Impressum

Klaus Möckel

Ein Hund mit Namen Dracula

Grusel-Grauselgeschichten

ISBN 978-3-86394-180-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2003 in der Edition D. B., Erfurt.

 

Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck

 

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Die Nacht mit den Fischen

Tina glaubte alle Zeit der Welt zu haben, um unbeschadet ans Ufer zu gelangen, sobald die Flut kam. Zwar hatte sie sich weit hinaus in die Steine gewagt, doch sie konnte ja gut schwimmen und schnell laufen. Nur deshalb hatte sie so lange nach Muscheln gesucht und in der Sonne auf dem kleinen Plateau gelegen. Auch als die Wellen schon an ihren Zehen leckten, hatte sie noch keinerlei Bedenken.

Sie zog das T-Shirt und die Jeans über, nahm Schuhe und Handtuch in die Hand, rollte ihre Matte zusammen und sprang zum nächsten Stein. Da fuhr ihr ein stechender Schmerz ins Bein. Sie hatte nicht richtig hingeguckt und war abgerutscht.

Das Mädchen schrie auf und hockte sich hin. Die Oberfläche des Steins war noch trocken und sie versuchte erst einmal, den gestauchten Fuß zu bewegen. Nein, auftreten konnte sie nicht, da war etwas verrenkt oder gar gebrochen. Wie sollte sie jetzt ans Ufer kommen?

Weit und breit keine Menschenseele! Das war auch klar, denn hierher verirrte sich niemand so leicht. Die Eltern waren nie mit ihr zu dieser Stelle gegangen und gerade das hatte sie gereizt. Heute, wo sie ihre blöde Busfahrt machten, hatte sich endlich die Gelegenheit ergeben, diese geheimnisvolle Bucht in Augenschein zu nehmen. Und nun dieses Pech!

Tina raffte ihre Kräfte zusammen und humpelte los. Auf einen Stock gestützt, der im Schlick lag. Es ging schlecht, nach zehn Schritten schon musste sie sich hinsetzen. Dabei hatte sie wirklich keine Zeit mehr. Es war schon erstaunlich, wie schnell das Wasser stieg.

Am besten, sie lief zur vorgeschobenen Landspitze mit ihrer Steilküste! Das konnte sie schaffen - der Weg war nicht so weit. Humpelnd und heulend vor Schmerz arbeitete sich Tina voran. Das Wasser umspülte ihre Füße und schaffte etwas Linderung, gleichzeitig aber wurde das Gehen mühevoller und die Kräfte ließen nach.

Sie erreichte erschöpft das Steilufer. Die Wellen rollten bereits in Kniehöhe heran und Tina blieb keine Zeit zum Ausruhen. Die Springflut kam, sie musste einen Weg nach oben finden. Doch eine Kletterkünstlerin war sie nie gewesen.

Als sie den Höhleneingang in etwa drei Metern Höhe entdeckte, atmete sie etwas auf. Ob das Wasser bis dorthin kam? Egal, sie hatte nur diese Möglichkeit. Zum Glück gab es hier genügend Vorsprünge, so dass sie sich, samt Bündel und Stock, hinaufhangeln konnte.

Ein Gang führte ins Berginnere, doch das interessierte Tina im Moment nicht. Die kleine Plattform vorn genügte ihr, dort konnte sie sogar noch in der Sonne sitzen. Allerdings war es mittlerweile später Nachmittag. Heute würde sie bestimmt nicht mehr von hier wegkommen.

Tina dachte an ihre Eltern, die in der Nacht ins Urlaubsquartier zurückkehren würden. Wenn sie die Tochter nicht antrafen, würden sie sich mächtig aufregen und Angst um sie haben. Doch daran konnte sie nichts ändern. Erst Stunden später würde die Flut wieder zurückgehen, vorläufig stieg sie noch. Sie würde bald die Plattform erreicht haben. Das Mädchen schaute einige Zeit zu, dann beschloss sie, sich für alle Fälle in der Höhle umzusehen.

Sie humpelte durch einen engen Gang, der leicht anstieg. Schauerlich war es hier, feucht und voller unerklärlicher Geräusche. Es gluckste und rauschte, Tropfen fielen von den Wänden, glitten Tina den Rücken hinunter. Dann war der Gang zu Ende und sie stand zu ihrer Überraschung in einer weit gedehnten Grotte. Eine hohe Decke und zu ihren Füßen Wasser. Hinter einer Art Graben aber lag erhöht eine kleine Insel.

