Das Buch

Im Istanbul der Jahrhundertwende tummelt sich ein farbenfrohes Völkergemisch. Im glamourösen Hotel Pera Palace, inmitten des ehemaligen Ausländerviertels Pera, schreibt Agatha Christie ihren Mord im Orient-Express, und Mustafa Kemal Atatürk treibt seine visionäre Modernisierung des Landes voran.

Als die alte byzantinische Metropole im Wandel vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik den rasanten Sprung vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert vollzieht, reichen sich Christentum, Judentum und islamischer Glaube die Hand. Flüchtlinge aus Russland und Zugereiste aus aller Welt bevölkern die Stadt, als 1918 die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Pera Palace Quartier beziehen. Universitäten sprießen aus dem Boden, verwegene Jazz- Clubs lassen keine Wünsche offen, ein junger Reporter namens Ernest Hemingway kommt und bleibt. Miss Türkei wird die erste muslimische Schönheitskönigin, Leo Trotzki macht Exilstation. Der Zweite Weltkrieg setzt Geheimdienstfehden auf die Tagesordnung, von Pera aus organisieren jüdische Aktivisten Fluchtwege nach Palästina. Atmosphärisch dicht und mit profundem Wissen porträtiert Charles King ein Istanbul, das sich neu erfindet und überraschender nicht sein könnte.

Der Autor

Charles King, Professor für internationale Beziehungen an der Georgetown Univer­sity, Washington, ist Historiker, Politologe und Philosoph. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem die Stadtgeschichte von Odessa. Seine Beiträge erscheinen u.a. in der Washington Post, der LA Times, bei CNN, BBC und im History Channel.

Charles King

Mitternacht im

Pera Palace

Die Geburt des modernen Istanbul

Aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber

Propyläen

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
Midnight at the Pera Palace. The Birth of Modern Istanbul
bei W. W. Norton & Company, New York

Für das Bild im Prolog gilt unser herzlicher Dank
dem Pera Palace Hotel Jumeirah, für alle anderen Bilder
der Yapı Kredi Bank Selahattin Giz Collection, Istanbul.

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ISBN: 978-3-8437-1122-7

© 2014 Charles King
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Lektorat: Palma Müller-Scherf
Karten: Thomas Hammer
Covergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
Titelbild oben: © akg-images
Titelbild unten: © Yapı Kredi Bank Selahattin Giz Collection, Istanbul

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für
Cătălin Partenie,
Lehrer und Freund

INHALT

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Karten von Istanbul

PROLOG

Endnoten des Kapitels »Prolog«

EINS

Endnoten des Kapitels »Eins«

ZWEI

Endnoten des Kapitels »Zwei«

DREI

Endnoten des Kapitels »Drei«

VIER

Endnoten des Kapitels »Vier«

FÜNF

Endnoten des Kapitels »Fünf«

SECHS

Endnoten des Kapitels »Sechs«

SIEBEN

Endnoten des Kapitels »Sieben«

ACHT

Endnoten des Kapitels »Acht«

NEUN

Endnoten des Kapitels »Neun«

ZEHN

Endnoten des Kapitels »Zehn«

ELF

Endnoten des Kapitels »Elf«

ZWÖLF

Endnoten des Kapitels »Zwölf«

DREIZEHN

Endnoten des Kapitels »Dreizehn«

VIERZEHN

Endnoten des Kapitels »Vierzehn«

FÜNFZEHN

Endnoten des Kapitels »Fünfzehn«

SECHZEHN

Endnoten des Kapitels »Sechzehn«

SIEBZEHN

Endnoten des Kapitels »Siebzehn«

EPILOG

Endnoten des Kapitels »Epilog«

DANKSAGUNG

CHRONOLOGIE

BIBLIOGRAPHIE

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

Der Haupteingang des Pera Palace Hotels an der Kreuzung Kabristan (»Friedhofstraße«) und Çapulcular (»Halsabschneiderstraße«)

Als ich vor etwa zwanzig Jahren das Pera Palace zum ersten Mal sah, musste man schon einen ganz speziellen Grund haben, diesen Teil Istanbuls* aufzusuchen – vielleicht um an einer Lampe ein Kabel erneuern zu lassen oder um eine transsexuelle Prostituierte zu frequentieren. Gedrungen und quaderförmig stand der alte Hotelbau vor mir, verkleidet mit fleckigem grünen Stuckmarmor. Seine vergilbte Fin-de-Siècle-Pracht wirkte irgendwie fehl am Platz zwischen den schäbigen Betonblocks, die in den 1970er und 1980er Jahren in planlosem Wildwuchs um ihn herum entstanden waren. In den mit rotem Samt bezogenen Sesseln der Orient-Bar in seinem Inneren saß nie jemand, und der Barkeeper wirkte stets überrascht, wenn ich auf einen Cocktail und ein Schälchen schal gewordene leblebi (beinharte geröstete Kichererbsen) hereingeschneit kam.

