Impressum:
© 2020 Matthias Wagner (Hrsg.)
Übersetzt von Heinrich Steinitzer, 1925.
Herstellung und Verlag: BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt.
ISBN: 978-3-75196-153-0
ES war 1664, um den Anfang des September, als ich gesprächsweise von meinen Nachbarn hörte, daß die Pest in Holland von neuem ausgebrochen wäre. Sie war dort im vorhergehenden Jahre sehr heftig aufgetreten, besonders in Amsterdam und Rotterdam, wohin sie nach einigen aus Italien, nach andern aus der Levante mit Waren, die die türkische Flotte heimgebracht hatte, eingeschleppt worden war. Noch andere behaupteten, sie wäre von Candia oder Zypern gekommen. Nun, woher sie kam, wollte wenig bedeuten, aber darin, daß sie wieder nach Holland gekommen war, stimmten alle überein.
Damals gab es bei uns noch keine gedruckten Zeitungen, um Gerüchte und Neuigkeiten zu verbreiten, die dann durch die Phantasie der Leute weiter ausgeschmückt wurden, wie es nach meiner Erfahrung seither der Brauch geworden ist. Neuigkeiten erfuhr man durch die auswärtigen Korrespondenzen der Kaufleute; sie verbreiteten sich dann auf mündlichem Wege weiter, aber natürlich nicht gleich über das ganze Land, wie es jetzt der Fall ist. Trotzdem scheint die Regierung ganz genau unterrichtet gewesen zu sein. Sie hielt mehrere Sitzungen ab, um über die Mittel zu beraten, das Herüberkommen der Seuche zu verhindern, aber dies alles wurde ganz heimlich betrieben. Daher geriet das Gerücht allmählich wieder in Vergessenheit, und die Leute hielten dafür, daß es sie eigentlich nicht viel anging und hoffentlich gar nicht wahr wäre. Bis gegen Ende November oder Anfang Dezember zwei Männer, angeblich Franzosen, in Long Acre oder am oberen Ende der Drury Lane an der Pest starben. Die Leute, bei denen sie gewohnt hatten, versuchten es soweit als möglich zu verheimlichen, da aber durch das Geschwätz der Nachbarschaft doch etwas herumgekommen war, erfuhren auch die Staatssekretäre davon. Sie ließen es sich angelegen sein, Nachforschungen anzustellen, und schickten, um die genaue Wahrheit zu erfahren, zwei Ärzte und einen Wundarzt in das betreffende Haus zur Untersuchung. Da durch diese überzeugende Merkmale der Krankheit bei beiden Leichen festgestellt wurden, gaben die Ärzte ihr Urteil öffentlich ab, daß sie an der Pest gestorben waren. Dies ging an den Kirchspielschreiber weiter, der es dem Magistrat behändigte. In dem wöchentlichen Sterblichkeitsregister wurde es dann in der üblichen Weise abgedruckt:
Pest: 2. Verseuchte Kirchspiele: 1.
Die Leute wurden darüber sehr bestürzt und gerieten in der ganzen Stadt in Aufregung, um so mehr, als in der letzten Dezemberwoche noch ein anderer Mann in demselben Hause und an der gleichen Seuche starb. Dann aber hörte man ungefähr sechs Wochen nichts mehr, und als niemand mehr ein Zeichen der Ansteckung zeigte, hielt man dafür, daß die Seuche erloschen wäre. Aber darauf, ich glaube um den 12. Februar herum, starb noch ein Mann in einem andern Hause, aber in dem gleichen Kirchspiel und unter denselben Anzeichen.
Nun richtete sich das Augenmerk aller nach jenem Teile der Stadt, und da die wöchentlichen Register eine stärkere als die gewöhnliche Sterblichkeit in dem Kirchspiel von St. Giles anzeigten, begann sich der Verdacht zu regen, daß die Pest unter der Bevölkerung an diesem Ende der Stadt herrsche, und daß schon viele daran gestorben wären, wenn man auch Sorge getragen hätte, die Öffentlichkeit darüber so viel als möglich im unklaren zu lassen. Dieser Glaube setzte sich in den Köpfen der Leute fest, und nur wenige trauten sich noch, durch die Drury Lane oder eine der anderen verdächtigen Straßen zu gehen, wenn sie nicht durch besondere Geschäfte dazu gezwungen wurden.
