1. Auflage 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Susann Pfeiffer

Text & Illustrationen: Susann Pfeiffer

Lektorat: Sandra Hoffmann, sahotext.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-9557-9

Für Jens

Inhaltsübersicht

Chilli springt in ein neues Leben

Die untergehende Sonne tauchte den Horizont in ein dunkelrotes, warmes Licht. Häsin Chilli sah kurz von ihrer harten Arbeit auf und sehnte sich hungrig nach Futter, aber auch nach Erholung und Ruhe. „Was sitzt du da faul herum? Schaufele gefälligst ein paar Kohlen! Der Zug bleibt ja gleich stehen“, zischte die dicke Schlange den kleinen rosafarbenen Hasen an. Und Chilli schaufelte und schaufelte ängstlich weiter Kohlen in den Ofen, bis ihre Pfötchen ganz weh taten und sie vor lauter Müdigkeit einige Stunden später mit knurrendem Magen ganz entkräftet in einen tiefen Schlaf fiel. Sie träumte von einem Leben in Freiheit, außerhalb dieses rasenden Zuges, der wie ein Gefängnis für sie war. Sie stellte sich vor, dass sie eines nachts einfach aus der geöffneten Zugtür springen, in die Tiefe des Tals purzeln und auf einem weichen Moosbett landen würde. Aber sie hatte Angst, so viel Angst, vor dem, was sie unten im Tal erwarten könnte. Diese Ungewissheit war lähmend und hielt sie Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr aufs Neue zurück, es doch einfach zu versuchen. Und so sah sie sich weiterhin den Strapazen der fiesen Schlange und des gemeinen Chamäleons, dem Helfer der Schlange, ausgeliefert.

Eines morgens erwachte Chilli jäh aus ihrem Traum, weil eine klebrige Zunge durch ihr weiches Fell schleckte. Es war das Chamäleon, das auf der Suche nach Kuchenresten im Fell des kleinen Hasens war.

„Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ Chilli schob das Chamäleon angewidert beiseite. Das Chamäleon stellte Chilli unwirsch eine Tasse Kaffee hin und wies es an, weiter Kohlen zu schaufeln. „Die Fahrt muss schließlich weitergehen“, raunzte das Chamäleon und watschelte langsam zurück zum Schaltpult. Vorher schippte es noch mit einem viel zu kleinen Teelöffel etwas Kohle ins Feuer, welches den alten Zug anheizen sollte. Die Schlange saß währenddessen auf der gegenüberliegenden Seite auf einem bequemen Sessel. Während sie genüsslich aus dem Fenster blickte, schob sie sich ein weiteres Stück Kuchen auf die Gabel. „Schneller müsse der Zug fahren, noch schneller“, forderte die Schlange. Man müsse sich nur mehr anstrengen.

Chilli hatte verstanden. Sie klopfte sich die schwarze Kohle aus dem Hasenfell, sodass es ordentlich staubte. Dann machte sie sich wieder an die Arbeit, obwohl der zarte Rücken noch vom Vortag schmerzte und der Magen noch lauter knurrte als am Abend zuvor. Sie wurde dabei kritisch von der Schlange beobachtet, die sie mit blitzenden Augen unentwegt kontrollierte und erklärte, dass der Weg zum Ziel kein Zuckerschlecken sei. Um das Paradies zu erreichen, müsse man hart arbeiten und viele Kohlen schaufeln. Das Ganze dauerte nun aber schon viele Jahre. Chilli hatte bereits jede Hoffnung auf das versprochene Traumland aufgegeben. Und so fuhr der Zug weiter durch Städte, Täler und Wälder, ohne dass Chilli etwas von der schönen Landschaft genießen konnte.

