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Titel

Reinhard Pelte

Inselbeichte

Der dritte Fall für Kommissar Jung

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: Icehouse / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3612-3

Vorwort

Für Nadja und Nils

 

 

›Paint it Black‹

Rolling Stones


Der Leitende

Jung klappte seinen Laptop zu. Das Einschnappen in den Verschluss machte das satte, elegante Geräusch, das nur eine perfekte, industrielle Fertigung hervorzubringen vermag. Der Klang gefiel ihm. Er hatte eine Aktennotiz geschrieben. Vor Kurzem war er von einer Wehrübung bei der Marine zurückgekehrt. Er hatte in Afrika erfolgreich das unerklärliche Verschwinden eines Mariners von Bord seines Schiffes aufgeklärt1. Dabei war er auf die Fährte zweier Männer gestoßen, die vor Jahren spurlos aus Deutschland verschwunden waren. Die Polizei vermutete damals, sie seien Opfer krimineller Gewalt geworden. Als ihre Ermittlungen ins Leere liefen, war der Fall bei Jung gelandet, dem Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizei-Inspektion Nord in Flensburg.

Das Telefon klingelte. Jungs Telefon klingelte selten. Seine Abteilung war aus dem Fokus des aktuellen, hektischen Tagesgeschehens gerückt, und manchmal hatte er das unangenehme Gefühl, als gehöre er gar nicht mehr dazu. Verstärkt wurde sein Einzelkämpferdasein dadurch, dass außer ihm kein weiterer Kollege seiner Abteilung angehörte. Er war Führer und Geführter in Personalunion. Manchmal, wenn er darüber ins Grübeln kam, lachte er herzhaft und beglückwünschte sich dazu, wie es ihm absichtslos, aber gerade deswegen umso wirkungsvoller gelungen war, seinen Chef dazu zu bewegen, ihn in diese komfortable Lage zu versetzen. Denn was nach außen wie eine Anerkennung aussah, war nach innen nur der Ausdruck stiller Missbilligung gewesen, die sein Chef nie laut zu artikulieren gewagt hätte.

Jung nahm den Hörer auf und meldete sich. »Jung, Polizei-Inspektion Nord.«

»Holtgreve. Kommen Sie mal hoch, Jung. Ich hab hier was.« Sein Chef bediente sich einer sehr eigenen, unverwechselbaren Sprache.

»Ich bin sofort bei Ihnen«, antwortete Jung.

Er verließ sein Büro im ersten Stock und betrat das Treppenhaus. Die Polizei-Inspektion war in einem alten, herrschaftlichen Gebäude aus der Gründerzeit untergebracht. Die Straßenfront war prächtig mit Steinmetzarbeiten, hübschen Balkonen und aufwendigen Simsen dekoriert. Die Zimmer waren geräumig und hell, die hohen Decken stuckverziert, das Treppenhaus breit und hoch. Jung erklomm die Teppichetage, wo Holtgreves Bürosuite lag. Die Etage hatte ihren Namen von den Bewohnern der unteren Etagen erhalten, deren Büros ohne Teppiche auskommen mussten. Die Holzdielen waren im Laufe der Jahre arg verschlissen worden. Als Holtgreve Jungs Schritte auf dem Flur vernahm, rief er ihn zu sich herein. Seine Tür stand die meiste Zeit offen, und Jung hatte stets das Gefühl, als hocke sein Chef den ganzen Tag mit gespitzten Ohren hinter seinem Schreibtisch, um auch ja nichts zu verpassen, nicht einmal das flüchtigste Rascheln einer imaginären Maus in den Wänden des alten Gemäuers. Holtgreve las in einem Papier, das er, die Ellenbogen auf die Schreibunterlage gestützt, vor sich in den Händen hielt.

»Setzen Sie sich«, brummte der Leitende ohne aufzusehen.

»Guten Morgen Herr Holtgreve. Danke«, begrüßte Jung seinen Chef.

Er setzte sich auf den Besucherstuhl, dessen Sitzfläche deutlich unter der Sitzhöhe des Chefsessels lag, und lehnte sich, die Beine übereinandergeschlagen, entspannt aber doch erwartungsvoll zurück.

