Titel

Martina Mainka

Satanszeichen

Der erste Fall für Elza Linden

Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben,

so würden diese auf jenen Zufällen beruhen,

die das Leben schreibt.

 

 

 

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1. Auflage 2005

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Gesetzt aus der 10/14 Punkt Stempel Garamond

ISBN 978-3-8392-3174-6

 

 

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

In Liebe für Michael und meine Kinder

Ariana, Karl, Paul und Marie

 

 

 

1

Eiskalte Winternacht, der Schnee hat Schicht um Schicht ein weißes Kleid gewebt um Häuser, Bäume, Straßen. Jetzt, wo es aufgehört hat zu schneien, glitzert die weiße Fläche im kalten Licht des vollen Mondes wie eine funkelnde Decke aus winzigen Diamanten. Nach einem unnatürlich warmen Herbst bis in den Dezember hinein, hat nun der Winter die Macht übernommen. Der Anblick erinnert mich an das Gedicht von Rilke mit dem Tannenbaum, der wartet auf die eine Nacht, die Nacht seiner Bestimmung. Wie still alles wirkt, friedlich, verzaubert. Morten und ich sitzen in meinem Wohnzimmer vor dem Kamin, schläfrig vom Essen, betrachten wir die züngelnden Flammen und genießen einen 92er Bordeaux.

Ich bin nicht vorbereitet auf diese Frage. Ich wusste, dass ich sie über kurz oder lang gestellt bekommen würde – trotzdem, ich bin nicht vorbereitet darauf. Ich starre in das offene Feuer und spüre, wie Mortens Enttäuschung wächst mit jeder Sekunde, die ich schweigend verstreichen lasse. Eine Erklärung nach der anderen lege ich mir zurecht und verwerfe jede sofort wieder.

„Ich weiß es nicht.“ Diplomatie war noch nie meine Stärke. Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster und betrachte einzelne schwebende Schneeflocken davor. Ich zünde mir eine Zigarette an, koste vom Wein. Ich spüre Mortens Blicke auf mir ruhen. Seine Gesichtszüge verschließen sich; er lächelt und sagt: „Ich verstehe.“ Morten klopft seine Pfeife im Aschenbecher aus.

Ich sehe, wie ihn meine Antwort verletzt hat, ich möchte es gerne rückgängig machen. So tun, als hätte er nicht gefragt und zurück zu der Unbeschwertheit, die der Abend eben noch hatte.

„Wie wäre es mit einem Schneespaziergang?“, frage ich übermütig.

„Ich habe eine bessere Idee ...“

Doch ich bin schon aufgesprungen, um mich anzuziehen.

„Frischluftmuffel“, sage ich und drücke ihm seine Jacke in die Hände.

Er gibt sich geschlagen; dick eingemummt treten wir vor die Haustür, als das Telefon in meiner Jackentasche zu klingeln beginnt.

„Oh nein, nicht jetzt“, sage ich.

Morten und ich tauschen einen resignierten Blick, wir wissen beide, was das zu bedeuten hat. Ich hole das Handy heraus und drücke die Sprechtaste. Rosoffs Stimme klingt blechern.

„Wir sind unterwegs”, sage ich ins Telefon und nachdem ich aufgelegt habe zu Morten: „Das war Rosoff. Auf dem Gelände des Güterbahnhofes wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. So, wie es schneit, werden wir wohl kaum Spuren finden. Ich bin nur froh, dass ich die Winterreifen hab montieren lassen.”

Morten nickt. „Dann kommen sie wenigstens zum Einsatz.“

Ursprünglich wollten wir in die Schweiz zum Skifahren dann aber erkrankten zwei Kollegen und unsere Urlaubspläne waren dahin.

Eine Welle warmer Zärtlichkeit steigt in mir auf, als ich Morten sehe; mit seiner altmodischen Ohrklappenmütze sieht er so fremd aus, beinahe schutzbedürftig.

Als ich aus dem Haus trete, reißt mir der Wind die Mütze vom Kopf und treibt sie in den Garten. Beim Versuch sie zu fangen, rutsche ich aus und falle auf den Hintern. Besorgt eilt Morten herbei, um mir aufzuhelfen und rutscht ebenfalls aus. Sein verdutzter Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen, und zaubert auch in Mortens Gesicht einen Anflug von einem Lächeln.

Das Auto liegt unter einer dicken Schicht Schnee begraben. Es muss mindestens zwanzig Zentimeter geschneit haben in den letzten drei Stunden. Von der Straße keine Spur. Ein bisschen mulmig ist mir zumute, als das Auto bei der steilen und engen Straße den Schönberg hinunter ins Rutschen kommt. Im Schritttempo fahre ich die steile Auffahrt hinunter und atme erleichtert auf, als ich unten bin. Friedlich schlummern die Villen und Einfamilienhäuschen unter einer dicken Decke Schnee; kaum ein Haus, aus dem nicht weihnachtliche Beleuchtung schimmert.

Als wir auf die Eschholzstraße fahren, sehen wir das erste Räumfahrzeug; stoisch schiebt es den Schnee zur Seite. Die wenigen Autos die unterwegs sind, fahren langsam durch die winterlichen Straßen von Freiburg.

„Warum biegst du hier nicht ab?“ fragt Morten.

„Warum sollte ich?“

„Weil es da zum Bahnhof geht.“

„Ja und? ... Ach so, das verwechselst du. Der Güterbahnhof liegt im Norden. Zwischen Hauptfriedhof und Flugplatz. Mehr oder weniger“, sage ich. Und als ich merke, dass er nicht weiß, wovon ich rede: „Der alte Güterbahnhof. Unten beim La Cantina – wo wir im letzten Sommer die Sangriavorräte drastisch dezimiert haben.“

„Ach du liebe Güte ...“ Morten schmunzelt bei der Erinnerung. Wir mussten das Auto stehen lassen und zu Fuß nach Hause gehen.

Wir fahren durch die Eschholzstraße, vorbei am Hauptfriedhof und biegen dann in die Neunlindenstraße ein.

