataillonsstabes galt dies jedoch nicht. Hamata sah, wie sie sich mit eng über den Kopf gezogenen Kapuzen an die Abschirmung duckten, und war sich sicher, dass sie ihn im Auge behielten. Sie hielten Ausschau nach dem kleinsten Eingeständnis von Schwäche. Ein Samurai blieb angesichts schwerbewaffneter Feinde unbeeindruckt, und erst recht bei einem Sandsturm. Ebenso wie ein Bataillonskommandeur. Oder ein Absolvent der MechKriegerakademie Sun Zhang. Und auf Tokashio Hamata trafen alle drei Bedingungen zu. Er stellte sich der heranbrausenden Naturgewalt und gestattete sich nicht mehr als ein kaum merkliches Zusammenkneifen der Augen.

Die Sandwolke trieb über das Hafenfeld, auf dem die Landeschiffe darauf warteten, die Mitglieder des 2452. Bataillons, 5. Galedon-Regiment, aufzunehmen. Das 2452. schiffte sich zusammen mit seinem Schwesterbataillon zum Flug nach Brailsford ein, einer nur einen Sprung entfernten Welt. Der sogenannten McAllister-Rebellion wegen hatte der Militärkommandeur des Kombinats vorsorglich Truppen aus den abgelegenen Grenzbezirken des Kurita-Raums abgezogen. Hamata wusste seit einem halben Jahr davon, seit er im Juni zum ersten Mal etwas von den Befehlen läuten gehört hatte. Die beiden Gefechtsbataillone wurden von einem Schweren Pionierbataillon, dem 262., und einem Sanitätsbataillon begleitet.

Die Situation behagte Tokashio Hamata ganz und gar nicht. Die Landungsschiffe seines Bataillons, allesamt Schiffe der Geier-Klasse, waren alles andere als ideal für die Aufgabe. Sie waren zu groß für eine einzelne Kompanie und zu klein für zwei. Dadurch war er gezwungen, mehrere Kompanien auf verschiedene Landungsschiffe zu verteilen. Nach dem Andocken an die Raiden, das für ihren Transport eingeteilte Sprungschiff der Leviathan-Klasse, würden sie alle unter seinem Befehl stehen, aber auf den Flügen zwischen Planet und Sprungschiff, das tief im Raum auf sie wartete, würden sie getrennt sein. Und bei der Landung auf Brailsford war mit entsprechender Verwirrung zu rechnen. Hamata hasste unnötige Manöver. Sie führten zu Schludrigkeiten.

Man hatte ihm erklärt, dass Brailsford eine sichere Welt sei, aber es blieb ein nagender Zweifel. Hamata hatte das 2452. persönlich ausgehoben und trainiert, und er wollte die Landezone in Gefechtsbereitschaft erreichen. Diese Truppen waren für ihn wie seine Kinder. Er wollte nicht, dass ihnen etwas zustieß.

Eine weitere Sandwolke fegte über den Platz, und Hamata kniff die Augen zusammen. Die Laderampe bebte unter seinen Füßen, als ein gepanzerter Chi-Ha-Truppentransporter sich langsam die Steigung hocharbeitete. Die Rampen waren noch älterer Bauart und etwas zu schmal für die neueren Maschinen. Der Fahrer bemühte sich, das zwanzig Tonnen schwere Fahrzeug genau in der Mitte der Rampe zu halten, wobei er sich am gelben Leitstreifen orientieren konnte. Als Hamata eine Frau am Steuer des Truppentransporters erkannte, kniff er unwillkürlich den Mund zusammen. Sicher, die Frauen des Kombinats waren aus keiner Berufsgruppe ausgeschlossen. Das Kombinat konnte es sich nicht leisten, irgendwelche menschlichen Ressourcen brachliegen zu lassen. Aber die Tatsache blieb bestehen, dass er es vorzog, nur Männer in seiner Einheit zu haben.

Durch sorgfältige Manipulation der Personallisten hatte er es geschafft, seine Kampfeinheiten fast völlig sauber zu halten. Zugegeben, in den Nachschub- und Verwaltungseinheiten diente eine Handvoll Frauen, aber das war nicht zu ändern. Es gab sogar weibliche Offiziere im Hauptquartier. Aber als Samurai mit einer viele Generationen zurückreichenden Tradition fühlte sich Hamata einfach unbehaglich, wenn er eine Frau die Dai-sho tragen sah. Es war eine mehr als tausend Jahre alte Haltung, die zu tief in seinem Wesen wurzelte, als dass er sie jemals würde überwinden können. Aber das reichte jetzt. Der Ladevorgang beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Während er seinen Geist von unerwünschten Gedanken freimachte, rumpelte ein weiterer Chi-Ha-Truppentransporter vorbei.