»Wehrübung gut überstanden?«, begann Holtgreve in seiner eigentümlich verstümmelten Diktion. Jung merkte seinem Chef an, dass er sich unwohl fühlte und der Rolle, die höhere Mächte ihm hier aufgezwungen hatten, lieber aus dem Weg gegangen wäre. Jung hatte er als Schuldigen für seine Kalamität ausgemacht.

»Ja, danke der Nachfrage«, erwiderte Jung leutselig.

»Sehen gut aus. Glückwunsch«, rang Holtgreve sich mühsam ab und sah seinem Gegenüber jetzt in die Augen.

»Danke.« Jung wartete gespannt auf das, was kommen musste. Der Leitende hätte ihn niemals zu sich bestellt, nur um sich nach seinem Befinden zu erkundigen oder sein Aussehen zu loben.

»Post aus Kiel. Einsatzmedaille und Beförderung.« Der Leitende klang, als könne nicht wahr sein, was er zu verkünden hatte. Für ihn war das einfach nicht zu fassen.

»Für mich?«

»Ja«, japste sein Chef.

»Danke.«

Jung behielt seine Gefühle für sich, blieb einsilbig und verharrte in seiner Hab-Acht-Haltung.

»Einsatzmedaille. Wofür, Jung?«, rang sich der Leitende die Frage ab, die stellen zu müssen er nach eigenem Selbstverständnis nicht hätte gezwungen sein sollen, schon gar nicht an seinen Untergebenen.

»Ich war als Berichterstatter des Flottenchefs zum Einsatzstab des CTF2 150 am Horn von Afrika abkommandiert. Das muss wohl der Grund sein«, antwortete Jung wahrheitsgemäß.

»Der Flottenchef, so, so.« Holtgreve fuhr mit der Hand an seinen Krawattenknoten und zerrte nervös daran herum. Wie immer saß sein Binder perfekt gebunden und exakt mittig auf seinem blütenweißen Hemd und hätte einer Korrektur gar nicht bedurft. Er sah angestrengt aus dem Fenster, als wolle er dort etwas entdecken, was ihm helfen könnte zu verstehen, was hier vor sich ging. »Beförderung. Kommt überraschend«, bellte er mehr, als dass er sprach.

Holtgreve machte klar, dass der Polizeipräsident in Kiel seinen Statthalter in Flensburg nicht über die wahren Hintergründe von Jungs Arbeit in der Marine informiert hatte. Jung stellte sich unwissend.

»Wieso überraschend? Habe ich das nicht Ihrer Beurteilung und Anerkennung zu verdanken?«

»Gut. Ja. Richtig.«

Jung vermerkte amüsiert, dass sein Chef davor zurückschreckte, ungehemmt brutal zu lügen. Immerhin etwas.

»Aber nun zum Kern.« Holtgreve hatte sich einen Ruck gegeben und rettete sich ins Praktische. »Kiel wünscht, Beförderung und Verleihung zusammenzulegen.«

»Sie meinen, der Präsident kommt hierher?«

»Ja. Genau genommen ins Marineflottenkommando. Da gibt es die Medaille.«

»Warum im Flottenkommando?«

»Kiel will das so«, antwortete Holtgreve barsch.

Jung akzeptierte die Antwort. Er wusste ohnehin, dass sein Chef nicht in der Lage war, ihm näheren Aufschluss über die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung zu geben, denn er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, danach zu fragen.

»Und wann soll das stattfinden?«, fragte Jung ruhig.

»Nächsten Mittwoch. Kiel wünscht, dass wir in größerer Zahl erscheinen. Haben Sie Wünsche, wen Sie dabei haben wollen?«

Jung war nun doch von seinem Chef überrascht. Diese Frage hätte er ihm nicht zugetraut. Er ließ sich nichts anmerken und antwortete: »Ja, Polizeiobermeister Petersen, im Übrigen ist es mir egal.«

»Petersen ist Mittlerer Dienst.« Holtgreve sah Jung unwillig, fast strafend an.

»Ist das eine ansteckende Krankheit?« Jung glaubte sich in der Position, diese unsittliche, ja freche Frage stellen zu dürfen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, die zu Mehrarbeit und Unbequemlichkeiten führen würden.