Das Pera Palace hatte andere Zeiten gesehen. Eröffnet worden war es 1892 als Nobelherberge für Reisende, die mit dem Orient-Express die Hauptstadt des Osmanischen Reiches besuchten. Jahrzehntelang blieb es die erste Adresse für ausländische Istanbul-Besucher. Sein Aufzug, dessen an einen Vogelkäfig erinnernde Kabine aus Holz und Stahl, umschlossen von der Marmortreppe, auf und ab schwebte, war der zweite in Europa jemals eingebaute (nach dem Aufzug des Eiffelturms). Aus einem barocken Speisesaal gelangte man in die benachbarte Lounge mit ihren intarsienartigen Stuckmarmor-Mustern und ihren Paravents aus kunstvollen Drahtgeflechten, über der sich eine Lichtkuppel wölbte. Jenseits der herrschaftlichen Fassade des Hotels erstreckte sich Pera, damals das schickste Viertel Istanbuls. Entlang der Hauptstraße, von vielen Istanbullus im 19. Jahrhundert und auch später noch die Grande Rue** genannt, erreichte man innerhalb einer kurzen Wegstrecke die Botschaften der meisten bedeutenden Staaten der Welt. In unmittelbarer Nachbarschaft des Pera Palace teilten sich amerikanische Diplomaten die Straße mit Besuchern des YMCA-Wohnheims und diverser legaler Bordelle, und wenige Ecken weiter beköstigten britische, russische und deutsche Diplomaten türkische Staatsbeamte in blattgoldgeschmückten Restaurants und schummrigen Clubs.

Das Pera Palace war gleichsam als letzter Gruß des Abendlandes entlang der Route in den Orient gedacht, das denkbar glanzvollste Hotel westlicher Art in der Hauptstadt des größten islamischen Reichs der Erde. Wie Istanbul selbst, war auch das Hotel die erste größere Anlaufstelle für Europäer, die sich ihren Traum von einer Reise ins Fabelreich der Sultane, Harems und Derwische erfüllen wollten. Doch noch bevor das Pera Palace den 20. Jahrestag seiner Eröffnung feiern konnte, bahnten sich tiefgreifende Veränderungen an.

Ein politischer Umsturz brachte die Abhalfterung einer altehrwürdigen Dynastie osmanischer Sultane und läutete ein starkes Jahrzehnt politischer Turbulenzen und gewalttätiger Erschütterungen des Gemeinwesens ein. Der Erste Weltkrieg endete mit militärischer Niederlage und ausländischer Besetzung. Und dann brachte das Jahr 1923 eines der umwerfendsten Beispiele für eine Selbsterneuerung aus eigener Kraft, die die Geschichte der Neuzeit zu bieten hat: Die Türken vollzogen den bewussten Bruch mit ihrer osmanischen Vergangenheit, warfen das Modell eines islamischen und multireligiösen Reichs über Bord und riefen an dessen Stelle eine säkulare Republik mit einem homogeneren Staatsvolk aus. Die politischen Führer dieser neuen Türkei verlegten ihre Hauptstadt um mehr als 300 Kilometer ostwärts, ins windumtoste Bergland von Ankara, weit weg von den korrumpierenden Erinnerungen an das alte Machtzentrum. Ein junger Reporter namens Ernest Hemingway erlebte die Anfänge mit. »Nach allem, was ich im Kino gesehen hatte, hätte Istanbul weiß und funkelnd und unheimlich sein müssen«, schrieb er im Spätherbst 1922 in einer Reportage für den Toronto Daily Star. Er war mit der Bahn vom Balkan gekommen, vorbei an ziegelsteinroten byzantinischen Mauern und im Wasser planschenden Kindern, hinein in ein Konglomerat aus kleinen Moscheen und Holzhäusern mit verstaubten Kuppeln und aufgesprungenen, von Salz und Wind grau gepeitschten Dachschindeln. Er hatte Landstraßen gesehen, verstopft von buntgekleideten Bauern, die hinter lehmverkrusteten, borstenhaarigen Wasserbüffeln hertrotteten. In der Stadt hatte er Migranten in feuchten Mänteln beobachtet, die vor ausländischen Botschaften Schlange standen, dazu ausgemusterte Offiziere in Regimentsuniform, die in ihren ausgefransten Waffenröcken gespreizt dastanden. Von einem Platz unweit des Pera Palace aus hatte er durch ein Fernglas Flüchtlingsfamilien beobachtet, die sich an die Reling eines aschespeienden Dampfschiffs klammerten. Alles Weiße war schmutzigweiß, hatte er festgestellt, und in der Luft lag eine Stimmung aus Hoffnungslosigkeit und Resignation, ähnlich wie in einem Wartezimmer, wenn der Doktor und eine Arzthelferin mit dem Menschen, den wir lieben, ins Sprechzimmer verschwunden sind.1