Mit der Zunahme in den Sterblichkeitsregistern stand es folgendermaßen: die wöchentliche Durchschnittszahl betrug in den Kirchspielen von St. Giles in the Fields, und St. Andrew, Holborn, von 12 zu 17 oder 19 in jedem, wenig darunter oder darüber. Aber von dem ersten Auftreten der Pest an im Kirchspiel von St. Giles stieg sie ganz erheblich, bis auf 23 und 24, ja 25 im Kirchspiel von St. Andrew.
Eine gleiche Zunahme machte sich in den Kirchspielen von St. Bride bemerkbar, die einerseits an das Kirchspiel von Holborn und das von St. James, andererseits an das weitere Ende von Holborn grenzen. In diesen beiden Kirchspielen betrug die Durchschnittssterblichkeit von 4 zu 6 und 8 in der Woche, während sie nun auf 12 und 13 stieg.
Außerdem geriet das Volk in große Unruhe durch die Beobachtung, daß die wöchentliche Sterblichkeit ganz im allgemeinen stark zunahm, und das zu einer Jahreszeit, da sie gewöhnlich recht mäßig war.
Die wöchentliche Durchschnittssterblichkeit belief sich auf etwa 240 bis zu 300. Letztere Zahl mußte schon als hoch gerechnet werden. Jetzt aber zeigten die Register ständig bei weitem höhere Zahlen, von 291 in der letzten Dezemberwoche bis zu 474 in der Woche vom 17. bis 24. Januar.
Diese Zahl war wirklich erschreckend und höher als irgendeine seit dem letzten Auftreten der Seuche im Jahre 1656.
Doch dies alles ging wieder vorüber. Das Wetter war kalt, und der Frost, der im Dezember begonnen hatte, hielt sich sehr streng bis gegen Ende Februar bei schneidendem, wenn auch nicht heftigem Winde. Die Sterblichkeitsquote ging von neuem herunter, und man hielt die Gefahr für so gut als vorbei. Nur in St. Giles blieb die Sterblichkeit andauernd hoch. Von Anfang April an stand sie auf 25 die Woche, stieg dann aber vom 18. bis 25. auf 30, davon 2 Todesfälle an der Pest und 8 am Fleckfieber, was nach der Ansicht der Leute ein und dasselbe war. So stieg auch die allgemeine Sterblichkeit am Fleckfieber von 8 in der vorigen auf 12 in der eben erwähnten Woche.
Darüber gerieten wir von neuem in Bestürzung, und die Leute wurden von schrecklichen Vorahnungen erfaßt, um so mehr, als das Wetter jetzt umschlug und warm wurde, und der Sommer vor der Türe stand. Aber die nächste Woche brachte neue Hoffnungen: die Sterblichkeitsrate war niedrig und lautete alles in allem nur auf 388, darunter kein Pestfall und nur 4 Fälle von Fleckfieber.
Aber die folgende Woche ging es wieder aufwärts. Die Seuche verbreitete sich in 2 oder 3 andere Kirchspiele, nämlich nach St. Andrew, Holborn und St. Clement-Danes, und zum außerordentlichen Schrecken der inneren Stadt gab es auch einen Todesfall in der eigentlichen City, im Kirchspiel von St. Mary Woolchurch, d. h. in der Bearbinder Lane, nahe am Stocks Market. Im ganzen starben 9 an der Pest und 6 am Fleckfieber. Allerdings ergab die Untersuchung, daß der Franzose, der in der Bearbinder Lane gestorben war, früher in Long Acre, in der Nähe der verseuchten Häuser gewohnt hatte und aus Furcht vor der Seuche umgezogen war, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er bereits angesteckt war.
