© Querverlag GmbH, Berlin 2020

Erste Auflage September 2020

Lektorat: Regina Nössler

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von picture alliance/Kay Nietfeld/dpa.

ISBN 978-3-89656-667-6

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Zum Geleit I: Zwei Auschwitz-Überlebende

Esther Bejarano

(Jg. 1924, Ehrenpräsidentin des Auschwitz-Komitees Deutschland, Musikerin und Zeitzeugin in Schulen, Hamburg)

Es waren die Nazis, die Menschen in „unterschiedlich wertvolle“ Kinder, Frauen und Männer klassifizierten. Das ist nirgendwo auf der Welt akzeptabel! Nach der Befreiung 1945 riefen wir Überlebenden alle „Nie wieder!“. Für unsere Mitgefangenen mit dem rosa Winkel galt das aber nicht: Sie wurden in den meisten Ländern, auch in Deutschland, weiterverfolgt. In Deutschland ist das zwar endlich vorbei. Aber ein aufrichtiges und umfassendes Erinnern an die homosexuellen Frauen und Männer, die damals litten und starben, fehlt noch immer und ist dringend nötig – sowohl im Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag als auch in der Gedenkstätte Auschwitz.

Marian Turski

(Jg. 1926, Journalist und Menschenrechtsaktivist, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Vorsitzender des Rates des Warschauer POLIN Museums für die Geschichte der Juden in Polen, Ehrenmedaille des polnischen Kommissars für Menschenrechte)

In ihrem jüngsten Buch erinnerte Professorin Halina Taborska daran, dass § 175, der seit Mai 1871 im deutschen Strafgesetzbuch enthalten war, in der DDR bis 1967 und in der BRD bis 1969 in Kraft blieb.1

Ich selbst habe die Häftlinge mit dem rosa Winkel von meiner (relativ kurzen) Gefangenschaft in Auschwitz-Birkenau nur in bruchstückhafter Erinnerung. Mit Scham muss ich zugeben, dass es eine – so würde ich es nennen – widerwillige, sogar verhöhnende Erinnerung ist. Es ist natürlich meine Schuld, es ist unsere – so wie aller damals so Denkenden – Schuld. Das waren wir, vorgeblich Freidenkende, Vernünftige, Aufgeklärte, die unsere Denksysteme gedankenlos von den (all-)gemeinen Stereotypen deformieren ließen, die von den Nationalsozialisten verstärkt wurden. Wir waren es, wir, die politischen Gefangenen, Juden usw., die im Lager gegenüber den Gefangenen mit grünen Winkeln (den sogenannten „Kriminellen“) und etwas weniger – aber auch – denen mit rosa Winkeln voreingenommen waren. Vielleicht greife ich unbewusst nach Argumenten, um mich selbst zu rechtfertigen, aber einen gewissen Einfluss auf diesen damaligen Bewusstseinszustand hatte auch die Tatsache, dass Gefangene, die selbst zu Folterern wurden, ich meine die sogenannten Funktionshäftlinge (Blockältester, Schreiber, Kapo), sehr oft Gebrauch von homosexuellen Diensten machten und diese sogar erzwangen, von sogenannten Pipeln.

„Totgeschlagen. Totgeschwiegen“ – das ist Teil der Inschrift auf dem meines Wissens ersten öffentlichen Zeichen der Erinnerung an Homosexuelle, das erst 1984 in der Gedenkstätte des KL Mauthausen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Denn es war ein Doppeltod: ein physischer Tod und ein Tod durch Auslöschen der Erinnerung der nächsten Generationen. Leider ist der Bann des doppelten Todes noch immer nicht Geschichte. Immer noch belastet er die Atmosphäre des gesellschaftlichen Zusammenlebens vieler Länder. Auch meines.

Ich schäme mich dessen, dass in meinem Land Menschen, die aufgrund ihrer Funktion die geistige Führung beanspruchen, von einigen Kanzeln aus Anti-LGBT-Argumente verwenden, um das konservative gesellschaftliche Denken zu erhalten. Früher oder später werden sie sich in den Rollen derjenigen ihrer Vorgänger wiederfinden, die die Lehren von Kopernikus und Galilei zu verbergen suchten.

Früher oder später – für die Geschichte hat das keine größere Bedeutung. Aber für die Menschen, die vom Bann betroffen sind, bedeutet später die Verlängerung ihres Schmerzes, die Verlängerung der Zeit ihres Entbehrens der Bürgerrechte, ein während ihres Lebens nicht endender Prozess, sie der Menschenwürde zu berauben.

Wir dürfen nicht schweigen! Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Mitmenschen weiterhin totgeschwiegen werden. Schweigen ist ein Diener der Gewalt!

Aus dem Polnischen2


1 Taborska, Halina: Sztuka w miejscach śmierci. Europejskie pomniki ofiar hitleryzmu (Kunst an den Orten des Todes. Europäische Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus), Krakau 2019.