Schleier und Harems, Feze und Gehröcke waren im Begriff, auszusterben. Der Sultan und das Kalifat – die Institutionen, die nach islamischem Verständnis den Willen Gottes auf Erden verkörperten – wurden wenig später für abgeschafft erklärt. Stunden und Kalenderdaten sollten von nun an wie in Paris oder New York gezählt und angegeben werden, nicht wie in Mekka und Medina. Minister und Generäle verlegten ihren Sitz nach Ankara, die ausländischen Botschaften und ihre Anhängsel folgten wenig später. Über Istanbul legte sich die introvertierte Stimmung der hüzün, der ausgehöhlten Melancholie, die, wie türkische Intellektuelle meinten, die zerbröselten Mauern, baufälligen Villen und verrottenden Bungalows entlang der Küste beseelte.

Auf der anderen Seite eröffneten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Verwerfungen und Desorientierung eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten, die niemand hätte voraussehen können. Es zeigte sich, dass der Verlust auch ein dienstbarer Geist des Nützlichen sein konnte. Das Gegenmittel zur hüzün war etwas, das die Türken keyif nannten, ein Gefühl des freudetrunkenen Übermuts, des Singens, um nicht heulen zu müssen, der willentlichen Mobilisierung von Fröhlichkeit als Antwort auf den Schrecken. Ein Istanbul ganz anderer Art war bereits am Aufblühen: Die Büffelkarren teilten sich die Straßen neuerdings mit elektrischen Straßenbahnen und mit Automobilen. Cliquen radikaler Nationalisten hielten Treffen in denselben Stadtvierteln ab, in denen sozialistische Aktivisten die Weltrevolution ausheckten. Aus ruhigen Wohnquartieren stiegen neue musikalische Töne empor: instrumentaler Jazz, schlüpfrig und gewagt; das mit dem Plektrum gezupfte Stakkato eines blinden armenischen Lautenspielers; die Fackellieder der levantinischen Unterwelt. Man konnte im Maxim, dessen Inhaber ein schwarzer Russisch-Amerikaner war, einen Cocktail trinken oder zur Musik der Palm Beach Seven tanzen, die jeden Abend in der Garden Bar auftraten.

Die Minarette und Derwische waren immer noch da, aber Istanbul begann, sich zu einer islamischen Stadt neuartigen Typs zu entwickeln, einer Insel der Ausgestoßenen und der Tüchtigen, zur kosmopolitischen Ex-Hauptstadt eines islamischen Reichs, das den Traum vom Nationalstaat träumte, einer Stadt, die – damals wie heute – um ihren eigenen Weg zu einer sowohl islamischen als auch modernen Identität rang. In diesen Jahren des Umbruchs und Wandels fiel es einem, wenn man in die Wintersonne blinzelte, die sich zum westlichen Ende der Grande Rue hin senkte, nicht schwer, jenseits der Bettler und Touristenabschlepper ein ganz anderes Land und ein ganz anderes Leben zu erträumen. Es war ein Traum, den es unter Einsatz von Willenskraft und durch die Gunst der Umstände wahr zu machen galt.

Mehr als ein halbes Jahrtausend lang hatte das Abendland seine Vorstellungen von der islamischen Welt aus der Begegnung mit Istanbul bezogen: mit der Grandezza seines goldenen Zeitalters, der Plötzlichkeit seines Niedergangs, der anscheinend schicksalhaften Wahl zwischen zwei gleich schlimmen Alternativen, nämlich autoritärer Herrschaft und religiösem Extremismus. Doch in der Zwischenkriegszeit machten sich die Istanbullus westliche Ideale mit einer Passion zu eigen, die sich niemand hatte vorstellen können. Die Stadt, deren geographische Lage sie zum Bindeglied zwischen Europa und Asien machte, wurde zum Schauplatz des weltweit größten Experiments einer planvollen Metamorphose hin zu einer neuen, westlichen Identität.