Währenddessen im Wald

Frank, ein großer, zotteliger Riesenschnauzer-Mischling, bastelte begeistert unter seiner Stamm-Eiche im Wald an seiner neuesten Errungenschaft: einem echten gelben Bonanza-Fahrrad aus den 70er Jahren mit Bananensattel. Es hatte zwar ein wenig Flugrost angesetzt, als er es im Wald unter einem Berg von Laub gefunden und ausgebuddelt hatte, aber das war locker wegzupolieren. „Gleich werde ich damit meine erste Runde drehen“, rief er mit stolz geschwellter Brust der eifrigen Aerobic-Biene Brummsell nach. Die hörte ihm allerdings kaum zu, weil sie schon wieder auf dem Flug zur nächsten Blume war. „Es gibt so viel zu tu-hun“, summte sie eifrig im Vorbeiflug. „Ich wusste gar nicht, dass du Rad fahren kannst“, raunte Uhu Armin erstaunt von einem Ast oberhalb der Eiche herunter zu seinem besten Kumpel Frank. „Tja, ich hatte ja vorher auch nie ein Rad zur Verfügung“, konterte Frank verschmitzt. Wie auch. Schließlich lebte Frank lange in einem Hundezwinger in der Stadt, aus dem er eines Tages ausbüxen konnte. Geübten Blickes betrachtete er sein poliertes Rad, welches er nun offiziell zu seinem Besitz zählte. Es funkelte mit seiner goldenen „Frank-Hundehalsband-Kette“ um die Wette.

Gelingt Chilli die Flucht?

Im Zug, kurz vor dem Schlafengehen, war Chilli sich zwar nicht ganz sicher, aber es roch irgendwie angebrannt. Sie schaute aus dem Fenster und sah am Ende des Zuges große, schwarze Rauchschwaden und Feuer aus dem Zug aufsteigen. Auch das noch! „Feuer“, rief Chilli laut und zeigte dem Chamäleon und der Schlange den Rauch und eilte hektisch zurück ans Fenster. „Das müssen wir löschen! Hier ist ein Eimer für dich, Chilli, und ein Eimer für dich, Chamäleon.

Tut doch was! Holt Wasser! Beeilt euch!“, zischte die Schlange herrisch. Chilli und das Chamäleon rannten und versuchten das Feuer zu löschen und zeitgleich dennoch das Feuer vorne mittels der Kohlen zur Fahrt des Zuges am Laufen zu halten. Die Schlange schaute aus dem Fenster und war etwas nervös, machte aber keine Anstalten mitzuhelfen. Als es am Abend allmählich dunkel wurde, schien das Feuer endlich gelöscht.

Aber Chilli traute dem Ganzen nicht. Sie versuchte wach zu bleiben, während die Schlange und das Chamäleon satt und schnarchend in der Ecke lagen.

Chilli hatte so großen Hunger. Sie hatte schon lange keinen Kuchen mehr vom Chamäleon bekommen. Die Schlange hatte es verboten. Chilli war sehr traurig.

Wieso hatte sie den heimtückischen Versprechungen der Schlange geglaubt, die sie in den Zug gelockt hatte? Chilli hatte nach all den Jahren ihre Lebensfreude und ihren Mut verloren. Oder war da doch noch ein Fünkchen Mut? „Jetzt wäre doch die Gelegenheit“, dachte sie sich, während sie abwechselnd auf ihre schlafenden Bewacher und die Zugtür schaute.

„Spring, Chilli, spring“, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Dann nahm sie allen Mut zusammen, der in so einen kleinen Hasen passt. Sie öffnete ganz leise und vorsichtig die Zugtür, sah nach unten und hatte plötzlich panische Angst. „Was, wenn ich mir alle Pfötchen breche, mich niemand findet und ich elendig sterbe?“, fragte sie sich. „Aber andererseits könnte ich auch in einem wundervollen Blaubeerstrauch landen und mich zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig satt essen“, träumte Chilli. Spätestens jetzt überlegte sie nicht länger, denn Blaubeeren waren ihre absoluten Lieblingsbeeren! Sie packte hastig ihren viel zu großen Koffer mit den wenigen Habseligkeiten, die von ihr noch zu finden waren. „Schlimmer als jetzt kann es nicht werden“, sprach sie sich ein letztes Mal Mut zu. Dann umklammerte sie fest ihren Koffer und sprang in die ungewisse Tiefe. Sie purzelte eine gefühlte Ewigkeit dunkle Waldhänge hinunter in ein unbekanntes Tal. Es kam ihr vor wie in Zeitlupe. Beim ersten Aufprall verlor sie ihren Koffer und wurde sogar ohnmächtig.

Weiter oben raste der erneut brennende Zug weiter.

Der Retter in der Not