Tina wollte zum Plateau zurück, da kam ihr bereits Wasser entgegen. Kein Zweifel, es war besser, hier drin abzuwarten, am besten auf der Insel. In der Grotte war es nicht gerade warm, doch einige Stunden würde sie schon durchhalten.

Tina zog die Jeans aus und begann durch den Graben zu waten. Vorsichtig und in der Hoffnung, dass er nicht allzu tief war. Ein grünliches Licht kam von oben, drang offenbar durch irgendwelche Felsspalten. Viel konnte sie nicht erkennen, aber sie kriegte mit, dass das Wasser klar war. Der Boden war fest, nur ab und zu tappte sie in Schlamm.

Sie war in der Mitte des etwa zwanzig Meter breiten Grabens, stand fast bis zur Hüfte im Wasser, als ihr etwas ans Bein glitschte. Gleichzeitig gab es einen Platsch hinter ihr, so dass sie erschrocken zusammenzuckte. In dem Wasser waren Fische und sie mussten groß sein. Der an ihrem Bein hatte sich wie ein schlabbriger Schwamm angefühlt.

Tina erstarrte und bemühte sich, das Wasser auszuforschen. Hoffentlich keine Schlangen oder Echsen, die womöglich noch an Land kamen. Sollte sie zum Höhlenausgang zurück? Doch das ging nicht, die Flut überspülte bereits den Gang.

Plötzlich sah Tina einen der Fische. Er schwamm genau vor ihr und glotzte sie an. Er war fast einen Meter groß und hatte so etwas wie ein Gesicht. Als sie eine Bewegung machte, glitt er träge zur Seite. Und nun erblickte das Mädchen auch die anderen. Ganze Scharen umringten sie, waren neben, hinter und vor ihr. Wo kamen die auf einmal alle her?

Tina war kein ängstlicher Typ, aber diese vielen Fische flößten ihr Furcht ein. Ihr wurde vor Schreck heiß und kalt. Zumal sie nun hinten schuppige Rücken an ihren Beinen spürte. Bloß heraus aus diesem unterirdischen Wasserloch, doch wohin? Heftige Armbewegungen und ein Schritt zur Seite brachten so gut wie nichts. Diese Kaltblüter wichen kaum von der Stelle. Dann jedoch fiel ihr etwas Sonderbares auf. Auf unerklärliche Weise blieb eine Furt vor ihr frei. Und die führte zur Insel.

Inzwischen war das Wasser weiter gestiegen, benetzte Tina bereits den Po. Trotz der Schmerzen im Fuß stolperte sie nach vorn, zwischen den Fischen hindurch, die eine Art Spalier bildeten. Endlich hatte sie wieder trockenen Grund erreicht und setzte sich erschöpft auf einen Stein.

Einige Minuten saß sie ganz still da, versuchte sich zu beruhigen. Die Fische waren weg, hatten sich verzogen, als wären sie nie da gewesen. Dennoch graute Tina schon jetzt bei dem Gedanken, durch diesen Graben zurück zu müssen. Auch wenn die Fische ihr nichts getan hatten. Nun gut, sie hatte etwas Zeit. Erst einmal galt es, die nächsten Stunden zu überstehen.

Der verletzte Fuß tat weh, aber es war zu ertragen. Tina rollte ihre Matte an einer Stelle aus, wo Moos und einige Flechten wuchsen. Dann rieb sie sich mit dem Handtuch trocken. Sie ließ ihren Blick über die Insel gleiten, die viel kleiner war als gedacht, kleiner als die Dreizimmerwohnung ihrer Eltern in Berlin. Auch hier tropfte es von der felsigen Decke, aber glücklicherweise schien es keinerlei Kriechtiere zu geben. Zumindest sah man keine Spuren. Dagegen lag Holz herum, wohl über Jahre von der Flut durch den Höhlengang geschwemmt.

In der Höhle wurde es dunkel. So dunkel schließlich, dass man keine Hand mehr vor Augen sah. Tina tastete ihren geschwollenen Fuß ab, hoffentlich schaffte sie später den Rückweg. Sie verspürte Hunger, denn sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. Ich bleibe keine Minute länger als nötig, sagte sie sich und versuchte vergeblich, auf ihrer Armbanduhr die Zeit zu erkennen. Die Sonne jedenfalls war bestimmt schon untergegangen.