»Nein«, quälte sich Holtgreve. »Die Auszeichnung findet aber im Rahmen der Großen Lage statt. Kiel hat mir das signalisiert. Da sind ausschließlich Offiziere zugelassen. Petersen hat keinen entsprechenden Dienstgrad.«

»Dann geht er in Zivil. Dann sieht keiner, was er hat, oder besser, was er nicht hat.« Jungs Ironie war unüberhörbar. Er war mit seiner Antwort sehr zufrieden. Vor allem deswegen, weil sie ihm jetzt, im richtigen Moment, über die Lippen gekommen war, und nicht erst später, zu Hause im Bett, nach längerem Grübeln darüber, wie man eigentlich auf Unerträglichkeiten angemessen reagieren sollte.

»Okay, weil Sie es sind.« Holtgreve fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. »Haben Sie mit der Arbeit an dem Fall des verschwundenen Mädchens begonnen?«, wechselte er abrupt das Thema.

»Ich werde mich sofort daran machen. Haben Sie sonst noch etwas für mich?«

»Nein. Sie können gehen.«

»Danke.«

Jung erhob sich und verließ beschwingt Holtgreves Büro. Er freute sich. Weder mit seiner Beförderung noch mit einer Auszeichnung hatte er gerechnet. Er hatte es im Laufe seiner Dienstjahre verlernt, auch nur daran zu denken, und wunderte sich darüber, dass ihm jetzt als Erstes durch den Kopf ging, wie viel mehr er verdienen würde. Er musste Petersen danach fragen. Der kannte die Gehaltstabellen aller Dienstgradgruppen in- und auswendig und würde ihm aus dem Stehgreif sagen können, was den Unterschied zwischen Rat und Oberrat ausmachte, wenn auch nur brutto und nicht netto. Obwohl Netto das eigentlich Interessantere war.

Jung

Zurück in seinem Büro schloss Jung die Tür hinter sich und setzte sich an seinen Schreibtisch. In den Augen seiner Frau Svenja war sein Schreibtisch schäbig. Sie hatte ihn des Öfteren gefragt, wie er es aushielte, so zu arbeiten. Neben einem Aktenschrank, einem Aktenbock, seinem Bürosessel mit verstellbarer Sitz- und Rückenlehne und einem Besucherstuhl war der Schreibtisch das einzige Möbelstück in Jungs Büro. Die spärliche und in vielen Jahren abgenutzte Möblierung ließ den Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätzte er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.

Die Akte auf seinem Schreibtisch war dick, jedenfalls gemessen an den Akten, die unaufgeklärte Kapitalverbrechen üblicherweise nach sich ziehen. Er las sie in einem Zug durch, und als er danach auf seine Uhr schaute, war mehr Zeit verstrichen, als sein Gefühl ihm weismachen wollte. Der Ordner enthielt die Ermittlungsergebnisse im Fall eines spurlos verschwundenen 11-jährigen Mädchens aus Nordfriesland. Der Fall lag zehn Jahre zurück. Jetzt standen sie kurz vor dem Jahreswechsel 2006/2007. Ganz besondere Umstände mussten für die lange Zeit dazwischen verantwortlich sein.

Das Mädchen war mittags mit dem Fahrrad vom elterlichen Hof ins nahe gelegene Husum zu ihrem Klavierlehrer gefahren und dort nicht angekommen. Sie und ihr Fahrrad wurden niemals gefunden. Ungewöhnlich, ja beunruhigend einzigartig war die Tatsache, dass Jungs Kollegen niemanden hatten ausfindig machen können, der das Mädchen nach dem Verlassen des elterlichen Hofes noch einmal gesehen hatte. Ihr älterer Bruder war der Letzte gewesen, der beobachtet hatte, wie sie auf ihrem Fahrrad die Auffahrt hinunter auf die Straße rollte. Danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein, so, als hätte es sie nie gegeben.

Ihr üblicher Weg in die Stadt wurde in einer Suchaktion, deren Aufwendigkeit und Akribie Jung selten vorher so erlebt hatte und die ihm rückhaltlose Bewunderung abnötigte, auf alle nur erdenklichen Spuren, auch auf die winzigsten Kleinigkeiten abgesucht. Dabei stellte sich heraus, dass der überwiegend landwirtschaftlich genutzte Raum, der Fremden weit und leer erscheinen musste, durchaus belebt war und unter der durchgängigen Kontrolle der bäurischen Anrainer lag, deren misstrauischer Aufmerksamkeit so leicht nichts entging. Sogar achtlos weggeworfene Zigarettenkippen in den Entwässerungsgräben oder ausgespuckte Kaugummis übersahen sie nicht und wurden naserümpfend registriert.