 

Das Blaulicht des Streifenwagens verfängt sich in den Schneerauten des Zaunes, der sich um das Areal des Geländes spannt; es lässt das Gesicht des Polizisten wächsern aufscheinen. Seine starre Haltung entspringt wohl der Kälte, ich sehe, dass er zittert, als wir uns dem Eingang nähern; er muss neu sein, ich habe ihn vorher noch nie gesehen. Er seinerseits scheint mich zu kennen, denn er begrüßt mich mit meinem Namen und lässt uns die Absperrung passieren.

Etwa fünfhundert Meter entfernt ragt die Silhouette der alten Werkshalle dunkel aus der schneehellen Nacht des weitläufigen Güterbahnhofgeländes. Der Wind hat sich gelegt, nun fängt es wieder an zu schneien. Unsere Schritte machen ein wattiges, dumpfes Geräusch auf dem frisch gefallenen Schnee, in dem wir knöcheltief einsinken. Ich habe den alten Güterbahnhof immer gemocht; ich glaube hauptsächlich, weil er eine so verschwenderische Nutzlosigkeit darstellt. Ein derart großes Areal ungenutzt, und das in einer Zeit, in einer Stadt, zu deren höchsten Gütern der optimale Nutzen, die Verdichtung zählt. Ich weiß nicht, wie viele Jahre das Gelände schon nicht mehr in Betrieb ist, es müssen einige sein, denn zwischen den stillen, rostigen Gleisen wuchert üppiges Gebüsch. Riesige Kabelrollen liegen über das Gelände verteilt, ebenso wie abmontierte Gleisstücke – selbst unter dem Weiß der Schneedecke behält die Industrielandschaft ihren maroden Charme.

Eine Zeit lang habe ich mich gewundert, dass die Werkshalle nicht abgerissen wird, was wohl auch im Gespräch war; aber da sie unter Denkmalschutz steht, war das nicht möglich, dann gab es eine Zeit, in der große Firmen dort ihre Feiern abhielten.

Die Frau liegt zwischen dem Eingang der Werkshalle und dem angrenzenden Gebüsch. Die zierliche Gestalt hat etwas Verlorenes, beinahe Dramatisches, eingebettet in ihr weißes Totenbett; traurige Protagonistin im Lichtkegel des Scheinwerfers, der früher einmal den Zügen ihren Weg wies. Sie trägt dunkle Kleidung, eine schwarze Cordhose und einen Wollpullover mit einem tiefen V-Ausschnitt; langes, schwarzes Haar, wirr und nass um das weiße, kleine Gesicht. An ihrem weißen Hals klafft ein tiefer Schnitt. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter; warum, wieder einmal diese eine Frage, dieses Warum, auf das ich nie eine Antwort bekomme.

Der Kollege von der Streifenpolizei kommt mir entgegen.

„Die Zeugin ist da drüben“, er zeigt zu den beiden Schemen, die an der Nordmauer der Halle stehen; „ein Sanitäter ist bei ihr.“ Erst jetzt nehme ich die beiden Gestalten wahr, die an der Mauer der Werkshalle stehen und unter dem vorspringenden Dach Schutz vor dem Schnee suchen.

„Fehlt ihr etwas?“

„Scheint alles in Ordnung zu sein soweit. Aber schön ist es nicht, eine Leiche zu finden.“

Dann höre ich Schritte und Stimmen vom Weg her; eine helle und eine dunklere Männerstimme, noch bevor sie ins Licht treten, weiß ich, das sind Reni, Edgar und Walter; sie schleppen keuchend die schweren Taschen mit dem Arbeitsgerät für die Spurensicherung. Sie haben eine weitere Person dabei, einen jungen Mann mit langen blonden Haaren, der sicher noch den Abdruck der Schulbank auf dem Hintern haben muss.

„Das ist David“, stellt Reni ihn vor. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben.

„Und das ist Elza Linden, die Dezernatsleiterin“, sagt sie zu David.

„David ...?“

„Mein Neffe. Er studiert an der Fachhochschule in Villingen. Letztes Semester. Ab Januar kommt er für ein halbes Jahr zum Praktikum in unsere Abteilung.“

Himmel, das hatte ich vollkommen vergessen. Reni etwas abzuschlagen fällt mir meistens schwer, nicht dass das oft vorkommt; sie ist die Leiterin der Kriminaltechnik, eine Freundin und wohl auch, wenn ich ehrlich bin, ein bisschen Mutter. Eigentlich wollte sie sich pensionieren lassen, aber auf meine Zusage, dass ihr Neffe sein Praktikum bei uns absolvieren kann, hat sie noch ein Jahr drangehängt. Ich hoffe nur, der junge Mann wird uns bei der Arbeit nicht im Weg herumstehen. Meine stille Hoffnung scheint sich nicht zu erfüllen.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragt er.

„Jetzt kommt die junge Frau zu einem kostenlosen Fotoshooting“, sage ich, und etwas freundlicher: „Dann müssen wir versuchen herauszufinden, wer sie ist.“

Er nickt nur und sammelt somit seinen ersten Pluspunkt bei mir. Reni lächelt und macht sich zusammen mit Edgar und Walter an die Arbeit. Ich lasse sie allein und hole auf dem Weg zu der Zeugin mein Handy aus der Tasche, um Ulrich Klesemann von der Gerichtsmedizin anzurufen. Anschließend wähle ich die Nummer vom Kriminaldauerdienst.

„Ich brauche vier Leute für die Anwohnerbefragung in der Neunlindenstraße und das La Cantina. Schneider soll das koordinieren“, sage ich zu Rosoff und gebe ihm dann die Namen der Kollegen durch, die ich am Morgen in der Soko haben will.

Obwohl ich Handschuhe anhabe, sind meine Hände steif vor Kälte.

Die Frau steht an die Wand gelehnt, den Blick auf den Boden gerichtet und bläst den Rauch ihrer Zigarette in die kalte Nacht des Dezembers. Kurzes, blondes Haar schaut unter ihrer Mütze hervor, die große Nase lässt ihr Gesicht markant erscheinen. Mit ihrer linken behandschuhten Hand hält sie den Mantelkragen vorne zusammen. Sie schaut auf, als sie mich kommen hört.

„Ich bin Elza Linden und leite die Ermittlungen in diesem Fall.“

Ich hole das Aufnahmegerät aus der Tasche und drücke den Aufnahmeknopf.