Tina dämmerte ein und träumte wirres Zeug. Von Fischen, die menschliche Gesichter hatten und wütend auf sie eindrangen. Ihr war, als hätte sie schon einmal so ein Exemplar gesehen. Sie konnte nur nicht sagen, wo und wann.

Sie erwachte, weil sie vom Rand der Insel ein Plätschern und Scharren hörte. Vielleicht doch eine Echse? Sie ertastete ihren Stock und bemühte sich etwas zu erkennen. Plötzlich sah sie zwei leuchtende Punkte vor sich am Boden. Sie stieß einen Schrei aus und richtete sich auf. Das da waren nicht etwa Glühwürmchen, sondern Augen, die sie anstarrten. Sie schlug mit dem Stock nach dem Ding. Mit einem Platsch schnellte es ins Wasser.

Die Augen waren verschwunden, aber im selben Moment glühten um sie her andere Punkte auf. Am Rand der Insel und in dem Graben. Ein Leuchten, das der Grotte sogar ein wenig Licht brachte. Durch dieses Schimmern aber erkannte Tina, dass es die Fische waren, die derart phosphoreszierende Augen hatten. Sie hatten einen Ring um die Insel gezogen, waren sogar an Land geschnellt. Und jetzt, da Tina, zu Tode erschrocken, mit dem Stock herumfuchtelte, begannen sie zu springen. Nicht einfach im Graben, sondern gezielt über die Insel hinweg. Sie hoben sich auf ihren Flossen in die Luft und sausten über den Kopf des Mädchens hin. An ihr vorbei, nass und glitschig glitten sie ihr über die Schultern, den Hals. Sie kamen von allen Seiten, klatschten ihr gegen die Brust und das Gesicht. Manche schafften die Entfernung nicht, plumpsten zu Boden und zappelten dort weiter. Und immer neue flogen heran. Tina versuchte sie abzuwehren, doch es waren zu viele. Schließlich duckte sie sich zitternd und zog die Matte über sich.

Endlich kehrte wieder Ruhe ein, aber Tina brauchte eine ganze Weile, um zur Besinnung zu kommen. Sie schob die Matte vorsichtig weg und hob den Kopf. Es war erneut dunkel in der Höhle und ihre Hand stieß an einen Schuppenleib, der sofort zu zucken begann. Einige der Fische hatten es offenbar nicht geschafft, ins Wasser zurückzukehren.

Ich darf sie nicht mehr aufstören, dachte Tina, vor allem nachts nicht, da scheinen sie besonders aggressiv zu sein. Ich werde mich ganz ruhig verhalten, bis es etwas heller wird, dann lassen sie mich bestimmt durch. Auch wenn ich mich vor ihnen ekle, ich muss das schaffen, denn niemand wird mich so schnell hier finden.

Sie legte die Matte leise wieder auf dem Boden aus, der inzwischen abgekühlt war, und setzte sich hin, die Hände um die Knie geschlungen. Sie wartete ab, obwohl ihr das schwer fiel, denn allmählich taten ihr nicht nur der Fuß, sondern alle Glieder weh. Sie versuchte, an schöne Dinge zu denken, aber stets aufs Neue kamen ihr die Fische in den Sinn. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wo sie eines dieser Glupschaugen schon gesehen hatte. Es war bereits am zweiten Ferientag gewesen, sie hatte mit dem alten Carlos geangelt und ein solches Exemplar am Haken gehabt.

"Oh", hatte der Fischer gesagt, "das ist ja ein fliegender Höhlenfisch, ein äußerst seltener Fang."

Tina war ein bisschen stolz gewesen, sie fragte: "Ein Höhlenfisch, was bedeutet das? Fliegt er wirklich?"

"Er fliegt wahrscheinlich nur in den großen Grotten an der Steilküste, wo er sich meist aufhält", erwiderte Carlos lachend. "Aber Vorsicht, man erzählt schreckliche Dinge von ihm. Er soll Leute, die ihm irgendwann nachgestellt haben, mit seiner Rache verfolgen. Wehe, wenn sie sich in sein Reich wagen! Überhaupt soll er ziemlich viel Verstand haben und der Einzige sein, der sich nicht damit abfindet, dass wir Menschen seit Jahrhunderten die Fische verfolgen."