Jung fragte sich, warum sein Chef ihn erst nach so langer Zeit, aber noch vor seiner Einberufung zur Marine, auf diesen schwierigen Fall angesetzt hatte. Die Vermutung lag nahe, dass er mit Jungs Arbeit an der Aufklärung eines Giftmordes auf Sylt3 unzufrieden war. Er hielt mit den Gründen für seinen Missmut aber lieber hinter dem Berg und wollte Jung nun auf diesem Weg spüren lassen, wie ungehalten er war. Denn für Holtgreve war die Arbeit an einem so weit zurückliegenden und äußerst kompliziert erscheinenden Fall eine Art Strafe. Er bot keinerlei Aussicht, erfolgversprechend abgeschlossen zu werden und sich Respekt zu erwerben, ganz zu schweigen von öffentlicher Anerkennung.

Aber für Jung war es ein Glücksfall. Er schätzte stille, langsame und subtile Fälle, die aus dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit gefallen waren. Gerade die unaufgeklärten Fälle berührten, seiner Meinung nach, die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz. Jedes Geschehen auf dieser Erde hatte seine Gründe und Folgen, es gab keine Zufälle, sondern nur Botschaften, davon war er felsenfest überzeugt. Und er wusste, dass Gründe, Folgen und Botschaften, wenn sie unerkannt blieben oder bleiben sollten, unterhalb der zivilisatorischen Politur zu finden waren. Sie waren schwer zu verstehen und auch schwer zu finden. Ein guter Ermittler musste Distanz wahren und die Signaturen des Untergrundes auf der polierten Oberfläche lesen lernen. Je tiefer die Gründe lagen, desto unscheinbarer waren dort die Zeichen. Hier lagen die unaufgeklärten Fälle. Das war etwas für ihn. Ihm lag das einfach. Er glaubte zu wissen, wo die flüchtigsten Kräuselungen aufzuspüren waren und traute sich zu, sie zu deuten. Sein Gespür für kleinste Nuancen und falsche Töne hatte ihm seine Frau schon öfter vorgeworfen, wenn die Gelegenheit ihr dafür einen Grund zu liefern schien. Er sei nicht nur misstrauisch, sondern auch kleinkariert und besserwisserisch. Sie glaubte sogar, zwanghafte Züge an ihm entdeckt zu haben. Er aber vertraute seinen Fähigkeiten und glaubte immer genau erkennen zu können, wo forcierte Freundlichkeit schlechte Absichten verbarg, hinter sympathischer Aufmerksamkeit List und Tücke lauerten, wo ein eiskaltes Herz heiße Tränen vergoss und hinter kalter Teilnahmslosigkeit glühende Liebe brannte. Er witterte die tiefe Traurigkeit hinter einem lockeren Lachen, die verzweifelte Einsamkeit in umtriebiger Geselligkeit, die herzlose Grausamkeit hinter schwelgerischer Gefühlsseligkeit und die unsägliche Angst in der Heldenpose. Er spürte fast körperlich, wo hinter einer zur Schau gestellten Hilfsbedürftigkeit Hass, Wut und Neid lauerten. Er sah die Menschen, wie sie um ihr Auskommen kämpften, wie sie ihren Hunger und Durst stillten, er sah ihr Verlangen nach Sex, ihre Gier nach Geld und ihre verzehrende Suche nach der großen Liebe. Und er kannte den chaotischen Hexentanz, wenn unter übermenschlichem Druck oder im Rausch von Alkohol, Drogen und überbordender Laune oder im Zustand manischen Verliebtseins alles durcheinander purzelte. Es kam ihm dann so vor, als entpuppte sich die unerträgliche Leichtigkeit des Seins als der unerträgliche Schmerz zutiefst verletzter Seelen. Er dachte oft und lange darüber nach. Auch darüber, wo er sich selbst in diesem Panoptikum aus Instinkten, Gefühlen, Trieben, Leidenschaften und Bedürfnissen einzuordnen hatte. Und dann öffnete sich in ihm die vage Ahnung von einer fernen, kosmischen Kraft, die zwar hintergründig jedoch nie hinterlistig oder fies, und deren geheimnisvolles Wirken so unfassbar gewaltig, so richtig und gerecht war, dass ihm schwindelig wurde. Ja, dachte er, wenn seine Gedanken ihn nachts am Schlaf hinderten, ja und nochmals ja, so ist es, und so muss es einer gewollt haben. Und dann drängte es ihn plötzlich aufs Klo, und hinterher fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