„Das Gespräch wird aufgezeichnet. Sprechen Sie bitte Ihren Namen, Vor- und Nachname, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse auf das Band.“

Sie nickt, lässt ihre Zigarette in den Schnee fallen und tritt sie mit der Stiefelspitze aus.

„Doris Bär, geboren am 15. Mai 54, wohnhaft in der Waldkircher Straße 45 in Freiburg.“

„Sie haben die Leiche gefunden?“

„Ja.“

„Um wie viel Uhr war das?“

Aus ihrer Manteltasche holt sie eine Packung Zigaretten; der Wind bläst mehrmals die Flamme des Feuerzeugs aus, bevor es ihr gelingt im Schutz ihrer Handfläche endlich die Zigarette anzuzünden.

„Kurz vor Mitternacht. Ich kam von da vorne“, sie deutet nach Norden, „und sah ein dunkles Bündel dort im Licht vor der Halle liegen. Als ich näher kam, sah ich, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelt und dann, dass Wiederbelebungsmaßnahmen zwecklos sein würden. Als ich sah, was mit ihr geschehen ist, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen und bin Richtung Ausgang gerannt. Dort habe ich von meinem Handy aus den Notruf angerufen. Bis dahin dürften nicht mehr als fünf Minuten vergangen sein. Nach ungefähr weiteren fünf Minuten kam der Streifenwagen.“

„Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, bei Ihrem Spaziergang oder in der Umgebung bei der Leiche?“

„Nicht dass ich wüsste. Aber ich war in Gedanken versunken und ich weiß nicht, ob mir etwas aufgefallen wäre.“

„Gehen Sie öfters hier auf dem Gelände mitten in der Nacht spazieren?“

Sie lässt ihre Zigarette in den Schnee fallen, deren glühendes Ende nach wenigen Sekunden verglimmt

Sie betrachtet mich einen Moment aufmerksam, ohne dass ich ihren Gesichtsausdruck deuten könnte, in ihrer Antwort schwingt ein scharfer Unterton.

„Das tue ich. Ja. Ich liebe es durch die Nacht zu spazieren. Obwohl ich eine Frau bin. Ich hoffe nicht, dass ich damit gegen ein Gesetz verstoße.“

Etwas sanfter fügt sie hinzu: „Entschuldigen Sie. Das war nicht so gemeint. Ich bin vor zwei Monaten aus Neuseeland zurückgekommen, wo ich die letzten zwanzig Jahre gelebt habe.“ Sie macht eine auslandende Geste mit der rechten Hand.

„Das hier, das war meine Kindheit. Wir haben ganz in der Nähe gewohnt, in der Waldkircher Straße. Der Güterbahnhof hat mich damals magisch angezogen, obwohl es mir verboten war hierher zu kommen. Da drüben“, sie zeigt nach Westen, „dort wurden die Züge be- und entladen. Dabei sind manchmal Sachen von den Waggons heruntergefallen, Orangen zum Beispiel, daran erinnere ich mich sehr gut ...“

Ich frage sie, ob sie jemand nach Hause fahren soll, doch sie lehnt ab mit den Worten, es tue ihr ganz gut noch ein paar Schritte zu gehen.

 

Dann gehe ich zurück zu den Kollegen, um zu schauen, wie weit sie mit der Spurensicherung sind. Reni trägt eine Schneehaube auf ihrem dunklen Bubischopf, ihre Nase glänzt rot in ihrem ebenmäßigen Gesicht. Sie unterhält sich leise mit ihrem Neffen David. Edgar hält einen Plastikbeutel in der Hand.

„Ausweis, Adressbuch und einen Journalistenausweis habe ich in ihren Hosentaschen gefunden. Delia Landau, wohnhaft im Stühlinger in der Guntramstraße. In drei Tagen wäre sie 28 geworden.“

„Dann wissen wir das“, sage ich leise und wende mich an den Notarzt, der die Leiche untersucht hat und nun den Schnee von seinen Hosen klopft. Kurt Wandauer und ich sind nicht zum ersten Mal zusammen an einem Tatort; ich frage mich, wie lange er wohl noch vor sich hat, es sind seine klaren blauen Augen mit einer unbestimmten Traurigkeit, die ich wohl immer im Gedächtnis behalten werde und die ihm etwas Unverwechselbares verleihen.

„Viel zu wenig Blut“, sagt er.

Ich warte auf die Fortsetzung.

„Sie hat einen tiefen Schnitt am Hals, ob das allerdings die Todesursache war, kann ich nicht sagen. Jedenfalls kann es nicht hier geschehen sein, ansonsten müsste überall Blut sein. Es wäre auch möglich, dass ihr der Schnitt post mortem beigebracht wurde, aber mit Sicherheit kann das nur die Obduktion bestätigen.“

Er ist alt geworden, denke ich. Um seine Augen kräuseln sich die Fältchen, eine flache Mütze bedeckt die letzten Reste Kopfhaar. Er wirkt abgemagert, als wäre er krank.

Ich verharre einen Augenblick, und überlege unsere nächsten Schritte, wie wir vorgehen. Meine Hände schmerzen von der Kälte. Der alte Güterbahnhof glitzert und funkelt in seinem Kleid aus Schnee. Mit eisigem Atem fährt der Nordwind in üppig graue Wolken, scheucht sie auseinander wie der Wolf die Schafherde und am blanken Himmel funkeln nun einzelne, vorwitzige Sterne.

 

Aus der Dunkelheit kommt Gerold Schneider durch den Schnee gestapft. Er reibt sich die Hände. „Ich hätte Handschuhe anziehen sollen“, sagt er. „Holger Riedlinger und Klaus Friedemann sind in der Neunlindenstraße, um die Anwohner zu befragen. Ich komme von der Gaststätte La Cantina und wollte einen Zwischenbericht abliefern, bevor ich mit den Anwohnern weitermache. Ich hatte Glück, die wollten gerade schließen. Die letzten Gäste waren ein Pärchen. Weder sie noch jemand vom Personal hat etwas gesehen. Der Wirt hat mir eine Telefonnummer gegeben. Thomas Fink, ein Freund des Wirtes, war bis halb zwölf im La Cantina. Fink macht gerne seine Spaziergänge über das Güterbahngelände. Er ist Maler und lasse sich gern inspirieren von der Landschaft hier.“

Schneider verdreht spöttisch die Augen. Schneider ist ein guter Polizist, ein netter Mensch – manchmal droht er mich zu ersticken mit seinem klein karierten Denken und seinen spießbürgerlichen Ansichten.