Tina hatte damals in das Lachen eingestimmt und die Angelegenheit schnell vergessen - es gab ja täglich neue Abenteuer. Jetzt allerdings lief ihr ein Schauer über den Rücken. Und wenn doch etwas an den Gerüchten war? Quatsch, dachte sie, die hier waren bestimmt nicht im Hafen, das sind alles nur Märchen.

Um ihren Mut vor sich selbst zu beweisen, stand das Mädchen auf. Den Stock fest in der Hand, humpelte sie zum Wasser. Sie merkte, dass es schon gefallen war. Tapfer ging sie hinein.

Die Augen leuchteten wieder auf, aber diesmal flogen die Fische nicht, sie bildeten einen Wall vor ihr. Und jäh spürte Tina ihre heftigen Bisse. Es war kein Spaß, es tat weh!

Kein Zweifel, die Fische wollten sie nicht fortlassen. Als Tina wütend mit dem Stock ins Wasser schlug, begannen sie wieder zu springen. Ihr blieb nur der Rückzug.

Tinas Füße bluteten. Diese Biester waren gefährlich wie Piranhas, sie hatten ihr Haut- und kleine Fleischfetzen herausgerissen und vielleicht waren sie sogar giftig.

"Ihr Teufel, was habt ihr gegen mich", rief das Mädchen. Ein leises, aber unangenehmes Pfeifen aus hundert breiten Mäulern antwortete ihr.

In Tina kroch Angst hoch, begann sie zu überwältigen. Die Dunkelheit, die voller angriffslustiger Leuchtpunkte war, das Pfeifen, das Blubbern des Wassers und die Schmerzen in Füßen und Beinen waren zu viel. Sie lassen mich nicht weg, dachte sie zum zweiten Mal, ich werde hier verhungern und verdursten. Verbluten werde ich, wenn ich noch mal da reingehe!

Endlich wurde es heller und Tina schöpfte ein bisschen Mut. Einiges Holz lag herum - wenn sie ein Floß baute, würde sie die zwanzig Meter Graben vielleicht schaffen. Falls die Fische sie aber ansprangen, konnte sie sich mit dem Stock zur Wehr setzen. Sie machte sich sofort ans Werk.

Leider fehlten ihr Stricke. Sie hatte nur ihre Schnürsenkel und die Flechten, die auf der kleinen Insel wuchsen. Immerhin waren die stabil. Tina trug Bretter zusammen und verschnürte sie über Kreuz. Ein Fassdeckel diente als Mittelstück - das Floß musste ja tragen.

Während sie baute, schwammen die Fische heran und schauten misstrauisch zu. Man durfte es durchaus so nennen, denn sie glotzten mit schiefem Maul und einige besonders große Exemplare schnellten sogar an Land. Anscheinend konnten sie es ein paar Minuten im Trockenen aushalten. Nur wenn Tina mit dem Stock auf sie losging, zappelten sie in den Graben zurück.

"Ihr wollt mich bestrafen, aber ihr kriegt mich nicht", sagte das Mädchen entschlossen. Sie schob das fertige Floß ins Wasser, packte ihre Habseligkeiten darauf, legte den Stock bereit und nahm ein Brett als Paddel zur Hand. Die Fische etwas zurückscheuchend, stieß sie sich kräftig ab. Sie versuchte sich leicht zu machen und tatsächlich, das Floß hielt.

Die Fische sprangen diesmal nicht, aber nach ein paar Metern merkte Tina, dass sie sich unter dem Floß zu schaffen machten. "Was habt ihr vor, ihr Biester", schrie sie, "wollt ihr mich zum Kentern bringen?" Sie paddelte wie wild, kam aber kaum vom Fleck. Vorn stemmten sich die Fische dagegen und unten zerbissen sie die Pflanzen, die alles zusammenhielten.

Das Floß brach auseinander. Tina wollte sich an dem einzigen stabilen Stück, dem Fassdeckel, festhalten, aber er trug sie nicht. Sie glitt ins Wasser, mitten zwischen die schuppigen, schleimigen Fischleiber. Sie schlug mit den Armen um sich, wollte sich aufrichten, wurde aber von weit aufgerissenen Mäulern gepackt und unter Wasser gezogen. Sie sah ihr letztes Stündlein gekommen. Bevor sie das Bewusstsein verlor, blickte sie in tödlich kalte Fischaugen.