Hamata sah an den in einer Linie aufragenden Geiern entlang und beobachtete, wie die letzten seiner Fahrzeuge durch die klaffenden Ladeluken in den Schiffen verschwanden. Es handelte sich beileibe nicht um die größten verfügbaren Landungsschiffe, aber selbst sie ließen die Panzerfahrzeuge seines Bataillons winzig erscheinen. Hamata verzog das Gesicht. Er hatte Befehl erhalten, den größten Teil seiner Gefechtsausrüstung zurückzulassen. Mit demselben Befehl hatte man ihn informiert, dass sie bei der Ankunft auf Brailsford dort vorhandene Ausrüstung übernehmen würden. Er war nur zur Einschiffung von zehn Prozent seiner Fahrzeuge autorisiert; den Rest musste er für die Ablösung auf Salford zurücklassen, ein Bataillon unerprobter Dienstpflichtiger, die als neue Garnison eingeteilt waren. Hamata hatte die neuesten Fahrzeuge requiriert, ohne sich um deren taktischen Wert zu kümmern. Er dachte nicht daran, seine beste Ausrüstung Grünschnäbeln zu überlassen.

Im Kombinatsmilitär machten Gerüchte und Berichte über die neuen Waffen die Runde, die gerade von den Bändern liefen. Er hatte Bilder dieser humanoiden Monstermaschinen gesehen. Ein motorisiertes Infanteriebataillon würde wohl kaum gegen sie bestehen können. Schon ein einziger dieser Kolosse hatte eine größere Lang- und Kurzstreckenfeuerkraft als seine ganze Einheit. Ohne Zweifel würden diese Maschinenmonster das Kriegshandwerk grundlegend umkrempeln, und Hamata fragte sich, ob er noch jung genug war, diese Veränderung mitzumachen.

Als die Frachtluken der Landungsschiffe sich schlossen, traten die Lademeister auf die Rampen und zeigten dem Kontrollturm mit Lichtsignalen den Abschluss der Arbeiten an. Über den Mannschaftsluken leuchteten grüne Signallampen auf: Es wurde Zeit, den Rest der Truppen einzuschiffen. Hamata drehte sich zu den Stabsoffizieren um und lachte in sich hinein, als sie plötzlich auseinanderstieben wie Hühner, die vom plötzlichen Auftauchen eines Fuchses in Panik versetzt worden waren. Er wusste genau, dass seine Offiziere sich die gesamte letzte Stunde hinter den Schutzwall geduckt und versucht hatten, möglichst wenig Aufsehen zu erregen, aber jetzt benahmen sie sich plötzlich so, als hätte jeder einzelne von ihnen eine Unmenge bedeutender Aufgaben, die seine Zeit beanspruchten. Das war natürlich nur Bluff. Im Augenblick waren die Offiziere des Bataillons gänzlich überflüssig. Der Ladevorgang unterstand der Aufsicht durch die zivilen Landungsschiffsbesatzungen. Truppen und Ausrüstung wurden verstaut, wo die Schiffscrew es wollte, was auch immer irgendein Stabsoffizier erklärte. Die Situation ließ bei Kommandeur und Stab ein Gefühl der Hilflosigkeit aufkommen, aber daran war nichts zu ändern. Wenn das Draconis-Kombinat etwas festlegte, war es eben so. Es gab keine Einspruchsmöglichkeit.

Hamata trieb seinen Stab zusammen und drängte ihn an Bord der Hideyoshi Toyotomi. Die Toyotomi beherbergte den Großteil des Hauptquartiers und der HQ-Kompanie des 2452. Bataillons. Als er zum Schluss selbst durch die Luke stieg, staunte Hamata über die Ausmaße des Schiffsinneren. Die Schiffe der Geier-Klasse waren nicht viel mehr als riesige Metallhöhlen mit Befestigungspunkten für die schwere Ausrüstung. Zwischen den Befestigungspunkten befanden sich ganze Batterien an die Innenwand montierter Stahlrohrkojen.

Das Schiff war ganz offensichtlich dafür entworfen, soviel Menschen und Material wie möglich von einem Punkt zum anderen zu transportieren. Die Unterbringung war spartanisch, aber der Adjutant hatte dafür gesorgt, dass der Stab das Beste zugeteilt bekam, was verfügbar war. Hamata hatte das Glück, eine Einzelkabine zu ergattern; alle anderen mussten ihre Unterkunft mit mindestens einem anderen Bataillonsmitglied teilen.