„Das hat jetzt Priorität. Klär das, bevor du bei den Anwohnern weitermachst.“

Er schnäuzt geräuschvoll die Nase und verschwindet in der Nacht.

Spitze Nadelstiche in den Händen treiben mir Tränen des Schmerzes in die Augen; zitternd vor Kälte verharre ich im dunklen Windschatten der alten Halle und betrachte eine Weile das Gelände, bevor ich zu den anderen zurück gehe. Inzwischen sind die Männer vom Bestattungsinstitut eingetroffen und legen die Leiche in den Stahlsarg. Ein sachtes Plong ertönt, als sie den Deckel schließen. Dann entfernen sie sich mit schweren Schritten. Einer von den beiden beginnt zu summen, nachdem sie sich ein paar Schritte entfernt haben. Stille Nacht, heilige Nacht ...

 

 


2

Bevor mir Tante Luise ihr Haus am Schönberg vererbt hat, lebte ich in einer Zweizimmer-Wohnung im Stühlinger; sie war in der gleichen Straße, wie Delias Wohnung, nur drei Häuser weiter.

Zu jener Zeit waren die Mieten noch erschwinglich. Inzwischen sind sie auch hier gestiegen, was zum einen sicher an einer guten Infrastruktur und zum anderen an der Nähe zur Stadtmitte liegt. Während in der Wiehre hauptsächlich Akademiker, in Weingarten Sozialhilfeempfänger und in der Beurbarung überwiegend die Arbeiter wohnen, so ist der Stühlinger die Heimat der Bohemien, Künstler und Studenten, ja, sozusagen Hort des Non-Establishment. Niemand von den Bewohnern bekommt etwas von unserer Ankunft mit, die Fenster sind dunkle Höhlen, hie und da blinken bunte Leuchtsterne, den kahlen Ahorn vor dem Haus Nummer 52 schmückt eine Lichterkette. Wie aberwitzige Schneehügel wirken die auf den Seitenstreifen geparkten Autos. Eine einsame, vermummte Gestalt kommt von der Klarastraße, bleibt einen Moment stehen, um in unsere Richtung zu schauen und geht dann weiter Richtung Lehenerstraße. Ansonsten liegt das Viertel verlassen da.

Hier also hat sie gelebt. Ein auf postmodern getrimmtes Bürgerhaus, dessen Front gesäumt wird von Ahornbäumen und Linden. Die Wohnung von Delia Landau liegt im zweiten Stockwerk; eine blanke Holztreppe führt nach oben und hohe Fenster werfen das Licht der Straßenlaternen in breiten Streifen auf weiße Wände. Ein schwacher Duft von Bohnerwachs und der Geruch von Jahrzehnten liegt in der Luft. Eines muss man den Architekten von damals lassen, sie verstanden durch ihre Bauweise mit den hohen und weiten Räumen und den großen Fenstern eine Wohnatmosphäre zu schaffen, die man heute kaum mehr findet. Allein das Wohnzimmer in Delias Wohnung hat Ausmaße, die sich heute in keinem neueren Haus mehr finden. Das Schlafzimmer ist etwas kleiner, aber nicht viel, und die karge Einrichtung lässt es größer wirken. Weiße Wände, ohne jeglichen Schmuck, dominierend das große Bett, mit dem zerwühlten Bettzeug; eine kleine Kommode aus hellem unlasiertem Holz, auf der verschiedenfarbige Kerzen stehen; wären die schwarzen Chiffonvorhänge nicht, würde mir die Schlichtheit des Zimmers gefallen, aber sie wirken merkwürdig fehl am Platz.

Und die Küche ist eine, die ihren Namen verdient; mit dem langen Holztisch, an dem sechs Stühle stehen und den bunten Wänden wirkt sie anheimelnd gemütlich. Ansonsten unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der meinen: Tassen mit eingetrockneten Kaffeeresten, schmutziges Geschirr, ein angebissenes Croissant, Zeitungen. Ich fühle mich richtig heimisch.

Edgar und Walter sind im Schlafzimmer, Reni im Badezimmer; ich setze mich im Wohnzimmer auf das Sofa. Mitten in dem großen Raum bildet Delias Schreibtisch eine Art Zentrum. In punkto Chaos kann es ihr Schreibtisch durchaus aufnehmen mit dem meinen: aufgeschlagene Bücher und Zeitschriften, beschriebene, lose Blätter, Rechnungen zwischen vollen Aschenbechern und Tassen mit Kaffeeresten.

Aus dem Schlafzimmer dringen die Stimmen von Edgar und Morten. Verstehen kann ich nichts, aber Edgars Stimme klingt zänkisch und gereizt.

„Perini, geh mir einfach aus dem Weg und lass mich in Ruhe meine Arbeit machen.“

Daraufhin lacht Morten laut und fröhlich und gibt Edgar eine Antwort, die ich wiederum nicht verstehen kann, danach höre ich Edgars Lachen, das sich ein bisschen wie das Meckern einer Ziege anhört.

Ich stelle mir vor, wie Delia hier gelebt hat, wie sie hier saß, vielleicht mit einem Buch in der Hand. Oder vor dem Fernseher. Das Zimmer strahlt eine weibliche, sinnliche Stimmung aus: Die zahlreichen Regale sind gefüllt mit dem prallen Leben von Büchern, der sattblaue Teppichboden, die getrockneten Blumensträuße, zahlreiche Kerzen und mehrere Bücherstapel, die im Raum verteilt sind machen ihn behaglich; an den Wänden hängen Plakate von Kinofilmen, die Möbel sind ein buntes Gemisch aus zwei Rattansesseln mit abgenutzten Kissen, ein kleiner, runder Tisch aus dunklem Holz; das Zentrum jedoch bildet der große Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Rings um den Schreibtisch herum – und auch darauf – stapeln sich Berge von Papieren, Unterlagen, Ordnern und Büchern. Eine Menge Arbeit wartet auf uns.