Es war nun schon Anfang Mai, doch das Wetter war veränderlich und ziemlich kühl, und so hatten die Leute noch immer etwas Hoffnung. Was sie besonders ermutigte, war, daß die innere Stadt frei blieb. Von ihren 97 Kirchspielen gab es nur in 54 Todesfälle, und wir trugen uns mit der Hoffnung, daß die Seuche sich hauptsächlich auf die Bevölkerung an jenem Ende der Stadt beschränken möchte und nicht weitergehen würde. Besonders auch, weil die nächste Woche, vom 9. bis 16. Mai, nur 3 Todesfälle brachte, davon keinen innerhalb der inneren Stadtbezirke. Auch in St. Andrew starben nur 15, eine sehr niedrige Zahl. In St. Giles freilich gab es 32 Todesfälle, aber nur einen an der Pest, so daß das Volk sich wieder beruhigte. Auch die Gesamtsterblichkeitsquote war sehr gering, 343 zu 347 in der vorangehenden Woche.
Einige Tage hielten unsere Hoffnungen an, aber nur einige Tage. Denn das Volk ließ sich nun nicht mehr täuschen. Man durchsuchte die Häuser und sah, daß die Pest wirklich überallhin gekommen war, und daß sie täglich eine Menge Opfer forderte. So war es nun mit allen Beschönigungen zu Ende und konnte nicht mehr verheimlicht werden. Mit einem Schlage zeigte sich, daß die Ansteckung sich nach allen Seiten verbreitet hatte und allen Hoffnungen, sie einzudämmen, spottete. Im Kirchspiel von St. Giles war die Seuche schon in mehrere Straßen gedrungen und ganze Familien lagen an ihr darnieder. Demgemäß war denn auch die Sterblichkeitsziffer der nächsten Woche. Zwar wurden nur 16 Todesfälle an der Pest festgestellt, aber das war alles ausgemachter Schwindel. In St. Giles starben alles in allem 40, davon die meisten ohne jeden Zweifel an der Pest, obwohl sie unter anderen Krankheiten aufgeführt wurden. Die Gesamtzahl der Sterbefälle erreichte nur 385, darunter jedoch 14 an der Pest und ebenso viele am Fleckfieber, und wir waren davon überzeugt, daß in dieser Woche 50 von der Seuche dahingerafft worden waren.
Das nächste Register vom 23. zum 30. Mai brachte 17 Pestfälle, aber in St. Giles starben 53, eine erschreckende Zahl! Wenn man auch bei nur 9 davon die Pest zugab, zeigte doch eine genauere Nachforschung, die auf Befehl des Lord Mayors von den Friedensrichtern vorgenommen wurde, daß in Wirklichkeit 20 mehr in diesem Kirchspiel an der Pest gestorben waren, die man unter Fleckfieber und andere Krankheiten eingereiht oder gar ganz verschwiegen hatte.
Doch dies waren Kleinigkeiten, verglichen mit dem, was gleich darauf folgte. Denn nun setzte die Hitze ein, und von der ersten Juniwoche an verbreitete sich die Seuche in entsetzlicher Weise. Die Zahl der Todesfälle schwoll an, wobei freilich oft Fieber und Fleckfieber als Ursachen angegeben wurden. Denn wer nur die Wahrheit verheimlichen konnte, tat es, um nicht von den Bekannten und Nachbarn geächtet zu werden und auch, um der Absperrung der Häuser durch die Behörden zu entgehen, eine Maßregel, die damals zwar noch nicht in Kraft war, aber angedroht wurde und in der bloßen Vorstellung die Leute mit dem äußersten Entsetzen erfüllte.
Während der zweiten Juniwoche begrub man im Kirchspiel von St. Giles, wo der Herd der Verseuchung lag, 120, von denen dem Register nach nur 68 an der Pest gestorben waren. Jeder sprach es aber offen aus, daß es wenigstens 100 gewesen sein müßten, gemessen an der gewöhnlichen Sterblichkeitsziffer.
Bis zu dieser Woche war die City frei geblieben, abgesehen von dem schon erwähnten Franzosen. In all ihren 97 Kirchspielen war außer ihm kein Mensch an der Pest gestorben. Jetzt gab es dort 4 Opfer, eins in der Bond Street, eins in der Fenchurch Street und zwei in der Crooked Lane. Southwark war noch ganz unberührt, wie überhaupt auf dem anderen Ufer noch niemand der Seuche erlegen war.