*

 

Damals waren die Medien voll von dem Fall des spurlos verschwundenen Mädchens gewesen. Als die Polizei keine schnellen Aufklärungsergebnisse liefern konnte, schlugen die Wellen der öffentlichen Empörung hoch. Die Angst vor einer Wiederholung und das Grauen vor der gespenstischen Unerklärlichkeit der Tat brachte die Menschen zu grotesken Reaktionen. In Leserbriefen an die Presse wurde zu Formulierungen gegriffen, die jedes Maß und jedweden vernünftigen Gedanken vermissen ließen. Aber Menschen, vor allem, wenn sie nicht unmittelbar betroffen sind, halten einen derartigen Erregungszustand nicht lange durch. Aus diesem Grund war der Fall relativ schnell aus den Schlagzeilen verschwunden. Die ermittelnden Beamten konnten kein frisches Futter für eine Dauererregung nachliefern.

 

*

Jung atmete hörbar aus. Die Luft im Raum war stickig. Weihnachten war nicht mehr fern, und die Heizung lief schon längst auf vollen Touren. Er drehte den Thermostat herunter und öffnete das Fenster. Alles wirkte trüb und grau. Die Temperatur musste bis nahe an den Gefrierpunkt gesunken sein. Die Nässe schlug sich zwar noch nicht als fester Belag nieder, aber es war so unangenehm feucht und kalt, dass es einer Bestrafung gleichkam, sich draußen, an der frischen Luft aufhalten zu müssen. Jung blickte auf die schräg gegenüberliegende, schemenhaft auszumachende Hafenspitze. Das Wasser lag wie ein Bleiklotz in der Förde, obwohl ein steifer Wind ging und tiefe, dunkle Wolkenfetzen unter einem düsteren Himmel vorbeihasteten.

Jung schüttelte sich fröstelnd und schloss das Fenster wieder. Er überlegte, wie er den Fall am besten angehen sollte. Er schätzte es, sich mit einem Kollegen seines Vertrauens darüber zu besprechen, vor allem zu Beginn, bevor er loslegte. In der Vergangenheit hatte ihm sein pensionierter Kollege Boll dafür gerne zur Verfügung gestanden. Das letzte Mal hatte er Jung sogar dazu animiert, höhere Mächte für das afrikanische Abenteuer einzuspannen, was ursprünglich gar nicht in Jungs Absicht gelegen hatte. Denn er war zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon auf den vorliegenden Fall angesetzt gewesen. Sein Chef beugte sich jedoch gern den Anweisungen von oben, vergaß das spurlos verschwundene Mädchen für eine Weile und ließ Jung in die Fremde ziehen. Holtgreve wusste damals nicht, wohin es Jung trieb. Falls doch, hätte er trotz allem keine Einwände bei seinen Vorgesetzten vorgebracht. In seinen Augen machte man das einfach nicht, streng genommen, verbot es sich sogar.

Jung beschloss, Boll anzurufen und um ein Gespräch zu bitten. Er hatte ohnehin vor, ihn zu treffen. Schließlich war Boll der Auslöser für seinen Aufenthalt am Horn von Afrika gewesen, und er würde sicherlich brennend interessiert sein, zu hören, welchen Ausgang Jungs afrikanische Spiele genommen hatten. Er nahm den Hörer auf und wählte.

»Boll.«

»Hallo Klaus. Tomas hier. Wie geht’s dir?«

»Hallo, Tomi. Du lebst? Ich machte mir schon Vorwürfe und dachte, du wärst bei der Marine abgesoffen«, erwiderte Boll launig.