Im Augenblick drang ein konstanter Schwall von Befehlen und Informationen aus den Lautsprechern im riesigen Laderaum, aber die Worte waren im Widerhall nicht zu verstehen. Wer auch immer die Rundrufanlage entworfen hatte, die Akustik dieser Halle hatte er ganz eindeutig nicht berücksichtigt. Aber Hamata machte sich darüber keine Sorgen. Er kannte das alles schon und wusste, dass es sich um die Startwarnung handeln musste. Er bedeutete den Offizieren in seiner Umgebung, sich einen Sitzplatz zu suchen und sich anzuschnallen. Bei dem zu erwartenden plötzlichen Start würde jeder, der nicht angeschnallt war, entweder gegen eine Schottwand geschleudert oder sogar von irgendeinem spitzen Gegenstand durchbohrt werden. Sein Stab hastete in Position.

Hamata kletterte einen weiten Schacht zu den oberen Decks hoch und begab sich in seine Kabine. Noch während die Schiebetür hinter ihm zu glitt, ging er zu seiner Koje und legte sich hin. Er befestigte die Haltegurte über Brust und Oberschenkeln und wartete auf den Triebwerksstoß, der das Landungsschiff von der Planetenoberfläche ins All schießen würde, wo das Sprungschiff vierzehn Flugtage entfernt auf sie wartete.

Der Start verlief exakt so, wie ihn Hamata erwartet hatte. Die Hideyoshi Toyotomi stieg mit voller Triebwerksleistung in den Himmel; der Andruck presste die Passagiere auf die Liegen und schälte ihre Lippen von den Zähnen. Es war eine beeindruckende Erfahrung.

Weniger als eine Stunde später hatte sich der Andruck auf konstante Null Komma neun g reduziert, und es war möglich, sich durch das Schiff zu bewegen. Anschließend folgte eine zwanzigminütige Periode der Schwerelosigkeit, während der die Landungsschiffsbesatzung die letzten Anflugvektoren zum Sprungschiff Raiden errechnete.

Hamata löste die Haltegurte erst, als die grüne Gravanzeige zum zweiten Mal aufleuchtete. Er kannte das Gefühl der Schwerelosigkeit und fühlte keinerlei Verlangen danach, diese Erfahrung zu wiederholen. Ein Teil seines Stabes hingegen, insbesondere die jüngeren Offiziere, hatten sich begeistert abgeschnallt und durch den Laderaum treiben lassen, mit den üblichen Unfällen, wenn ein unerfahrener Schwebender in unfreiwilligen Kontakt mit den Verstrebungen kam. Die einzige Person, deren Rat Hamata brauchte, war der Bataillonspriester. Er fragte ihn nach den Omen für die Reise. Als er die Antwort ›keine Besonderheiten‹ erhielt, wusste er, dass es für ihn vorerst nichts mehr zu tun gab.

Das Landungsschiff hatte wieder beschleunigt und eine künstliche Schwerkraft von Null Komma sieben g erreicht. Hamata setzte sich vorsichtig auf, um Körper und Geist Gelegenheit zu geben, sich an die niedrigeren Schwerkraftbedingungen und die veränderte Orientierung zu gewöhnen.

Wie die Omen vorhergesagt hatten, verlief der Flug ruhig. Die ersten sieben Tage verstrichen friedlich, und in der Mitte der Reiseroute kam es zu einer weiteren Übergangsperiode, als die Toyotomi sich um die eigene Achse drehte, so dass sie sich der Raiden mit dem Heck voraus näherte. Während der zweiten Hälfte des Fluges bremste das Schiff mit der gleichen Triebwerksleistung von Null Komma sieben g ab. Wenn es das wartende Sprungschiff zusammen mit den übrigen Landungsschiffen erreichte, würde seine Fluggeschwindigkeit nur noch drei Kilometer in der Stunde betragen. Durch diese Annäherungsgeschwindigkeit, die noch unter der eines Fußgängers lag, würden die Landungsschiffe für die Greifarme, die wie groteske Auswüchse an Bug und Heck der Raiden hingen, leicht zu fassen und an die Dockkragen zu führen sein.