Ich selbst wohnte außerhalb Aldgate, etwa mittenwegs zwischen der Aldgate Church und den Whitechapeler Schlagbäumen, auf der linken oder nördlichen Seite der Straße. Da die Seuche diesen Teil der Stadt noch nicht erreicht hatte, waren wir recht beruhigt. Am anderen Ende der Stadt war aber die Bestürzung überaus groß, und die wohlhabenderen Leute, besonders der Adel und die Vornehmen aus dem Westen, hasteten, mit ihren Familien und ihrer Dienerschaft aus der Stadt zu kommen. Noch auffälliger war das in Whitechapel. In der Broad Street, wo ich wohnte, war wirklich nichts zu sehen als Wagen und Karren, beladen mit Hausgeräten, Weibern, Dienstmädchen, Kindern u.a.m., Kutschen voll von Leuten der besseren Klassen, Reiter, die sie begleiteten – alles auf der Flucht. Dann erschienen wieder leere Wagen und Karren, Diener mit Pferden, die anscheinend zurück kamen oder noch weiteren Nachschub holen sollten. Dazwischen zahllose Leute zu Pferde, manche allein, andere mit Bediensteten, alle mit Gepäck beladen und für die Reise ausgerüstet, wie aus ihrem Aussehen hervorging.
Das war wohl ein trauriger und schauerlicher Anblick, den ich von Morgens bis zur Nacht vor Augen hatte (denn sonst war wirklich nichts Merkwürdiges zu sehen), und der mich mit recht trüben Vorahnungen des Elends erfüllte, das über die Stadt kommen würde, und des jämmerlichen Zustandes derjenigen, die zurückblieben.
Diese Flucht hielt einige Wochen hindurch in der gleichen Stärke an. Zur Wohnung des Lord Mayors konnte man nur unter äußersten Schwierigkeiten gelangen, so stauten und drängten sich dort die Menschen, um Pässe und Gesundheitsbescheinigungen für die Weiterreise zu erhalten, denn ohne solche gab es keine Erlaubnis, die Städte auf dem Wege zu passieren oder in einem Gasthause zu übernachten. Da nun bisher noch niemand in der City an der Seuche gestorben war, gab der Lord Mayor ohne weiteres Gesundheitsbescheinigungen an alle, die in den 97 Kirchspielen wohnten, und eine Weile auch an die Bevölkerung der angrenzenden Distrikte.
Diese Flucht dauerte, wie gesagt, einige Wochen, d. h. den ganzen Mai und Juni hindurch, besonders auch, weil das Gerücht von einer kommenden Verfügung der Regierung sprach, alles Reisen durch Schlagbäume und Schranken auf den Straßen zu verhindern. Zudem hieß es, daß die Städte an den Hauptstraßen die Leute von London nicht mehr passieren lassen wollten, aus Angst vor der Ansteckung, die sie mit sich brächten. Dabei waren diese beiden Gerüchte gänzlich grundlos, wenigstens vorläufig, und nur in der Phantasie der Menschen entstanden.
Auch ich begann mir ernstlich zu überlegen, was ich selbst tun und mit mir anfangen, ob ich mich zum Bleiben in London entschließen oder gleich den meisten meiner Nachbarn mein Haus zuschließen und fliehen sollte. Ich spreche darüber so ausführlich, weil es für die, die künftig vielleicht einmal in die gleiche schlimme Lage kommen und sich derselben Entscheidung gegenübersehen, von einiger Bedeutung sein mag, und daher soll mein Bericht eher ein Fingerzeig für ihre Handlungsweise, als eine Geschichte meiner eigenen Handlungen sein, da es sie wohl nicht im geringsten interessieren dürfte zu wissen, was aus mir wurde.