Ich bin gespannt, welche Bücher Delia Landau gelesen hat. Schnell sehe ich, dass sie nach einem System geordnet sind. Die Sachbücher haben ein eigenes Regal, wo sie wiederum nach den Fachgebieten zusammen stehen. Viele davon sind Fachbücher für Journalisten: Reportage, Feature, Glossen, Interview; die Psychologie nimmt ebenfalls viel Platz ein. Dann kommen die Romane aus der neueren Zeit; die Klassiker wiederum stehen für sich, sowie verschiedene Lyrikbände. Literatur über Frauen und deren Geschichte stehen ebenfalls für sich.

„Hier hast du also gelebt“, sage ich leise zu mir selbst. War ihr Mörder hier in ihrer Wohnung? Hat sie ihm einen Kaffee gemacht? Was war sie für ein Mensch? Warum wurde sie getötet? Habgier, Eifersucht, Hass, Liebe? Fragen über Fragen. Morten reißt mich aus meinen Überlegungen; mit schnellen Schritten kommt er durch das Zimmer auf mich zu und schwenkt ein Blatt Papier in DIN A5-Größe vor sich her. Ich schaue fragend auf.

„Eine Adresse und ein Datum. Francis Luckner vom Institut für grenzüberschreitende Wissenschaften.“ Das Datum lautet auf den 22. Dezember, also morgen, um 17 Uhr.


3

Vom Güterbahnhof aus ist es nicht weit nach Zähringen, wo Regine Landau wohnt. Wir fahren durch die Waldkircher Straße und ich schaue, ob in einem der Häuserblocks noch Licht brennt. Die meisten Fenster sind dunkel, in zwei Wohnungen sehe ich Licht. Ich frage mich, ob hinter einem davon sich Doris Bär aufhält. Wir reden nicht viel, ich nehme an, Morten ist in seinen Gedanken ebenso damit beschäftigt, was uns nun bevorsteht.

Wir finden das Haus von Regine Landau nicht auf Anhieb und fahren die Straße zweimal rauf und runter. Schließlich parken wir und suchen zu Fuß weiter. Wie nicht anders zu erwarten war morgens um vier, liegt das Haus dunkel vor uns, umgeben von schneebedeckten Büschen und Bäumen.

Im Innern des Hauses ertönt ein melodiöses Läuten, als ich den Klingelknopf drücke. Ich habe damit gerechnet mehrmals läuten zu müssen und bin überrascht, als das Licht nach kurzer Zeit angeht und die Tür geöffnet wird.

Im ersten Augenblick glaube ich ein junges Mädchen vor mir zu haben, mit ihrem blauen weiten Schlafanzug und den verwuschelten blonden Haaren sieht Regine Landau aus, wie ein junges Mädchen.

„Sind Sie Frau Regine Landau?“, frage ich.

Sie sieht verwirrt aus, nickt aber.

„Sind Sie die Mutter von Delia Landau? Wir sind von der Kriminalpolizei, Morten Perini, Elza Linden.“

„Aber ... warum ...?“

„Dürfen wir reinkommen?“

Sie nickt wiederum und lässt uns eintreten. Sie führt uns durch den Flur in die Küche.

Lavendelblaue Augen in einem ebenmäßigen, ungeschminkten Gesicht. Es fällt mir noch immer schwer in einer solchen Situation die richtigen Worte zwischen Anteilnahme und professioneller Sachlichkeit zu finden.

„Was ist mit meiner Tochter?“

Der Wasserhahn tropft. Mir ist danach aufzuspringen und ihn abzudrehen. Stattdessen betrachte ich aus den Augenwinkeln die Umgebung: Halbvolle Weingläser, leere Flaschen, Teller mit Essensresten – hier wurde gestern Abend gefeiert.

„Was? Was sagen Sie da?“ sagt sie so leise, dass ich es kaum verstehe. Ihr Gesicht wird ganz weiß. Sie starrt uns an, ihr Oberkörper schwankt zur Seite und ich springe auf, um sie aufzufangen. Sie fängt sich jedoch gleich wieder. Sie hält die Hand vor den Mund gepresst, schließt die Augen. Tränen rinnen über ihr Gesicht, tropfen auf die Hand, von der Hand auf den Tisch. Mein Herzschlag hämmert dröhnend in meinen Ohren, ich suche vergeblich nach Worten. Dann öffnet sie die Augen und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Sind Sie sicher, dass es Delia ist?“

Morten zieht ein Foto der Toten aus seiner Tasche. Es ist eines von jenen, die gemacht wurden, als sie nach der Obduktion wieder hergerichtet worden war. Auf dem Foto sind die Wunden am Hals nicht zu sehen, nur die Blässe der Haut und die geschlossenen Augen künden vom Tod. Wortlos und mit zitternden Händen nimmt die Mutter das Foto und betrachtet es eine Weile, bevor sie es Morten zurückgibt.

Stockend bestätigt sie: „Das ... das ist meine Tochter, das ist Delia. Was ... mein Gott, was ist denn nur passiert?“

Mein Kopf schmerzt, ich spüre Mortens Blick auf mir ruhen und ich wünschte, ich könnte jetzt einfach aufstehen und gehen. Einen Moment, dann fasse ich mich.

„Frau Landau, gibt es jemanden, den wir anrufen und hierher bitten können? Ihren Mann? Eine Freundin?“

Sie überlegt einen Moment, bevor sie antwortet: „Das würde nichts ändern, nicht wahr? Vielleicht wäre es für Sie einfacher, aber bitte sagen Sie mir nun, was passiert ist.“

„Ihre Tochter wurde ermordet. Sie wurde gestern Nacht bei der Werkhalle am Güterbahnhof gefunden. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“

Regine Landau schließt die Augen. Ihre Hände hält sie gegen die Schläfen gepresst. Ihre ohnehin schlanke Gestalt sinkt in sich zusammen und als hätte eine Maskenbildnerin in Sekundenschnelle ihr Werk vollbracht, graben sich tiefe Falten in das ovale Gesicht, das ihrer Tochter so ähnlich ist.