Auch die zweiten sieben Tage verliefen ohne Zwischenfall und brachten die Landungsschiffe zu dem wartenden Sprungschiff der Leviathan-Klasse. Wie Ferkel, die nach einer freien Zitze suchten, drängten sie sich auf der Suche nach Sicherheit um das Mutterschiff. Nacheinander kamen alle Landungsschiffe längsseits und dockten an den Rumpf der Raiden an. Festgeschnallt in seinem Sessel spürte Hamata die leichte Erschütterung, als die Hideyoshi Toyotomi an den Dockkragen ankoppelte. Die Landungsschiffspiloten besaßen Erfahrung. Hamata hatte schon weit rauere Andockmanöver mitgemacht.

Zwischen dem Andockmanöver und dem Sprung nach Brailsford blieb Hamata sehr wenig Zeit, gerade genug für eine schnelle Inspektion der angedockten Transporter und möglicherweise noch ein kurzes Gespräch mit dem Sprungschiffkommandeur. Er hatte Wilson Hartwell, den Kommandeur der Raiden, noch nie gesehen, aber wie jeder andere kommandierende Offizier des Draconis-Kombinats war auch er sicherlich ein Profi auf seinem Gebiet.

Ungefähr sechs Milliarden Jahre bevor Chu-sa Tokashio Hamata sein Bataillon auf Landungsschiffe verlud und sich auf den Weg nach Brailsford begab, war in einer gigantischen Explosion das Universum entstanden. Seit jenem Augenblick hatte es sich mit enormer Geschwindigkeit ausgedehnt. Der Mensch, der in diesen Maßstäben erst seit einer kaum messbar winzigen Zeitspanne existierte, hatte Studien und Hypothesen darüber fabriziert, wie all dies sich zugetragen haben könnte und welche Bedeutung es hatte. Die Menschen hatten Gesetze und Regeln aufgestellt, die das Ereignis zu erklären versuchten, und eine gänzlich unberechtigte Gewissheit entwickelt, dass diese korrekt waren. Man ging einfach davon aus, dass diese Theorien, einmal aufgestellt und niedergelegt, der Wahrheit entsprachen. Natürlich wurde eine Reihe wohlgehegter Theorien über Geschwindigkeit und deren vorhandene oder nicht vorhandene Grenzen widerlegt, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lichtgeschwindigkeit entdeckt wurde, aber nach einer neuen Ausformulierung wurden auch aus diesen Theorien wieder Gesetze. Es gab niemanden, ganz sicher niemanden in der wissenschaftlichen Gemeinschaft des Draconis-Kombinats, der bereit war, sie in Frage zu stellen.

Eines dieser Gesetze befasste sich mit der Theorie der Sprungpunkte. Nachdem die Zenit- und Nadirsprungpunkte kartographiert und für sicher erklärt worden waren, hatte sich die wissenschaftliche Gemeinschaft der Theorie angeschlossen und anderen Fragen zugewandt. Eine etwas kurzsichtige, aber ganz und gar menschliche Vorgehensweise.

Aber den immensen Gewalten, die das Ursprungspartikel des Kosmos zerrissen hatten, waren die Gesetze und Beschränkungen, die von den Menschen etabliert worden waren, ganz und gar fremd. Zeit, Raum und Masse veränderten sich und wuchsen. Alle drei Parameter waren in konstanter und rapider Bewegung. Verglichen mit der menschlichen Existenz jedoch waren diese Veränderungen unvorstellbar langsam. Die einhunderttausend Jahre, seit Homo sapiens zum ersten Mal aus dem Nebel aufgetaucht war, waren verglichen mit den sechs Milliarden Jahren seit Entstehung dieses Universums nichts. Tatsächlich war das Universum zerrissen, und die Risse und Spalten zwischen den ständig in Bewegung befindlichen Elementen trieben durch das, was die Menschen als ›Leerraum‹ bezeichneten. Einer dieser kosmischen Risse bewegte sich gerade durch den Sprungpunkt des Salford-Systems. Was immer mit diesem Riss in Berührung kam, würde wie durch eine sechste Dimension über kosmische Distanzen hinweg geschleudert werden. Mit viel Glück würden Lebewesen im Innern dieses Objekts überleben und sich an einem gänzlich unbekannten Ort wiederfinden. Oder möglicherweise auch, wenn sie ganz besonderes Pech hatten. Denn einmal dort angekommen, würde es für die Reisenden kein Zurück geben.