Zwei wichtige Dinge hatte ich in Betracht zu ziehen: einerseits die Fortführung meines Geschäftes, das nicht unbedeutend war, und in dem mein ganzes Geld steckte, andererseits die Erhaltung meines Lebens in dieser Unglückszeit, die, wie ich wohl vorhersah, über die ganze Stadt kommen würde, und die meine Angst noch ins Unermeßliche steigerte.
Der erste dieser beiden Gesichtspunkte war für mich von erheblichem Belang. Mein Geschäft war das eines Sattlers, und da es der Hauptsache nach nicht in einem Ladengeschäft bestand, sondern im Handel nach den englischen Kolonien in Amerika, steckte mein Geld zum größten Teile in den Händen der dahin exportierenden Kaufleute. Ich war zwar Junggeselle, hatte aber einen Haufen von Leuten, die ich im Geschäft brauchte, ein Haus, einen Laden, Lager voll von Waren – und dies alles sich selbst zu überlassen, wie es unter den jetzigen Umständen nun einmal nicht anders ging, ohne Aufseher oder eine richtige Vertrauensperson, hieß nicht nur mein Geschäft aufs Spiel setzen, sondern mein ganzes Vermögen und alles, was ich auf der Welt mein eigen nannte.
Damals befand sich ein älterer Bruder von mir in London, der einige Jahre früher von Portugal dahin gezogen war. Mit diesem beriet ich mich, und seine Antwort war in drei Worten dieselbe, die bei einer ganz anderen Gelegenheit gegeben worden war, nämlich: Herr, rette dich! Kurz, er war dafür, daß ich mich aufs Land begeben sollte, was zu tun er auch selbst mit seiner Familie entschlossen war. Er wiederholte, was er im Ausland gehört hatte, daß das beste Mittel gegen die Pest wäre, vor ihr davonzulaufen. Meine Befürchtungen wegen des Verlustes meines Geschäftes, meines Geldes und meiner Außenstände, widerlegte er mit denselben Gründen, die ich selbst für mein Bleiben ins Feld führte, indem er mein Vertrauen auf den Schutz Gottes in Hinblick auf die Erhaltung meines Lebens meiner Angst vor dem Verlust meiner Habe gegenüberstellte. „Wäre es nicht vernünftiger,“ meinte er, „ein ebensolches Vertrauen in Gott zu setzen, wenn es sich um die Erhaltung deines Vermögens handelt, als dich einer so fürchterlichen Gefahr auszusetzen und ihm die Erhaltung deines Lebens anheimzustellen?“
Ich konnte nicht einmal als Gegenargument ins Feld führen, daß ich nicht wüßte, wohin ich mich wenden sollte, da ich mehrere Freunde und Verwandte in Northhamptonshire besaß, woher unsere Familie stammte; außerdem wohnte in Lincolnshire meine einzige Schwester, die mich mit Freuden aufgenommen hätte.
Mein Bruder, der seine Frau und seine zwei Kinder nach Bedfordshire vorausgeschickt hatte und ihnen zu folgen entschlossen war, drang in mich, mich auch davonzumachen. Einmal wollte ich ihm schon nachgeben, konnte mir aber damals kein Pferd verschaffen. Denn obwohl es noch Menschen in London gab, kann man doch sagen, daß die Pferde daraus verschwunden waren. Wochenlang war in der ganzen Stadt kein einziges Pferd zu mieten oder zu kaufen. Dann entschloß ich mich wieder, mit einem Diener zu Fuß auszuziehen, die Gasthäuser zu vermeiden und ein Soldatenzelt mitzuführen, um im Freien zu übernachten, was bei dem warmen Wetter ohne Gefährlichkeit geschehen konnte. Wirklich machten es auch viele so, besonders solche, die während des früheren Krieges gedient hatten, und ich muß sagen: hätten es alle, die auswanderten, so gemacht, so wäre die Pest nicht in so zahlreiche Provinzstädte hinausgetragen worden, wie es tatsächlich zum großen Schaden und Verderben unzähliger Menschen geschah.