Im Verlauf dieses Experiments wurde die frühere osmanische Hauptstadt zum Spiegelbild sowohl der besten wie auch der schlimmsten Errungenschaften des Westens: seines Optimismus wie seiner ideologischen Obsessionen, seines Einstehens für die Menschenrechte wie seiner Tendenz zum bevormundenden Staat, seinem Trachten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, und der Anmaßung, sie vollständig auszulöschen. Wenn Besucher darüber klagten, dass das alte Istanbul unterzugehen drohte, meinten sie damit in der Regel, dass das neue Istanbul ihnen selbst immer ähnlicher wurde. »Wir Kulturmenschen aus dem Westen«, schrieb der Historiker Arnold J. Toynbee unter dem Eindruck eines Türkei-Besuchs in den 1920er Jahren, »blicken mitleidig oder verächtlich auf unsere nicht-westlichen Zeitgenossen herab, die im Schatten einer stärkeren Macht stehen, die ihre Kräfte zu lähmen scheint, indem sie ihnen das Licht wegnimmt. […] Nähmen wir uns jedoch die Zeit, dieses konturlose, alles überschattende Wesen in Augenschein zu nehmen, […] würden wir zu unserer Verblüffung feststellen, dass seine Gesichtszüge die unseren sind.«2

Europäer, die in dieser Zeit nach Istanbul kamen, wussten sehr genau über die dunkle Unterseite ihrer Zivilisation Bescheid, weil sie deren Opfer waren. In den Parallelwelten, die durch den Zusammenbruch von Reichen in Europa und Nahost am Ende des Ersten Weltkriegs entstanden waren, erschienen zuweilen Europäer in der Rolle notleidender Immigranten, denen die Orientalen nolens volens Gastfreundschaft erwiesen. In mehreren sukzessiven Wellen wurden Europäer in Istanbul angeschwemmt, wenn auch anders, als sie es sich je hätten träumen lassen, nämlich nicht als Eroberer oder Bannerträger der Aufklärung, sondern als Vertriebene, Verarmte und Verzweifelte. Sie durchstreiften die Straßen Istanbuls und wurden verscheucht, wenn sie dem Eingang des Pera Palace zu nahe kamen: betrunkene Seeleute und ruinierte Unternehmer, verarmte Adlige, die Familiensilber und mottenzerfressene Pelze feilboten, Angehörige unerwünschter ethnischer Minderheiten, von dieser oder jener europäischen Regierung vor die Tür gesetzt; Opfer und Besiegte eines Bürgerkrieges, einer Palastrevolte oder einer weltverändernden Revolution.

Niemand verstand von dieser Geschichte mehr als der Mann, der sich meiner Erkundungsreise ins Dickicht von Istanbuls verschüttgegangener Jazz-Epoche als unverhoffter Gefährte und Lotse anschloss. Erstmals aufmerksam wurde ich auf Selahattin Giz durch eine Serie türkischer Photoalben, die in den frühen 1990er Jahren in limitierten Auflagen erschienen. Giz war ein Photoreporter klassischer Schule, mit der Mission, das alltägliche Leben, wie er es sah, in Wort und Bild festzuhalten, oft in verwischten, von Bewegung erfüllten Detailaufnahmen. Als ich sein Archiv besuchte, das heute im Besitz einer türkischen Bank ist, stellte ich fest, dass einer seiner größten Photokataloge unter der Rubrik »Kaza« – »Unfall« – abgelegt war. Es fanden sich darin grausige und sensationelle Bilder, wie man sie auf der Titelseite von Tageszeitungen erwarten würde, die Auflage machen wollen: zerfetzte Autos, totgefahrene Fußgänger oder die katastrophale Hinterlassenschaft des Tages, an dem das Schleppseil der Tünel-Seilbahn gerissen und die hölzerne Kabine zu Tal gerast und in die Talstation eingeschlagen war. Aber auch der private Eskapismus eines Photoreporters an einem gelegentlichen trägen Nachmittag hatte in dieser Kollektion Platz gefunden: streunende Katzen, interessante Schattenspiele, der eine oder andere Versuch eines erotischen Bildes.