Auf der Brücke der Raiden behielt Kommandeur Wilson Hartwell die Konsole beim Anflug auf den Transitionspunkt genau im Auge. Einmal im Sprung, gab es keine Navigationsaufgaben mehr. Die gesamten Berechnungen waren ausgeführt worden, während das Schiff nahe beim Sprungpunkt im Salford-System gewartet hatte. Es war wie das Öffnen einer Tür und das Hindurchtreten. Man trat von einem Zimmer ins andere, auch wenn diese dreißig Lichtjahre auseinander lagen. So einfach war es. Der Computer führte alle Navigationsberechnungen aus, lange bevor es zum Sprung kam. Solange der Sprungpunkt korrekt berechnet war, blieb der Besatzung nur das Warten. Der Countdown für den Absprung lief. Dann erreichte die Anzeige Null, und das draconische Kombinatssprungschiff Raiden erzitterte leicht, als es sich auflöste und ins Niemandsland des Hyperraums eintrat.

2

Der Sprung durch den Hyperraum war leicht, wie der Schritt über eine Türschwelle. So einfach war das Ganze, auch wenn einen dieser Schritt dreißig Lichtjahre weit trug. Die Transition selbst erfolgt nahezu ohne Zeitverlust, aber der menschliche Geist ist kaum in der Lage, den Vorgang zu verstehen oder die benötigte Zeit wahrzunehmen. Hartwell war schon so oft durch diese Tür getreten, dass er auf das Geschehen gelassener reagierte als Reisende, die ihr Brot auf andere Weise verdienten. Er hielt sich an seinem Pilotensessel fest und fixierte die Konsole des Navigationscomputers. Der Schirm zeigte ihre Position anhand eines digitalen, dreidimensional polaren Koordinatensystems. Das System benutzte das terranische Zentralgestirn Sol als Mittelpunkt. Die Ekliptik des Solarsystems diente ihm als Ebene, wobei der terranische Norden als ›oben‹ und der terranische Süden als ›unten‹ gesehen wurde. Auf dieser Grundlage genügten ein Vektor und ein positiver oder negativer Zahlenwert, um einen Punkt im Raum festzulegen.

Mit Hilfe der NAVSTAR-Koordinaten und -Karten war es möglich, eine bis auf einen Meter exakte Position zu ermitteln. Nicht, dass ein Sprungschiff eine derartige Genauigkeit benötigte. Sobald der Sprung genehmigt war, wurden die Koordinaten des Zielpunktes in den Computer gespeist. Die letzten Stellen dieser Koordinaten legten den exakten Rematerialisierungspunkt des Schiffes fest.

Zur Ausführung des Sprungs startete das Schiff an einem bestimmten Punkt der Schwerkraftsenke des Ausgangssystems, einem Punkt, an dem die Gravitationseinwirkung der Planeten und des Zentralgestirns auf null reduziert waren. Da die Koordinaten des Zielpunktes bereits festlagen, drehte sich das Schiff nun, bis die entsprechende Ausrichtung erreicht war. Aus dem Speicher des Bordcomputers wurde der Autorisationscode der Transition abgerufen. Das Kearny-Fuchida-Triebwerk des Sprungschiffs leitete einen Plasmaenergiestoß aus dem Titan-Germanium-Kern im Innern des Flüssigheliumtanks in den Feldinitiator. Diese Energie erzeugte das Hyperraumfeld, das, einmal aufgebaut, vom K-F-Antrieb weiter verstärkt wurde. Es war wie das Öffnen einer Tür und das Hindurchtreten in ein anderes Zimmer.

Hartwell behielt die digitale Positionsanzeige im Auge. Die Tür öffnete sich, und das Schiff trat hindurch. Beim Überqueren der Schwelle kam es zu einem plötzlichen Ruck. Das war nicht vorgesehen, aber gelegentlich kam es vor, dass die Tür von irgendetwas blockiert wurde. Dann kam es meist zu einem Unfall. Unglücklicherweise besaßen Sprungschiffe nur schwache Meteorschilde zum Schutz gegen solche Zwischenfälle.

Die Erschütterung wurde stärker. Hartwell musste sich an den Sessellehnen festhalten, um nicht durch die Brücke geschleudert zu werden. Der Navigator hatte weniger Glück. Er hatte sich herumgeräkelt und ein Bein über die Armlehne seines Sessels geworfen. Die erste Erschütterung hatte er mit der Gelassenheit eines Veteranen ignoriert; bei der zweiten ging das nicht mehr. Da auf der Brücke Schwerelosigkeit herrschte, konnte er sich nicht in den Sessel fallen lassen, um sich zu sichern.