»So schnell geht das nicht, auch wenn ich kurz davor war.«

»Was, du bist in Seenot geraten? Das glaub ich einfach nicht.« Boll lachte laut.

»Nicht mit dem Schiff, aber im Pool, als ich die Rettungsweste ausprobierte.«

»Das muss ja eine tolle Schwimmweste gewesen sein. Normalerweise sind sie dafür da, oben zu bleiben.« Bolls amüsierter Tonfall ärgerte Jung.

»Dazu will ich weiter nichts sagen, sonst werde ich wieder sauer. Aber deswegen rufe ich dich nicht an.«

»Okay, vergessen wir das. Was gibt’s denn?« Boll hatte gemerkt, dass es Jung ernst war, und fiel zurück in seinen aufmerksamen Zuhörerton.

»Erinnerst du dich an das letzte Mal, als ich den Fall des vor Jahren spurlos verschwundenen Mädchens erwähnte?«

»Ja, dunkel.«

»Der liegt jetzt vor mir auf dem Schreibtisch. Ich möchte gerne deine Meinung dazu hören.«

»Gut. Wann passt es dir?«

»Sagen wir morgen Nachmittag, gegen vier Uhr bei dir?«

»Geht in Ordnung. Ich bereite eine Kleinigkeit für uns vor. Lässt sich dann besser reden. Aber du musst mir noch erzählen, ob du den verschwundenen Seemann gefunden hast.«

»Mach ich. Versprochen. Also bis morgen. Tschüss.«

»Tschüss.«

Jung legte den Hörer zurück. Er freute sich auf das morgige Treffen. Sicherlich würde Boll einen guten Tropfen aus seinem Keller holen, und bei ihm konnte man sicher sein, dass er bei der herrschenden Witterung keinen eiskalten Rosé servieren würde.

Jung machte für heute Schluss. Er stieg das kahle Treppenhaus hinunter. Die nasskalte Luft war in den Windfang gesickert, und Jung beneidete Petersen, der in seiner warmen Wachstube stand.

»Schluss für heute, Herr Kriminalrat?«

»Ja. Widerliches Wetter draußen. Sie haben es gut in Ihrer warmen Stube.«

»In Afrika war es sicherlich wärmer, oder nicht?«

»Woher wissen Sie denn davon, Petersen?«

»Man hört das Eine oder Andere. Sie sehen ganz normal aus.«

»Warum sollte ich nicht normal aussehen?«, fragte Jung erstaunt. Petersens Beobachtungsgabe amüsierte ihn.

»Da, wo Sie gewesen sind? Ich möchte nicht dorthin.«

»Sie haben falsche Vorstellungen, Petersen. Bei der Marine sind Menschen wie Sie und ich. Sie sollten mal nach Afrika reisen. Das kann nicht schaden.«

»Gibt’s da nicht überall AIDS? Außerdem fühle ich mich unter Leuten, die immer mit Waffen rummachen nicht wohl. Da kommt doch nichts Gutes bei rüber, finden Sie nicht auch?«

»Sie übertreiben, Petersen. Tschüss bis morgen«, verabschiedete sich Jung.

»Tschüss, Herr Jung.« Petersen legte für einen Moment den rechten Zeigefinger gegen die Schläfe und lächelte Jung hinterher.

Jung verließ die Inspektion und betrat den Hof. Er war in Gedanken versunken. Petersen hatte mit seiner Bemerkung über die Marine einen empfindlichen Punkt in ihm berührt, den er bis jetzt vor sich und anderen verborgen gehalten hatte. Aber er schüttelte jeden weiteren Gedanken schnell ab und widmete sich seiner Verwunderung darüber, dass die Nachricht von seiner Beförderung noch nicht bis zu Petersen durchgedrungen war. Wenn es überhaupt einer in der Inspektion gehört haben konnte, dann mit Sicherheit Petersen. So war er einfach, und Jung mochte ihn so.