„Warum? Wer? Wer macht so etwas? Warum?“

„Das versuchen wir herauszufinden.“

Sie steht sie auf, geht ziellos auf und ab, dann beginnt sie die Küche aufzuräumen. „Ich hatte Gäste gestern Abend.“ Regine Landau stellt Teller zusammen und räumt Gläser in die Spülmaschine, eines fällt klirrend zu Boden. So abrupt wie sie angefangen hat, hört sie auch wieder auf und setzt sich.

Sie fragt: „Haben Sie Kinder?“ Dabei schaut sie von mir zu Perini und wieder zu mir, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Ich habe mich so lange mit diesem Thema beschäftigt. Ich meine mit dem Trauma, das der Tod eines Kindes bei Eltern auslöst. Ich schätze, ich habe noch Glück, dass sie nicht so zugerichtet ist, dass ich sie nicht anschauen kann. Ich habe meine Doktorarbeit darüber geschrieben.“ Sie versucht ein Lächeln, das jedoch misslingt. „Wann ich sie zuletzt gesehen habe, wollten Sie wissen ...“ Nun steht sie wieder auf, dreht unruhig zwischen Tisch und Tür ihre Runden, lautlos bewegt sie die Lippen. „Wir hatten ein gutes Verhältnis. Ein offenes. Wir waren Freundinnen.“ Erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl sinken und schlägt die Hände vors Gesicht.

„Ich habe sie seit Wochen nicht mehr gesehen“, fährt sie fort.

„Normalerweise kam sie am Wochenende vorbei auf eine Tasse Kaffee.“

„Und die letzte Zeit nicht mehr?“

„Nein.“

„Wissen Sie den Grund?“

„Sie habe viel Arbeit, hat sie gesagt.“

„Was hat sie gearbeitet?“

„Sie war Journalistin.“

„Sie war nicht verheiratet?“

Sie schaut an uns vorbei, mir fällt auf, dass sie sehr schöne Hände hat. Dann räuspert sie sich und sagt: „Sie wollte heiraten. Im Sommer.“

„Wer ist der Mann?“

„Er heißt Hagen Trondheim.“

„Wo finden wir ihn?“

„Ich weiß im Grunde recht wenig über ihn. Er hat eine Praxis für Nervenleiden in Herdern und ist ein sehr introvertierter Mensch. Wir sind uns erst zweimal begegnet.“

„Er war sehr eifersüchtig“, fügt sie hinzu.

„War es nicht merkwürdig, dass Delia nicht mehr kam?“

Sie schaut an uns vorbei, ich weiß nicht, ob sie die Frage gehört hat.

Nach einer Weile sagt sie: „Ich glaube, sie hatte Angst.“

 


4

Ich bin so müde, dass ich kaum die Augen offen halten kann. Die Luft in meinem Büro ist so stickig, dass es mir für einen Moment den Atem verschlägt. ich reiße die Fenster auf und lasse frische Luft herein. Zwischenzeitlich schalte ich den Wasserkocher an und häufe Pulver für einen dreifachen Espresso in die Tasse. Dann schließe ich die Fenster wieder und setze mich an meinen Schreibtisch. Während Morten in seinem Büro die kriminaltechnischen Aufzeichnungen aus der Wohnung von Delia Landau bearbeitet, werte ich das Gespräch mit ihrer Mutter aus und sortiere die bisher eingegangen Fakten der Anwohnerbefragung. Doch nach kurzer Zeit verschwimmen die Buchstaben vor meinen Augen, das Kinn auf die Hand gestützt falle ich in einen Minutenschlaf. Im Traum stehe ich auf einem Berg und stürze in die Tiefe, ich schrecke auf, bevor ich auf die Erde schlage. Ich reibe mir die Ohrläppchen und mache mir abermals einen dreifachen Espresso.

 

Es gab einige kritische Stimmen, gelinde formuliert, als die Umzugspläne für die Kriminalpolizei bekannt wurden. Obwohl wir in der Uferstraße, neben Dreisam und Zubringer, so beengt waren, dass wir mit den Sonderkommissionen oft an andere Standorte ausweichen mussten und die Logistik alles andere als effizient war, war der geplante Umzug ein heftig diskutiertes Thema. Ich weiß nicht genau warum, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass einige Kollegen zuerst einmal dagegen sind – egal, um was es sich handelt. Seit wir vor kurzem in das Gebäude in der Heinrich-von-Stephan-Straße eingezogen sind, hat keiner dieser Kollegen mehr einen Ton dazu verloren. Alle Abteilungen sind unter einem Dach, was ein effizienteres Arbeiten ermöglicht, die Räume sind groß und hell, und was mir vor allem gefällt: Im obersten Stock angesiedelt ist die Einsatzzentrale, mit einer Fensterfront rundum, die einen weiten Blick über die Stadt gewährt. Hier haben sie sich richtig ins Zeug gelegt; um die zehn fest installierten Computer habe ich auch lange genug gekämpft. Ebenso um den Kaffeeautomaten, der gerade geräuschvoll einen Espresso für mich ausspuckt. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit, bevor die anderen eintreffen. Mit Kaffee und Zigarette setze ich mich an den Tisch und sehe die vor mir liegende Akte durch. Die Polaroidfotos lege ich zur Seite und studiere meine Aufzeichnungen. Titus ist der Erste, der eintrifft; er flucht leise vor sich hin, hält inne, als er mich sieht.

„So ein Mistwetter. Überall Stau. Unfälle. Grausig.“

Kurz darauf kommt Morten; seine Haare sind nass und seine Augen sind klein vor Müdigkeit. Ihm folgt der Rest der Soko. Sie hängen ihre Mäntel und Jacken auf, unter ihren Füßen bildet der auftauende Schnee Pfützen schlammigbraunen Wassers. Nachdem sich alle Kaffee eingeschenkt und sich an den Tisch gesetzt haben, kehrt Ruhe ein und ich beginne zu sprechen.

Gleichzeitig lasse ich die Fotos von der Leiche herumgehen.

„Gestern Abend um zwölf Uhr wurde beim Güterbahnhof die Leiche der 28-jährigen Delia Landau gefunden. Der Fundort ist mit Sicherheit nicht der Tatort, so formuliert es die Spurensicherung. Der Schnee hat sämtliche eventuell vorhandenen Spuren vernichtet; zwischen 22 Uhr und 24 Uhr hat es ungefähr zwanzig Zentimeter geschneit. Im Laufe des Tages bekommen wir die Auswertung der Spurensicherung; das Ergebnis der Obduktion wahrscheinlich heute Nachmittag. Klesemann obduziert selbst. Was das bedeutet, muss ich nicht erklären.“

Einhelliges Nicken in der Runde; es gibt nichts, was eine Leiche Ulrich Klesemann vorenthalten könnte.