Der Stoß kam zu schnell und zu stark. Hartwell sah das ängstlich verzerrte Gesicht des Navigators, als dieser vorbeigeschleudert wurde. Der Mann öffnete den Mund zu einem Schrei, aber ob er seine Angst herausbrüllen oder um Hilfe rufen wollte, sollte niemand mehr herausfinden. Noch bevor er einen Ton herausbrachte, schlug er auf die Kontrollkonsole des Lebenserhaltungssystems. Der Aufprall führte zum Tod.

Lebenserhaltungsspezialistin und 4. Offizier Maria Savoyard war gerade durch die Brückenluke gestiegen, als die Raiden zum zweiten Mal erbebte. Sie war keine ausgebuffte Veteranin und hatte die erste Erschütterung als Warnung aufgefasst. Sie war zwar nicht wirklich auf den zweiten Schlag vorbereitet, aber doch in einer weit besseren Lage als der erfahrenere Navigator. Indem sie beide Arme um das für Notfälle vorgesehene manuelle Öffnungsrad der Luke schlang, verhinderte sie, dass sie ebenfalls quer durch die Brücke des Raumschiffs geschleudert wurde. Dieses Manöver war auch in anderer Hinsicht ihre Rettung.

Indem sie durch die Bewegung des Rades das Notsystem auslöste, blockierte sie die Luke in geöffneter Position. Hätte sie das nicht getan, wäre die luftdichte Luke zugefallen, wie alle anderen Türen und Schotts auf der Raiden auch. Und dem tonnenschweren Druck der hydraulischen Luke hätte nichts standgehalten – sicher kein menschlicher Körper. Sie klammerte sich an das Rad und schnappte nach Atem.

Hartwell hatte keine Zeit, den Tod seines Navigators zu betrauern oder sich um das Schicksal Savoyards Sorgen zu machen. Während sein Körper gegen das wilde Aufbäumen des Schiffes ankämpfte, versuchte sein Geist sich darüber klarzuwerden, was vorging. Die Masterkonsole an seinem Platz spielte verrückt. Die Anzeigelämpchen, die sämtliche Hauptfunktionen des Energiesystems überwachten, blinkten geschlossen rot. Die Navigations- und Koordinatenanzeigen waren außer Kontrolle. Vektorzahlen zuckten über den Schirm: 2753 … 9829 … 0080 … 1513. Sie erschienen so schnell hintereinander und wichen so weit voneinander ab, dass er nichts mehr verstand. Der Entfernungsmesser blinkte: 0000000,0000000. Dann drehte er durch und kletterte innerhalb von Augenblicken auf 9999999,9999999. Die Vektoranzeige zeigte dieselbe Zahl: 9999999,9999999.

Hartwell drehte sich der Magen um. Seine Kehle wurde staubtrocken. Die Raiden war an keinem realen Ort mehr.

Dann war ebenso plötzlich, wie das Chaos hereingebrochen war, Ruhe. Bis auf das laute Keuchen Savoyards, die noch immer am Notrad hing, herrschte Stille auf der Brücke. Der vordere Sichtschirm wurde langsam klar und zeigte Myriaden Sterne vor der schwarzen Leere des Alls. Die Kameras schwenkten über die Leere und suchten ihrer Programmierung gemäß nach dem nächstgelegenen Sonnensystem.

Hartwell rief einen Lagebericht des Maschinenraums ab und bekam eine geballte Ladung schlechter Nachrichten. Der Heliumspeichertank des K-F-Antriebs zeigte breite Risse: flüssiges Helium leckte in die Wartungsschächte. Die Meldungen vom Fusionsreaktorkern waren noch schlimmer. Das Eindämmungsfeld des Reaktors hatte Schaden genommen. Das Sprungschiff Raiden war in erbarmungswürdigem Zustand.

Der Rest der Brückenbesatzung kam durch die Zugangsluken. Die Männer und Frauen stießen sich von den Wänden ab und trieben auf ihre Stationen. Hartwell nahm derweil Verbindung mit den hysterischen Landungsschiffskapitänen auf, um sie zu beruhigen.

Ein Raummatrose fing den durch die Brücke treibenden Leichnam des Navigators ein und entfernte ihn. Savoyard gab zögernd das Lukenrad frei und bewegte sich an ihren Platz. Hartwell deutete stumm auf die Navigatorenstation; ihr eigentlicher Arbeitsplatz an der Lebenserhaltung war durch den Unfall blutverschmiert.