Aber dann ließ mich der Diener, den ich hatte mitnehmen wollen, im Stich, da ihn die Zunahme der Seuche entsetzte und er im unsicheren war, wann ich mich auf den Weg machen würde. So lief er auf eigene Faust davon, und vereitelte, für den Augenblick wenigstens, meine Absichten. Überhaupt kam, sobald ich mich zur Abreise entschlossen hatte, immer irgend etwas dazwischen, daß ich sie wieder aufgeben mußte, und darüber, daß nämlich solche Hindernisse vom Himmel gesandt werden, möchte ich doch etwas sagen, wenn es auch eine Abschweifung bedeutet.
Eines Morgens, als ich über diese Sache nachsann, wurde es mir ganz einleuchtend, daß, da nichts ohne das Eingreifen oder die Zulassung der göttlichen Macht geschieht, auch diese Hindernisse eine besondere Bedeutung haben müßten. Es zwang mich förmlich zu überlegen, ob darin nicht ein augenscheinlicher Hinweis auf den Willen Gottes liege, daß ich nicht abreisen solle, Daran schloß sich der Gedanke, daß, wenn Gott wirklich mein Bleiben wollte, er auch sicherlich die Macht hatte, mich mitten in all der Gefahr und trotz des drohenden Todes am Leben zu erhalten. Und daß andererseits meine Flucht entgegen all dieser Hinweise, an deren göttliche Natur ich glaubte, nichts anderes war als eine Flucht vor Gott, dessen Hand mich erreichen konnte, wo und wann es ihm beliebte.
Solche Gedanken warfen alle meine Entschlüsse wieder um, und als ich wieder zu meinem Bruder kam, sagte ich ihm, daß ich bleiben und mein Los dort erwarten wolle, wohin mich Gott gestellt habe, und daß mir dies in Anbetracht alles dessen, was ich eben ausgeführt habe, auch meine Pflicht scheine.
Obwohl mein Bruder selbst ein sehr frommer Mann war, lachte er doch über das, was ich Fingerzeige des Himmels genannt hatte, und hielt mir mehrere Geschichten von „solchem dummdreisten Volk“ vor, wie er sich ausdrückte, das mir ähnlich wäre. Freilich sollte ich es als ein Eingreifen der himmlischen Macht betrachten, wenn ich etwa durch Krankheit verhindert würde, London zu verlassen. Dann könnte ich mich ruhig der Leitung meines Schöpfers überlassen, der nach seinem Gutdünken mit mir verfahren würde, und die Entscheidung, was die Vorsehung über mich verhängt habe und was nicht, wäre nicht schwer zu treffen. Daß ich es aber als einen Fingerzeig Gottes betrachte, daß ich kein Pferd zu mieten kriegen könne oder mein Diener, der mich auf der Reise begleiten sollte, weggelaufen war, wäre lächerlich, da ich zur gleichen Zeit meine Gesundheit und meine Körperkräfte behalten hätte, auch noch andere Diener besäße, und somit leicht ein oder zwei Tage zu Fuß wandern könne. Und da ich außerdem ein Gesundheitszeugnis hätte, könnte ich nach meinem Belieben dann auf der Strecke ein Pferd mieten oder auch die Post nehmen.
Dann fuhr er fort, mir von den heillosen Folgen zu erzählen, die sich aus dem Glauben der Türken und Mohammedaner in Asien und anderen Ländern, wo er gewesen war, ergäben (denn mein Bruder war als Kaufmann vor einigen Jahren, wie ich schon berichtet habe, aus dem Ausland zurückgekehrt und hatte sich zuletzt in Lissabon aufgehalten), und wie sie in der Überzeugung, daß das Schicksal jedes Menschen unabänderlich vorherbestimmt und festgelegt wäre, ohne Bedenken in verseuchte Orte zögen und mit angesteckten Leuten verkehrten, was eine wöchentliche Sterblichkeit von 10 oder 15 000 zur Folge hätte, während die Europäer und christlichen Kaufleute, die sich absperrten und abseits hielten, im allgemeinen der Ansteckung entgingen.