„Kommen wir zunächst zu der Befragung der Anwohner.“

Schneider ergreift das Wort und erklärt, dass niemand der Bewohner der Neunlindenstraße, die gegenüber vom Güterbahnhof liegt, etwas beobachtet habe. Dann berichtet er von der Gaststätte La Cantina und dem Maler. Aber auch der hat nichts Ungewöhnliches bemerkt.

Morten macht weiter.

„Auch die Wohnung des Opfers scheidet aus als Tatort; weder haben wir Spuren eines Kampfes gefunden, noch einen Tropfen Blut. Am Tatort müssen eine Menge Blutspuren vorhanden sein. Das Opfer weist eine große Schnittwunde am Hals auf. Jedoch deutet einiges darauf hin, dass ihr dieser Schnitt erst nach dem Tod zugefügt wurde. Die Mutter der Toten meint, ihre Tochter hätte vor etwas Angst gehabt. Wovor konnte sie nicht sagen. Im Mai wollte sie Hagen Trondheim heiraten. Er ist Psychiater und hat eine kleine Privatklinik für Depressive. Die Mutter bezeichnet ihn als eifersüchtig und introvertiert; sie sagt, sie hätte ihn nicht näher gekannt. Die Tote war Journalistin und arbeitete für die Badische Zeitung.“

Die Kollegen machen sich Notizen, als Morten fertig ist, steht Schneider auf, um die Kaffeekanne zu holen. Die nächsten paar Minuten sind alle beschäftigt mit einschenken und umrühren.

„Das wäre das; jetzt teilen wir die weitere Arbeit ein. Jemand muss in die Redaktion der Badischen Zeitung und die Kollegen, den Chefredakteur und Sekretärinnen nach Delia Landau befragen. Mit wem war sie befreundet, an was hat sie gerade gearbeitet und so weiter. Hagen Trondheim übernehmen Perini und ich. Die Mutter wird heute Nachmittag um drei hier sein. Schneider, sorge bitte dafür, dass sie abgeholt wird, das habe ich ihr versprochen. Die Nachbarn in der Guntramstraße machen Schneider und die Kollegen. Holger wertet die Adressen aus, Ranzmayr die Daten des Computers. Das heißt, wir treffen uns um halb sechs zur Besprechung.“

 

Dichtes Schneegestöber erwartet uns, als Morten und ich das Bürogebäude verlassen. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal derart geschneit hat. Die Fahrt von der Heinrich-von-Stephan-Straße in den Stadtteil Herdern strapaziert meine ohnehin schlecht ausgeprägte Geduld aufs Äußerste. Allein zwischen Kronenbrücke und Stadttheater zähle ich vier Auffahrunfälle, die den Verkehr fast zum Stillstand bringen. Außerdem bin ich müde und hungrig. „Dieser verfluchte Schnee. Man müsste ihn in der Stadt verbieten. Das macht mich noch wahnsinnig.”

„Dann steuern wir ja die richtige Adresse an”, antwortet Morten und grinst frech. Trondheim wohnt im Musikerviertel von Herdern. Vom Sehen kenne ich die Jugendstilvilla, die hinter einem parkähnlichen Vorgarten in der Mozartstraße liegt. Eine Zeit lang hatte ich die Angewohnheit im Botanischen Garten spazieren zu gehen, fasziniert von den Gewächshäusern mit Treibhausklima oder den Seerosenteichen. Anschließend bin ich danach manchmal ins Café oberhalb der Mozartstraße gegangen und habe dabei die Villa bewundert. Aus der Nähe, macht dieses Anwesen einen etwas heruntergekommenen Eindruck mit dem blassblauen Anstrich und dem bröckelnden Verputz. Das Praxisschild an der Wand weist ihn als Psychiater und Therapeut aus. Hagen Trondheim öffnet uns sofort nach dem Klingeln; augenscheinlich ist er im Begriff das Haus zu verlassen, denn er hat eine dicke Wildlederjacke an und einen braunen Wollhut in der Hand.

Nachdem wir uns vorgestellt haben, bleibt er zögernd in der Tür stehen; unschlüssig, als wüsste er nicht recht, was jetzt zu tun sei. Auf Mortens Vorschlag in das Haus zu gehen, nickt er und führt uns wortlos in ein Arbeitszimmer. Er stellt einen zweiten Stuhl vor den Schreibtisch, bevor er sich selbst dahinter setzt. In dem großen, fast kahlen Raum ist es überraschend heiß und ich denke, in seiner dicken Jacke muss er sicher schwitzen, dennoch zieht er sie nicht aus. Er nimmt seine randlose Brille ab, haucht die Gläser an und poliert sie mit dem Ärmel, setzt sie aber nicht wieder auf.

„Ist etwas mit einem meiner Patienten? Sind Sie deshalb hier?“

„Sie kannten Delia Landau?”, fragt Morten.

„Warum sprechen Sie im Imperfekt?”

„Delia Landau ist tot. Sie wurde heute Nacht gefunden”, sagt Morten.

In seinen Blick aus den verwaschenen, brillenlosen Augen mischt sich ein vorsichtiger, wenn nicht gar misstrauischer Ausdruck. Sekunden verstreichen, bevor er seinen Blick von Morten löst, sich räuspert, seine Stimme ist ein heiseres Flüstern, als er endlich einen Ton herausbringt.

„Mein Gott ... was sagen Sie da ...?”

Seine Hände zittern, als er sich die Brille wieder aufsetzt. Selbst im Sitzen wirkt er groß und schlaksig, der jungenhafte Ausdruck in seinem Gesicht und die blonden kurzen Haare, die ihm wild vom Kopf abstehen, lassen ihn sehr jung wirken, beinahe wie ein in den Wirren der Pubertät steckender Teenager. Ich bin fast sicher, dass er sich dieser Wirkung bewusst ist und sie nach Bedarf einsetzen kann.