Als ich die Photokollektion von Selahattin Giz durchstöberte, wurde mir klar, dass ich auf einen Menschen gestoßen war, der mitgeholfen hatte, die untergegangene Welt zu dokumentieren, um deren Verständnis es mir ging. Ich begriff des Weiteren, dass sein Leben jene Geschichte von Exil und Verjüngung widerspiegelte, die so prägend für seine Wahlheimat Istanbul war.

Giz kam 1914 als Kind einer muslimischen Familie in Saloniki (dem heutigen griechischen Thessaloniki) zur Welt. Seine Geburtsstadt war griechischen Ursprungs, überwiegend von sephardischen Juden bewohnt und bis 1912 Teil des Osmanischen Reichs gewesen. Im Gefolge der Balkankriege (die so etwas wie eine regionale Generalprobe für den verheerenden Ersten Weltkrieg waren) war Saloniki unter hellenische*** Herrschaft gelangt, und die neue Regierung zog alle Register, um die Jahrhunderte des Multikulturalismus auszutilgen, die das öffentliche Leben in der Stadt geprägt hatten: Minarette wurden abgerissen, Museen zu Kirchen umgewidmet. Häuser und Geschäfte wechselten aus islamischem in christlichen Besitz.

Die Familie Giz ging den Weg Hunderttausender anderer Moslems, die aus Südosteuropa hinausgedrängt wurden. Sie ließ sich in Beylerbeyi nieder, einem Stadtviertel Istanbuls auf der asiatischen Seite des Bosporus, in dem griechisch-orthodoxe, jüdische und armenische Einwohner für dieselbe kulturelle Vielfalt sorgten, wie die Familie Giz sie aus Saloniki kannte. Der junge Selahattin verbrachte jedoch die meiste Zeit während seiner beruflichen Laufbahn auf der anderen Seite der Wasserstraße, in Pera, wo die Kinos, die Straßenartisten und die Nachtclubs waren. Zur Feier seines sünnet, der islamischen Beschneidungszeremonie, die typischerweise einige Jahre vor Eintritt der Pubertät stattfindet, schenkte ein Onkel ihm eine Photokamera. Als Schüler des angesehenen Galatasaray-Lyzeums entwickelte Giz in den späten 1920er Jahren eine Leidenschaft für die Photographie, durchstreifte die Stadt mit seiner Zeiss-Ikon und gewann durch geduldige Überzeugungsarbeit Zugang zur Dunkelkammer der größten Tageszeitung Istanbuls, der Cumhuriyet (»Republik«). 1933 wurde er offiziell in die Redaktion der Zeitung aufgenommen und gehörte in der Folge vierzig Jahre lang zu ihren wichtigsten Photoreportern. Selahattin Giz starb 1994 mit achtzig Jahren.

Sich durch seine Photographien zu blättern – und durch die vieler unbekannter Photographen, die den Weg in seine Sammlung fanden –, ist wie eine Bilderreise durch ein Istanbul, von dem sich nur die wenigsten, ob Türken oder Touristen, vorstellen können, dass es jemals existiert hat. Da sind flachsblonde russische Chormädchen zu sehen, mit den Armen wedelnd und kokett ihrer Reize gewahr. Oder ein Veteranentreffen der Eunuchen aus dem kaiserlichen Harem des Sultans. Oder eine Gruppe muslimischer Männer, die mit der rituellen Schlachtung von zwei Böcken einen neuen Straßenbahnzug einsegnet. Man sieht Feuerwehrleute mit jenseitigen Gasmasken während einer Luftschutzübung und Schulmädchen, die untröstlich den Tod Mustafa Kemal Atatürks beweinen, des Gründers der modernen Türkei. Erwachsene Frauen üben zum Entzücken eines Kindes Seilhüpfen oder düsen auf einem Fahrrad eine Straße entlang, dass der Fahrtwind ihr dunkles Haar und ihre Sommerkleider flattern lässt. Und dann ein Bild von Giz selbst, von einem Freund an einem Istanbuler Wintertag geschossen, mit einem Lächeln im Gesicht und einer Ladung Schnee auf der Hutkrempe. Wenn Journalismus der erste Rohentwurf für die Geschichte ist, kann er manchmal auch ein heilsamer Schock sein, ein Mittel, uns mit der Nase darauf zu stoßen, dass es andere Lebensweisen gab, die zu ihrer Zeit sinnvoll waren, »unordentliche« Existenzen in der Nachbarschaft von Mitbürgern, die anders beteten und anders speisten: Moslems, Christen und Juden, fromme und weltliche, Flüchtlinge und Einheimische. Und alle machten auf die eine oder andere Weise einen neuen Anfang.