Die Raiden würde nie wieder springen, soviel war Hartwell klar. K-F-Antrieb und Fusionskern waren beschädigt und leckgeschlagen. Hinzu kam, dass der Energiestoß, der die Erschütterung begleitet hatte, durch die das Schiff vom Kurs abgebracht worden war, die meisten Kontrollsysteme zerschmolzen hatte. Und der Stromimpuls richtete noch immer weiteres Unheil an Bord des Schiffes an. Die automatischen Diagnose- und Reparatursysteme beförderten ihn durch alle Systeme. Wann immer die Besatzung ein System überprüfte oder zu reparieren versuchte, leistete der Energiestoß seine zerstörerische Arbeit. Der Verlust der internen Kreiselstabilisatoren war der Todesstoß.

Kurz nach der Rematerialisierung entschied sich Hartwell, die Raiden aufzugeben. Die einzige Frage war, wie lange ein Aufenthalt auf dem Schiff noch möglich war, und das hing von der strukturellen Integrität ab. Hartwell hätte das Leben der Raiden verlängern können, indem er die Landungsschiffe abstieß, aber das war unvertretbar. Es gab keinen Ort, an den die Landungsschiffe ausweichen konnten, zumindest keinen sicheren Ort. Zumindest für eine Weile hatte das Sprungschiff noch die Sensorenleistung, die erforderlich war, innerhalb des erreichten Systems einen Planeten zu lokalisieren, einen Planeten, wo die Menschen, die sich jetzt mehr oder weniger panisch an Bord drängten, Zuflucht finden konnten.

Der Hyperraumsprung hatte auch die Elektronik an Bord der meisten Landungsschiffe in Mitleidenschaft gezogen. Viele von ihnen waren nicht mehr in der Lage, die interplanetaren Entfernungen bis zu einer Zufluchtswelt aus eigener Kraft zurückzulegen. Es würde notwendig werden, sie mit dem Sprungschiff bis dicht an die Welt zu transportieren, bevor sie abgekoppelt werden konnten.

Das wurde Hartwells neue Mission. Eine Welt finden, die Raiden so dicht wie möglich heranbringen, mit seiner Crew auf eines der angedockten Schiffe oder das kleine Rettungsboot der Raiden umsteigen und ihre neue Heimat anfliegen.

Am dritten Tag nach der Rematerialisierung hatte die Ortung zwei mögliche Ziele identifiziert. Bei einem handelte es sich um einen großen Planeten, bei dem anderen um einen riesigen Mond. Hartwell entschied sich für den Planeten, hielt den Mond als Ausweichziel jedoch ebenfalls im Navigationssystem. Hartwells Zielpunkt lag sechs Tage Flug entfernt. Wenn die Raiden so lange durchhielt, hatten die Landungsschiffe eine gute Chance, den Rest der Distanz zu überbrücken. Aber die Umstände verschworen sich gegen die Raiden, ihre Besatzung und die Passagiere.

Gegen Ende des fünften Flugtages überhitzte der Fusionskern, und sie mussten den Reaktor abstoßen. Es war ein einfacher Vorgang, bei dem der gesamte Fusionskern ins All geschleudert wurde. Dadurch blieben für die Energieversorgung an Bord nur noch die Reservebatterien des Notsystems. Sie reichten unter normalen Bedingungen aus, Lebenserhaltung und Steuersysteme für vierzehn Tage aufrechtzuerhalten. Bei dem Fehlsprung jedoch waren viele von ihnen beschädigt worden. Crewmitglieder, die durch die Wartungsschächte krochen, entdeckten zahlreiche strukturelle Schwachstellen. Zu zwei Techs brach die Verbindung ab, nachdem sie die Wartungsnische 23B/886 betraten. Eine Sensorabfrage ergab weder Puls- noch Atemgeräusche im betreffenden Schachtabschnitt und meldete lebensfeindliche Umweltbedingungen. Die Nische wurde von beiden Seiten permanent versiegelt.

Ein Strukturschaden wurde in der Spindelsektion des Schiffes entdeckt, wo er sich durch den Außenrumpf bewegte und den Verbindungsgang zwischen den Dockkragen beschädigte. Dadurch war außer im Raumanzug keine Bewegung zwischen den Landungsschiffen mehr möglich.