 

*

Auf dem Weg zum Auto dachte Jung an seine Frau. Er überlegte, wie er sie zu Weihnachten mit einem Geschenk beglücken könnte, das sie von ihm nie und nimmer erwartet haben würde. Seine Beförderung stimmte ihn großzügig. Kurz entschlossen verließ er den Hof und lenkte seine Schritte durch die Rathausstraße in die Fußgängerzone. Leicht und locker ertrug er heute die aufdringliche, weihnachtliche Dekorationsorgie, die aus allen Schaufenstern und Lautsprechern und sogar vom Himmel quoll. Es machte ihm auch keine Mühe, sich durch die angetrunkenen Menschentrauben zu kämpfen, die sich um die Punschbuden drängten und die Luft mit launigen Sprüchen erfüllten.

Bis zur Parfümerie war es nicht weit. Am Eingang überfiel ihn eine Wolke aus Gerüchen und Düften und stieg ihm betäubend in die Nase. Er konnte sich seinen Empfindungen aber nicht weiter hingeben, weil seine Aufmerksamkeit von einer jungen Verkäuferin abgelenkt wurde, die sich ihm lächelnd in den Weg stellte, und die, wie er erleichtert feststellte, keine rote Zipfelmütze auf dem Kopf trug.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, sprach sie ihn freundlich an.

Ihre Stimme klang interessant: weich, mit einem rauen Schmelz. Jung wandte sich ihr zu. Ihre Aufmachung war auf eine Art gelungen, die völlig vergessen ließ, welcher Aufwand dafür nötig gewesen sein musste.

»Ja, gerne. Ich suche einen Duft für meine Frau.« Jung lächelte sie an und vermerkte, dass er heute gerne tat, was sonst nicht unbedingt seine Art war.

»Denken Sie an einen bestimmten Duft, oder soll es eine Überraschung werden?«

»Eine Überraschung, das gefällt mir.«

»Ihrer Frau sicherlich auch. Welcher Typ ist sie denn, wenn ich fragen darf?« Ihr Tonfall verriet Aufmerksamkeit und zurückhaltende Freude über die Aufgabe, die sich ihr stellte. Jung fiel es nicht schwer, mit Worten ein Bild von Svenja zu zeichnen. Seine Frau war groß und schlank aber nicht zierlich. Man hätte sie für eine nordische Schönheit halten können, wenn ihre Proportionen nicht einen Hauch von den idealen abgewichen und ihr Schwerpunkt nicht unter dem Bauchnabel gelegen hätte.

Die junge Frau sah ihn die ganze Zeit aufmerksam an und hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er geendet hatte, fragte sie: »Soll es denn ein Tagesduft sein oder lieber etwas für den Abend, für festliche Stunden?«

»Für festliche Stunden, bitte.« Jung war die Unterscheidung nach Anlässen bei der Duftwahl ganz neu.

»Dann würde ich Ihnen zu PURE POISON von Christian Dior raten. Es ist ein kostbarer, reicher Duft, nicht zu schwer oder gar opulent, aber auch nicht seicht und flüchtig. Er hat innere Stärke und feminine Klasse.«

Jung sah sie überrascht an und war auf der Stelle überzeugt, den richtigen Duft gefunden zu haben. Die anschließende Riechprobe bestärkte ihn in seiner Meinung. Er selbst roch PURE POISON gerne, ein Phänomen, das ganz neu für ihn war und ihn seltsam berührte.

»Wunderbar. Packen Sie es mir bitte als Geschenk ein«, sagte er erregt von dem angenehmen Gefühl, das absolut Richtige zu tun.

»Sehr gern.« Ihr Lächeln entblößte zwei Reihen schöner Zähne, die nicht wie dichte Palisaden in ihrem Gesicht standen. Vor denen hätte Jung sich eher gefürchtet, als dass sie einladend und freundlich auf ihn gewirkt hätten.

Er verließ schließlich den Laden mit dem dringlichen Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Nicht nur das widerliche Wetter, das er noch einmal verfluchte, drängte ihn dazu. Er lief mit langen Schritten, soweit der vorweihnachtliche Aufgalopp in der Fußgängerzone es ihm gestattete, zurück zur Polizei-Inspektion, bestieg schnell sein Auto und fuhr zügig am ZOB4 vorbei über Süderhofenden auf die Husumer Straße. Ab da brauchte er nicht mehr lange, um zu seinem Haus im Süden von Flensburg zu kommen. Ihn beschlich das Gefühl, als hätte er heute seinen Heimweg in neuer Rekordzeit zurückgelegt.