Istanbul ist heute eine Weltstadt, eine immer weiter wachsende Metropolenregion mit mehr als 13 Millionen Einwohnern; das sind mehr Einwohner, als Griechenland, Österreich oder Norwegen haben – mehr Einwohner in der Tat, als in zwei Dritteln aller Länder unserer Welt leben. Aus alten Fischerdörfern sind schicke Vororte geworden, aus alten Vororten städtische Zentren mit glasverkleideten Wolkenkratzern, die neue Moscheen und Einkaufszentren überragen. Selbst an hohen islamischen Feiertagen muss sich der in arabischer Sprache gesungene Gebetsruf gegen das Hämmern türkischer Popmusik durchsetzen, die durch die dünnen Wände der Kaffeebars nach außen dringt. Der Istanbul-Besucher kann im Laufe eines Nachmittags die Weltzentrale des griechisch-orthodoxen Christentums, einen der Hauptsitze der apostolischen Kirche Armeniens, den Amtssitz des türkischen Oberrabbiners und das Mausoleum eines der engsten Kampfgefährten Mohammeds besuchen. Istanbul ist Heimstatt sowohl für Menschen, die sich in erster Linie als Türken fühlen, als auch für solche, die sich zu einer kurdischen, alevitischen, armenischen oder tscherkessischen Nation bekennen – und dies heute angstfreier und selbstbewusster tun als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der jüngeren Geschichte.

Der Aufstieg Istanbuls begann mit der Abnabelung von einer Stadt, die den meisten Besuchern als Konstantinopel geläufig war. Die neue Stadt war in gleichem Maß das Geschöpf von Einwanderern wie von Auswanderern – von Männern und Frauen, die freiwillig oder von der Not getrieben nach Istanbul kamen, wie auch von denen, die der Stadt den Rücken gekehrt hatten, der ersten Generation republikanischer Istanbullus wie der letzten Generation kaiserlicher Konstantinopeler. In einer Epoche des Abschieds und der Rastlosigkeit, die wir im Rückblick als die Zwischenkriegszeit bezeichnen, war das Pera Palace nicht der einzige Ort, an dem diese Wanderer zwischen den Welten sich neu zu erfinden begannen. Doch für mehrere aufeinanderfolgende Wellen von Flüchtlingen, Migranten und Exilanten war das geschichtsträchtige Hotel ein Symbol des Übergangs von einer alten in eine neue Zeit, ein Ort, der die Bindungen zwischen Ost und West, zwischen Reich und Republik sowie zwischen Nostalgie und Experiment verkörperte, gelegen in der einzigen Stadt auf Erden, die ein Machtzentrum sowohl des Christentums als auch des globalen Islams gewesen war.

Endnoten des Kapitels »Prolog«

* Wohl wissend, dass die Stadt am Bosporus bis in die 1930er Jahre hinein Konstantinopel genannt wurde, verwende ich in diesem Buch ohne Ansehen des jeweiligen historischen Kontexts den modernen türkischen Namen Istanbul.

** Auch noch viele Jahre nach ihrer Umbenennung in İstiklal Caddesi (Avenue der Unabhängigkeit) benutzten viele Istanbullus für diese Straße den hergebrachten Namen Grande Rue.

*** Die seit Jahrtausenden in Istanbul ansässig gewesenen Griechen verstanden sich traditionell als eine eigenständige ethnische, sprachliche und kulturelle Gemeinschaft und grenzten sich von den Bewohnern Griechenlands ab. Es erscheint mir zweckmäßig, dieser Abgrenzung auch sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Ich tue das, indem ich die griechischsprachigen Bewohner Griechenlands als Hellenen, die Istanbuler Griechen als Griechen bezeichne.

1. Hemingway, »Konstantinopel: schmutzigweiß«. In: Ders., Reportagen 19201924, S. 20002, sowie ders., »Waiting for an Orgy«, Toronto Daily Star, 19. Okt. 1922, und ders., »A Silent, Ghastly Procession«, Toronto Daily Star, 20. Okt. 1922, beide in: Hemingway, Dateline: Toronto, S. 22732.

2. Toynbee, Western Question, S. 1.