Plötzlich leuchteten die gesamten Brückenkonsolen für Lebenserhaltung, Strukturüberwachung und Antrieb rot auf. Das Licht der zahllosen roten Warnlämpchen tauchte die Brücke in ein beinahe heimeliges rötliches Flackerlicht, als habe jemand ein Lagerfeuer entzündet. Die Besatzung allerdings konnte dabei weder etwas Anheimelndes noch irgendwelche Gemütlichkeit empfinden. Im Gegenteil, die Männer und Frauen der Sprungschiffbesatzung beeilten sich, die Schutzanzüge überzustreifen. Die Raiden wurde von einer plötzlichen Erschütterung durchgeschüttelt, die an Bord der Landungsschiffe Menschen und Material umwarf. Immer mehr Warnlichter flammten auf. Der Strukturriss raste den Schiffsrumpf entlang. Hartwell gab das Signal zur Notevakuierung.

Die Alarmsirene gellte den langen, leeren Korridor entlang. Alle noch nicht gesicherten Türen glitten zischend zu. Der Bordcomputer aktivierte die automatischen Abdocksequenzen. Die Landungsschiffe wurden reihum abgestoßen, ohne dass ihre Besatzungen etwas dagegen hätten unternehmen können. Innerhalb von Minuten war die Brücke leer. Hartwell verließ den Raum als letzter und schwang sich in den Gang zum Rettungsboothangar. Als er in das Boot kletterte, zählte er hastig die Anwesenden durch. Sie standen dichtgedrängt, die Visiere ihrer Raumhelme heruntergeklappt und gesichert. Die Luke schwang zu, die Kabine wurde mit einem hellen Zischen unter Druck gesetzt, dann öffnete sich der Dockkragen. Die Schubdüsen lösten das Boot von seinem unkontrolliert taumelnden Mutterschiff.

Hartwell blickte aus dem Seitenfenster des Bootes und beobachtete, wie sich auch die Geier von der Raiden absetzten. Die meisten von ihnen waren in Sicherheit, aber ein Schiff hatte sich im verformten Dockkragen verfangen. Das Landungsschiff setzte in einem verzweifelten Befreiungsversuch seine Haupttriebwerke ein, aber ohne Erfolg. Die Schubleistung der Maschinen trieb das Schiff nur immer tiefer in den Kragen und hämmerte ihn erst recht außer Form. Das Landungsschiff würde nie mehr freikommen. Hartwell beobachtete sein verzweifeltes Zucken und fühlte sich an ein wildes Tier erinnert, das sich in einer Schlinge wand. Die gegeneinander ankämpfenden Gewalten waren zu viel für das Schiff. Hartwell sah den ersten Riss im Rumpf. Erst war er noch winzig, dann trennte er plötzlich den Tragflächenansatz auf der entfernten Seite des Schiffes bis zur Frachtluke ab. Eine Wolke von kondensierter Feuchtigkeit schlug aus dem Loch und gefror augenblicklich zu Eis. Er sah Menschen ins All stürzen.

Die Landungsschiffe entfernten sich und nahmen Kurs auf die Planetenoberfläche. Die Bordcomputer waren mit den Koordinaten gefüttert worden und hätten auch ohne menschliche Kontrolle diesen Kurs eingeschlagen. Sie würden vielleicht nicht die beste Landezone auswählen, aber sie würden die Schiffe auf den Boden bringen. Vier der Schiffe flogen in Formation. Sie würden dicht genug beieinander landen, um sich am Boden gegenseitig zu unterstützen. Die übrigen Schiffe verteilten sich. Einer der fliehenden Geier streifte mit der Tragflächenspitze eines seiner Schwesterschiffe. Außer Kontrolle taumelten beide Schiffe auf den Planeten zu. Hartwell sah ihnen nach und hoffte, dass ihre Besatzungen tot waren. Ein zwei Tage langer Sturz ohne Hoffnung auf ein Überleben war zu grausam.

Die Umgebung der Raiden leerte sich. In seinem Rettungsboot hielt der Tai-sa die Position, bis er keine weitere Bewegung mehr ausmachen konnte. Schockiert sah er, wie sich plötzlich das Solarsegel entfaltete, mit dessen Hilfe die Energie für den K-F-Antrieb des Sprungschiffs gesammelt wurde. Irgendein durch den fast komplett ausgefallenen Bordcomputer fahrender Impuls musste das entsprechende Unterprogramm ausgelöst haben. Das riesige Segel würde die Schiffsposition in alle Ewigkeit markieren. Die verbliebene Energie des zerstörerischen Stromstoßes hatte die gesamte Absorptionsschicht abgebrannt, und das Tuch leuchtete grellweiß.

Hartwell wendete das Rettungsboot und folgte den Landungsschiffen in Richtung der wartenden blauen Weltkugel.

TEIL I

7. November 3056

Salford Draconis-Kombinat