Durch solche Gründe machte mein Bruder meine Entschlüsse wieder wankend, ich begann nun doch an die Abreise zu denken und bereitete mich dementsprechend vor, denn die Seuche hatte sich nun in der ganzen Umgegend verbreitet, die Register wiesen eine Sterblichkeit von 700 die Woche aus, und mein Bruder sagte mir, er wage nicht mehr länger zu bleiben. Ich bat ihn noch um einen Tag Bedenkzeit, und da alles so gut als möglich vorbereitet war, auch in Hinsicht auf mein Geschäft, und denjenigen, dem ich die Sorge für meine Angelegenheiten übergeben wollte, hatte ich wenig mehr zu tun als einen letzten Entschluß zu fassen.
An diesem Abend ging ich schwer bedrückt nach Hause, unentschieden und ohne zu wissen, was ich tun sollte. Ich hatte mich für den Abend frei gemacht, um alles noch einmal ernstlich zu überdenken, und war ganz allein. Damals hatten schon die Leute, wie in allgemeiner Übereinstimmung, die Gewohnheit angenommen, nach Sonnenuntergang ihr Heim nicht mehr zu verlassen, worüber ich später noch mehr zu sagen haben werde.
In der Einsamkeit dieses Abends versuchte ich, mir erst darüber klar zu werden, welche Handlungsweise mir die Pflicht vorschrieb. Ich führte mir wieder die Gründe vor Augen, die mein Bruder vorgebracht hatte, um mich zur Abreise zu bewegen, und stellte ihnen mein eigenes lebhaftes Gefühl gegenüber, das fürs Bleiben sprach: die Umstände, die aus der besonderen Art meines Berufs hervorgingen, die Pflicht, mir meine Waren und mein Geld zu erhalten, die gewissermaßen mein Vermögen ausmachten, dann auch die Winke, die mir nach meiner Überzeugung vom Himmel zugekommen waren und für mich eine Art von Leitung bedeuteten. Dabei fiel mir ein, daß ich, wenn ich einen offenbaren Wink zum Bleiben erhalten würde, diesen gleichzeitig als ein Versprechen zur Erhaltung meines Lebens betrachten dürfe, als Lohn meines Gehorsams.
Dieser Gedankengang lag mir; meine Gedanken neigten sich mehr denn je dazu, zu bleiben, und wurden durch eine heimliche Sicherheit unterstützt, daß ich vor dem Tode bewahrt werden würde. Ich blätterte in der Bibel, die vor mir lag, und während ich meinen Geist mit ungewöhnlichem Ernst auf das richtete, was mir fragwürdig schien, rief ich: „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Herr, leite du mich!“ und dabei hörte ich auf, in der Bibel zu blättern, beim 91. Psalm, und indem mein Auge auf den zweiten Vers fiel, las ich bis zum siebenten, den aber nicht, und schob dafür den zehnten ein, folgendermaßen: Der spricht zum Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet mich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen des Nachts, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pestilenz, die im Finstern schleichet, vor der Seuche, die im Mittag verderbet. Ob tausend fallen zu deiner Seite, und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen, und schauen, wie es den Gottlosen vergolten wird. Denn der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. –
Ich brauche dem Leser kaum zu sagen, daß ich mich von diesem Augenblicke an entschloß, in der Stadt zu bleiben und mich ganz der Güte und dem Schutz des Allmächtigen zu überlassen, ohne irgendeine andere Zuflucht zu suchen. Da meine Tage in seinen Händen waren, war er imstande, mich in einer Zeit der Seuche wie in guten Zeiten zu erhalten. Wenn es ihm nicht richtig schien, mich zu bewahren, war ich doch in seinen Händen, und es war seine Sache, mit mir nach seinem Gutdünken zu verfahren.
Mit diesem Entschluß ging ich zu Bett, und der nächste Tag bestärkte mich weiter darin, denn die Frau, der ich mein Haus und alle meine Angelegenheiten hatte übergeben wollen, fiel in Krankheit. Und ich selbst erhielt einen Wink von derselben Seite, denn auch ich befand mich am folgenden Tage recht wenig wohl. Hätte ich also auch fortgehen wollen, so wäre ich dazu nicht imstande gewesen. Mein Unwohlsein dauerte drei oder vier Tage, und damit war mein endgültiger Entschluß zum Bleiben gefaßt. Ich nahm daher Abschied von meinem Bruder, der sich nach Dorking begab, in Surrey, und dann weiterhin nach Buckinghamshire oder Bedfordshire, nach einer Zufluchtsstätte, die er für seine Familie entdeckt hatte.