Aber Tina starb nicht, sie kam im flachen Wasser am Rand der Insel wieder zu sich. Sie kroch an Land. Ihre wenigen Habseligkeiten waren weg, die Armbanduhr stehen geblieben.

Sie hockte sich hin und begann zu schluchzen.

"Ihr nehmt mich also gefangen", sagte sie zu den Fischen, "ihr wollt mich verhungern und verdursten lassen. Aber was habe ich euch getan? Stimmt, ich hab einem von euch das Leben genommen. Ich würde es ja wieder gutmachen, doch es ist zu spät. Das hier ist dann wohl eure Vergeltung."

Die Fische, von leichtem grünlichen Licht bestrahlt, fingen wieder zu springen an. Sie wirkten fast beschwingt, waren offensichtlich zufrieden mit dem, was sie erreicht hatten. Eine Freude, die Tina ganz und gar nicht teilen konnte.

Ein Fisch war unvorsichtig, klatschte gegen das Mädchen und fiel zu Boden. Angeekelt wollte Tina zur Seite rücken, da sah sie, dass er noch sehr klein war. Ein Jungfisch, mit weichen silbrigen Schuppen. Er zappelte herum, hatte aber nicht die Kraft, ins Wasser zurückzuschnellen.

Tina beugte sich über ihn, um ihn genauer zu betrachten. Da sah sie die Furcht in seinen Augen.

"Ich bin's also nicht allein, die Angst hat", sagte sie, "wir erschrecken uns gegenseitig. Aber beruhige dich, mein Kleiner, ich bin kein Feind, ich will dir nichts tun."

Sie strich ihm sacht über den Rücken und bemerkte, dass er ruhiger wurde. Er sah auch gar nicht mehr eklig aus. Behutsam nahm sie ihn auf und setzte ihn in den Graben zurück.

Die Fische hörten auf zu springen, es war, als ob sie diesen Vorgang mit Aufmerksamkeit und Staunen verfolgten. Sie schwammen hin und her, sie gaben leise Pfeifsignale, vielleicht wollten sie sich untereinander verständigen. Schließlich gruppierten sie sich und bildeten eine Gasse.

Tina verstand. Noch ungläubig, aber schon mit einem Gefühl der Erleichterung, das alle Schmerzen übertönte, griff sie nach einer Stange, die vom Bau des Floßes übrig geblieben war und die sie als Stütze benutzen konnte.

Dann stieg sie vorsichtig ins Wasser und watete zwischen dem Spalier der Fische hindurch dem Ausgang der Höhle zu.

Ein Hund mit Namen Dracula

Als es an der Wohnungstür klingelte, stand Steffen am Tisch und zählte die Geldstücke, die er zuletzt eingenommen hatte. Wer mochte das sein? Die Mutter bestimmt nicht, denn die kam nie so früh nach Hause. Pauke etwa, der Kumpel? Sie waren zwar wegen der Jacke zerstritten, die sie irgendeinem Hosenscheißer abgezogen hatten, aber vielleicht wollte er einlenken. Ich seh mal nach, dachte Steffen und schlich zur Tür.

Er spähte durch den Spion, doch niemand war zu sehen.

"Wer ist da? Bist du's, Pauke?"

Statt einer Antwort klingelte es erneut. Der musste kauern, sonst hätte man ihn entdeckt. Es konnte nur der Kumpel sein. Steffen riss die Tür auf. Ein Windstoß fuhr ihm ins Gesicht, aber Podest und Treppe waren leer. Das sollte begreifen, wer wollte.

Einen Augenblick lang stand Steffen unschlüssig da. Die Sache war unerklärlich, denn nicht einmal Superman hätte so schnell verschwinden können. Hatte er sich alles nur eingebildet? Er schloss die Tür wieder und kehrte zum Tisch mit den Münzen zurück. Gerade wollte er sich hinsetzen, da störte ihn ein Geräusch in der Küche. Es klang, als wenn ein großer Hund hechelte.

Ein Hund in ihrer Wohnung, das war unmöglich. Sie hatten noch nie einen gehabt, nicht einmal, als der Vater noch bei ihnen war. Sie hatten keine Zeit und kein Geld für so was. Und dass die Mutter plötzlich einen in Pflege genommen hätte, konnte er sich auch nicht vorstellen.