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1. Auflage 2. Druck

© 2020 Frauke Rüffel

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-750-48992-9

Inhaltsverzeichnis

IM FEBRUAR

„Ist das wurmig!“ Harmo, der kleine Köderwurm strahlte vor Glück. Er war gerade dabei, sein Kostüm anzuziehen, das er sich für den Karneval in diesem Jahr ausgesucht hatte.

Auf den Straßen und Plätzen in Wurmstädt herrschte bereits ein fröhliches und ausgelassenes Treiben. Der Lärm war bis in die schlammige Sandröhre zu hören, in der Harmo mit seiner Mutter wohnte.

„Bist du endlich fertig?“, rief eine Stimme.

Harmo band sich schnell ein grünes Halstuch um und kroch durch einen langen Gang, von dessen Decke das Wasser tropfte, in die Küche.

„Hier bin ich!“

Er drehte sich im Kreis, zog seinen Piratensäbel vom Gürtel und fuchtelte damit vor seiner Mutter herum.

„Bitte lass mich leben, du gefährlicher Seeräuber!“, jammerte die Köderwurmfrau.

Harmo war zufrieden und steckte seine Waffe weg. Nun lachten beide, wobei der massige Körper seiner Mutter wie ein Wackelpudding auf und nieder hüpfte.

„Dein Kostüm ist aber auch klasse, Mami!“

Harmos Mutter trug einen Rock aus Büroklammern und einen Papphut, der wie ein Stempel aussah. Unter dem Hut quollen lange Farnenwedel hervor, die jene Haarpracht ersetzen sollte, von der die Köderwurmfrau seit ihrer Kindheit träumte. Eigentlich trugen die meisten Würmer nur Borsten oder Schuppen, selten sah man richtige Kleidung auf ihrem Körper. Doch beim Karneval im Februar trugen alle Würmer in Wurmstädt bunte und lustige Kostüme. Gerade deshalb war der Karneval bei den Wurmstädtern sehr beliebt, denn jeder Wurm konnte in eine andere Haut schlüpfen und für kurze Zeit dem Alltag entfliehen.

Das Leben in Wurmstädt hatte einerseits Ähnlichkeit mit dem Leben der Menschen in unseren Städten, andererseits war es einzigartig, weil dort alles wohnte, was sich Wurm nannte oder mit einem Wurm verwandt war. Dazu gehörten Strudelwürmer, Bandwürmer, Schuppenwürmer , Regenwürmer, Mistwürmer, Schlammröhrenwürmer, Saugwürmer, Meeresringelwürmer, Glühwürmer und Köderwürmer wie Harmo und seine Mutter, aber auch wurmartige Geschöpfe mit Namen wie Seemaus, Vielfraßegel oder Schneckenegel. Es war 100 Jahre her, als eine Gruppe Schlammröhrenwürmer Land eroberte und am Grunde schlammiger und abwasserbelasteter Bäche die ersten Wohnröhren baute. Nun durchzogen Wohnröhren die ganze Stadt und boten den Würmern ein gemütliches Zuhause. Die Bäche waren sauber und abwasserfrei. Die erwachsenen Würmer gingen zur Arbeit und die Wurmkinder besuchten den Kindergarten oder waren bereits in der Schule und lernten zusammen mit Harmo alles, was man als Wurm wissen musste. Ihre Freizeit verbrachten die Wurmfamilien mit Wettkämpfen im Graben oder Tanzen. Das Wettgraben machte nicht nur großen Spaß, sondern diente zugleich der Verbesserung des Bodens in Wurmstädt. Die Würmer belüfteten durch das fleißige Buddeln im Erdreich den Boden, bauten damit schädliche Schwermetalle ab und erzeugten wertvollen Humus, eine sehr fruchtbare Erde. So verwunderte es nicht, dass auf den Wurmstädtern Böden alles wuchs, was in der Pflanzenwelt einen Namen hatte. Obwohl die Köcherwürmer aufgrund ihrer großen Schaufelborsten, die sie zur Arbeit benutzten, seit vielen Jahren alle Grabwettkämpfe gewannen, störte das niemanden, denn schließlich hatte die Gemeinschaft einen großen Nutzen davon. Zur Zeit des Karnevals konnte man in Wurmstädt die Farben- und Blütenpracht der Pflanzen, die sich dank der Humuserde entwickelte, nicht bestaunen, denn es war Winter. Die Blumen, Sträucher und Gräser schliefen tief unter einer feinen Schneedecke, ohne sich vom Lärm des Karnevals stören zu lassen.

Harmo und seine Mutter krochen vergnügt über eine verschneite Wiese bis zum Marktplatz. Manchmal machten sie eine Pause, um ein besonderes Kostüm zu bewundern. Als sie auf ein großes Festzelt zusteuerten, konnten sie laute Musik hören. Eine bekannte Rockgruppe, deren Musiker Kompostwürmer waren, spielte beliebte Hits.

„He, mein süßes Würmchen, kriech bitte in mein Herz. Sonst verkriech ich mich zu Hause vor lauter Liebesschmerz“, trällerte es aus dem Zelt. Harmo und seine Mutter bewegten sich auf die Tanzfläche zu, machten sich Platz und begannen im Rhythmus der Musik zu tanzen. Dabei schlängelten sie geschmeidig ihre Hüften und bewegten ihre Borsten hin und her. Manchmal blieben sie mit ihren Borsten aneinander hängen, dann lachten sie und machten weiter.

Nach mehreren Tänzen und einem Glas leckerer Schlammbowle beschlossen sie zu gehen. Der Marktplatz war inzwischen mit sehr vielen Würmern gefüllt, die im Takt der Musik tanzten und schunkelten. Harmo und seine Mutter krochen geschickt durch die Wurmmassen, bis sie die Tribüne erreicht hatten. Sie jubelten und klatschten, denn in wenigen Minuten sollte Herr Koreni eine Büttenrede halten. Herr Koreni besaß nicht nur die größten, mit Borsten besetzten Stummelfüße und war ein geschätzter und kluger Ringelwurm, sondern er war der Bürgermeister. Der Bürgermeister und ein Stadtrat lenkten die Geschicke der Stadt. Im Stadtrat waren zahlreiche Viel- und Wenigborster vertreten, die aber alle zur Familie der Ringelwürmer gehörten. Während sich die Vielborster um die Politik und die Kultur im Ort kümmerten, bauten die Wenigborster wichtige Unternehmen auf.

Harmos Mutter versäumte nie eine Gelegenheit, Herrn Koreni sprechen zu hören. Sie ging zu jeder Wurmversammlung im Rathaus und auch heute wollte sie seinen Worten lauschen. Als Herr Koreni auf die Bühne trat, tobte die Menge. Sein roter Schlauchkörper war mit grauer Farbe bedeckt und an seinem Kopf waren ein langer Rüssel und große Ohren befestigt. Harmo öffnete weit sein Maul. Das machte er immer, wenn er staunen musste.

„Verschluck ihn nur nicht, mein Junge! Das ist ein Elefant“, lachte die Mutter.

Sie kannte dieses große Tier, weil sie es in einer Zeitschrift aus der Menschenwelt gesehen hatte.

„Elefanten sind größer als Menschen, aber sie sollen nett sein“, meinte die Köderwurmfrau. „Das habe ich jedenfalls gelesen.“

Harmo nickte und schaute voller Bewunderung auf den Elefanten, der wie ein Wurm zum Rednerpult kroch.

AM NÄCHSTEN TAG