Es war eine sehr böse Zeit, um krank zu sein, denn von jedem, der klagte, hieß es, er habe die Pest, und obwohl sich bei mir keinerlei Symptome dieser Seuche zeigten, war ich doch nicht ohne Angst, daß ich wirklich angesteckt worden wäre, da ich starke Schmerzen im Kopf und Magen verspürte.
Doch nach etwa drei Tagen begann es mir besser zu gehen, in der dritten Nacht schlief ich gut, schwitzte etwas und erwachte recht erfrischt. Die Furcht vor der Ansteckung verließ mich mit der Krankheit, und ich ging wie gewöhnlich meinen Geschäften nach.
Alle Gedanken an Flucht waren mir aber vergangen, und da mein Bruder nun auch fort war, gab es über diesen Gegenstand keine Überlegungen mehr, weder mit ihm noch mit mir selbst.
Es war jetzt Mitte Juli, und die Pest, die hauptsächlich am anderen Ende der Stadt gewütet hatte, in den Kirchspielen von St. Giles, St. Andrew, Holborn und gegen Westminster zu, begann sich nun nach Osten auszudehnen, gegen den Stadtteil, wo ich wohnte. Merkwürdigerweise ging sie nicht in gerader Linie vor, denn die City, d. h. die Innenstadt, war noch immer verhältnismäßig unverseucht, und auch über dem Fluß, in Southwark, war noch nicht viel zu spüren. Obwohl in dieser Woche im ganzen 1268 starben, davon wahrscheinlich über 900 an der Pest, trafen auf die innere Stadt nur 28 und nur 19 auf Southwark, das Lambeth-Kirchspiel eingeschlossen, während in den Kirchspielen von St. Giles und St. Martin in the Fields allein 421 starben.
Es war zu beobachten, das sich die Seuche hauptsächlich in den äußeren Kirchspielen hielt, die sehr dicht bevölkert waren, besonders von armen Leuten. Dort fand die Seuche einen besseren Boden als in der City, worüber später mehr. Es war also, wie gesagt, zu beobachten, daß die Seuche auf uns zu kam, durch die Kirchspiele von Clerkenwell, Cripplegate, Shoreditch und Bishopsgate, welch letztere beiden an Aldgate, Whitechapel und Stepney grenzen. Dort entfaltete sie später ihre äußerste Wut und Heftigkeit, als sie in den westlichen Kirchspielen, wo sie ausgebrochen war, schon nachgelassen hatte.
Es war sehr seltsam, daß in dieser Woche, vom 4. bis zum 11. Juli im Kirchspiel von Aldgate nur 4, in dem von Whitechapel nur 3 starben und in Stepney nur 1, während die Seuche in den beiden Kirchspielen von St. Martin und St. Giles in the Fields beinahe 400 hinwegraffte.
Auch in der nächsten Woche, vom 11. bis 18. Juli, starben auf der ganzen Seite von Southwark nur 16 bei einer Gesamtsterblichkeit von 1761.
Aber das änderte sich bald, und besonders Cripplegate und Clerkenwell wurden betroffen, so daß in der zweiten Augustwoche in Cripplegate allein 886 beerdigt werden mußten, und in Clerkenwell 155. Davon waren in Cripplegate wohl 850 an der Pest gestorben; in Clerkenwell gab das Register selbst 145 Pestfälle zu.
Während des Monats Juli, als unser Stadtteil im Vergleich zu den Westgegenden noch ziemlich frei schien, ging ich wie gewöhnlich auf die Straße, wie es gerade meine Geschäfte mit sich brachten, und begab mich regelmäßig alle Tage oder jeden zweiten Tag in die City zum Hause meines Bruders, das er meiner Sorge übergeben hatte, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war.