„Ich habe sie so oft gewarnt. Sie fuhr immer zu schnell und zu riskant ...” Er hält inne. „Aber nein, Sie sagten, gefunden ...”

„Sie hatte keinen Unfall. Sie wurde ermordet.”

„Ermordet? Aber warum denn?”

Ich frage mich, ob seine Stimme immer so hohl und blechern klingt wie im Augenblick.

„Das versuchen wir herauszufinden”, antwortet Morten.

Trondheim öffnet die oberste Schreibtischschublade, nachdem er nicht findet, was er sucht, die beiden anderen. In der dritten zieht er dann endlich eine verknautschte Packung Zigaretten und ein Feuerzeug hervor.

„Ich habe aufgehört damit ...” sagt er unbestimmt. Die Packung fällt ihm auf den Boden, bei dem Versuch, eine Zigarette herauszuziehen.

Er steckt sich eine zwischen die Lippen, die linke Hand stützt die rechte, in der er das Feuerzeug hält; trotzdem kann er das Zittern beider Hände nicht verbergen.

„Wann haben Sie Delia zuletzt gesehen?” frage ich.

Trondheim fährt sich mehrmals mit der Hand durch sein kurzes Haar, dann reibt er sich nachdenklich die Nasenwurzel.

„Die letzte Zeit habe ich Delia nicht so oft gesehen. Leider. Aber sowohl sie als auch ich haben beide sehr zeitintensive Berufe.”

Wenn notwendig können Morten und ich uns verständigen ohne Worte und ohne Blicke, aus den Augenwinkeln heraus sozusagen. Wir warten beide auf eine Antwort, zumindest auf eine Fortsetzung. Er lächelt ein kleines Lächeln in unser Schweigen. Während ich ihn beobachte, überlege ich, ob er als Psychologe diesen Trick durchschaut und wenn, ob er dann in der Lage ist, Paroli zu bieten. Und was es bedeuten könnte, wenn er dazu nicht in der Lage ist.

„Ja, nun – wollen Sie noch etwas wissen?”

Ich lächle auch mein kleines Lächeln, eines das nicht die Augen erreicht. Morten wiederholt seine Frage.

„Wann haben Sie Delia zuletzt gesehen?”

„Das kann ich Ihnen genau sagen, warten Sie einen Moment.”

Er schlägt auf dem Tischkalender ein paar Seiten zurück und fährt dann mit dem Zeigefinger auf der aufgeschlagenen Seite zu einem bestimmten Datum.

„Das war am 29. November. Ich hatte an diesem Tag ein Symposium; am Abend kam Delia hierher und wir haben uns etwas zum Essen kommen lassen.”

Das ist fast vier Wochen her. Eine sehr leidenschaftliche Beziehung war das wohl kaum, denke ich und mache mir in Gedanken eine Notiz, ihn bei Gelegenheit wegen dieser Sache zu fragen.

„Sie haben also Delia Landau am 29. November zum letzten Mal gesehen? Ist das richtig, Herr Trondheim?”

Er nickt.

„Ist Ihnen an diesem Abend etwas aufgefallen an Delia? War sie anders als sonst? Hat sie Ihnen etwas erzählt? Hatte sie Angst? Fühlte sie sich bedroht?”

„Jetzt, wo Sie fragen – aber ich bin nicht sicher. Wissen Sie, wenn Delia an einer Story arbeitete, war sie immer seltsam. Manchmal war sie einfach nicht ansprechbar.”

Seine Stimme gewinnt an Festigkeit, während er erzählt, sogar seine Augen scheinen mehr Farbe zu bekommen.

„In der Regel hat sie erst nachdem die Recherche für eine Story abgeschlossen war, erzählt, worum es sich handelte.”

„Sie wollten heiraten im Mai. Warum haben Sie sich in den letzten Wochen nicht gesehen?”

„Ich habe vor zwei Monaten eine kleine Privatklinik eröffnet. Da bleibt nicht viel Zeit für Privatleben. So klein sie auch ist, sie beansprucht einen Großteil meiner Zeit.”

„Sie haben sich fast vier Wochen nicht gesehen. Hatten Sie telefonischen Kontakt miteinander?”

„Ja, sicher hatten wir den.”

„Wissen Sie, an was sie zuletzt gearbeitet hat?” frage ich.

„Sie wollte über eine Gruppe von Satanisten eine Reportage schreiben. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung im Lichte dessen, was mit ihr passiert ist, mir etwas vorgaukelt – aber jetzt im Nachhinein glaube ich mich an einen gewissen Fanatismus in ihrem Ausdruck zu erinnern. Etwas, das ganz und gar nicht zu ihr passt. Ich glaube, sie sagte so etwas, wie, sie wolle der Öffentlichkeit endlich einmal die Wahrheit zeigen, nicht die Wahrheit der sensationsgeilen Boulevardpresse. Ich habe sie gefragt, was das heißt, sie hat mir nicht geantwortet.”

„Sind Sie ein eifersüchtiger Mensch, Herr Trondheim?”

„Spielt das eine Rolle?”

„Was meinen Sie?“

„Für Sie wahrscheinlich schon, nehme ich an. Ich halte mich nicht für weniger oder mehr eifersüchtig als der Rest der Menschheit.”

„Sie standen also in Kontakt und hatten nicht den Eindruck, Delia würde sich zurückziehen?”

„Nein.” Die Antwort kommt schnell und hart über seine zusammengepressten, dünnen Lippen.

Es gibt Dinge, die eine ähnliche Art Müdigkeit in mir hervorrufen – die Beschäftigung mit Fragen, auf die es nie eine Antwort geben wird zum Beispiel. Das Gespräch mit Hagen Trondheim erzeugt genau diese Müdigkeit, zusammen mit einer Nacht ohne Schlaf und dem Gefühl, etwas Wichtiges nicht zu sehen, nicht die richtigen Fragen zu stellen, spüre ich Hoffnungslosigkeit in mir aufsteigen. Was hat diese beiden Menschen miteinander verbunden? Ich habe Delia nicht gekannt, aber ich habe mir ein Bild von ihr gemacht, und ich mache mir ebenso ein Bild von Hagen Trondheim, dem Mann, den Delia in wenigen Monaten heiraten wollte.