2 Wir danken dem Übersetzer aus dem Polnischen und achten seinen Wunsch, nicht namentlich genannt zu werden.

Zum Geleit II: Historiker*innen aus Polen und Deutschland

Prof. em. Dr. Marcin Kula

(Jg. 1942, Historiker, früher am Institut für Geschichte der Universität von Warschau, seit der Emeritierung Mitarbeit an der Aleksander Zelwerowicz Akademie der dramatischen Künste, Warschau)

Obwohl es bereits viel wissenschaftliche Forschung gibt, selbst in Bereichen, die lange verborgen schienen oder bewusst verschwiegen wurden im Kontext der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa, sind wir noch immer weit entfernt von einem auch nur annähernd vollständigen Wissen. Es sollte Teil der Forschungen dieses neuen Jahrtausends sein, uns jenen Aspekten sorgfältig und wahrhaftig zuzuwenden, die übersehen wurden, wie auch der Frage, warum sie übersehen wurden. Zweifellos wurde das Leiden von Homosexuellen in deutschen Konzentrationslagern, auch in Auschwitz, lange nicht nur ignoriert, sondern bewusst verleugnet, weil es nicht in das Selbstverständnis vieler Nationen, nicht nur Deutschlands, nach 1945 passte. Es ist an der Zeit, dass gründliche Kenntnis über diese Verfolgtengruppe Teil unserer Erinnerungskulturen wird.

Aus dem Englischen von Lutz van Dijk

Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum

(Jg. 1962, Historikerin, 2001–2011 Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, seit 2011 Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin)

Bis heute ist die Erinnerung an die Opfer deutschen Mordens nicht wirklich universell, sondern mal mehr, mal weniger explizit immer Teil von politischen, nationalen, religiösen oder anderen identitären Projekten. Wenn nun in diesem Buch an die Geschichte von lesbischen Frauen und schwulen Männern erinnert wird, die in Auschwitz inhaftiert waren, in Monowitz Zwangsarbeit leisteten oder in Birkenau ermordet wurden, so soll damit nicht lediglich ein weiterer partikularer Gedächtnis-Baustein eingefügt, sondern vielmehr auf die sehr konkreten, spezifischen Situationen verwiesen werden, denen jene Menschen ausgesetzt waren, die gleichgeschlechtlich liebten. Zugleich wird dabei auch deutlich, dass die Ablehnung abweichender Sexual- und Geschlechterrollen zum Kern des faschistischen Weltbildes gehörten und bis heute gehören: Umso dringlicher ist dieses Buch!

„Jeder Mensch zählt“

Warum ein Erinnern an sexuelle Minderheiten in Auschwitz immer wichtig bleiben wird

Einleitung der Herausgeber*innen Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska und Lutz van Dijk

Aus dem Englischen von Lutz van Dijk

Nach Covid-19

Als wir mit der Herausgeberschaft an diesem Buch 2019 begannen, war die Krankheit Covid-19 unbekannt. Als wir uns der Manuskriptabgabe beim Verlag im April 2020 näherten, gab es kaum noch andere internationale Nachrichten als jene zum neuen Corona-Virus und seine verheerenden Auswirkungen auf die Mehrheit der Weltbevölkerung. Regierungen ringen weiter darum, das Virus unter Kontrolle zu bringen, selbst mit ungekannten Einschränkungen von Menschenrechten wie Bewegungsfreiheit und Wahl sozialer Kontakte.

Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren, internationale Märkte sind weggebrochen. Wie viele Menschen ihr Leben oder das Nahestehender verloren haben, wenn diese Pandemie einmal beendet ist, wagen selbst Expert*innen bisher nicht zu sagen.

Am 27. Januar 2020 wurde weltweit und auch im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau selbst an die Befreiung des Konzentrationslagers vor 75 Jahren 1945 erinnert. Die meisten Redner*innen machten darauf aufmerksam, dass dies wohl die letzte große Gedenkfeier sei, bei der es möglich ist, Überlebenden zuzuhören. Einer von ihnen war Marian Turski (Jg. 1926), der in seiner bewegenden Rede gemahnte, „niemals gleichgültig zu sein, wenn Minderheiten diskriminiert werden“. Wir danken ihm und ebenso der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejerano (Jg. 1924) für ihre ermutigenden Geleitworte zu diesem Buch.

Über dieses Buch

Wohl zum ersten Mal haben Historiker*innen aus Polen und Deutschland auf so intensive Weise und mit dem Ziel eines gemeinsamen Buches zu diesem Thema kooperiert, das von manchen noch immer als „kontrovers“ angesehen wird.

Es gäbe viel zu sagen zu Aufbau und Inhalt des Buches, das in ständigem polnisch-deutschen Dialog nicht nur zwischen uns Herausgeber*innen und den Autor*innen entstand, sondern auch mit zahlreichen Kolleg*innen aus anderen Ländern. Ohne Frage gibt es Bedarf an weiterer Forschung, aber ein erster Schritt in eine gute Richtung ist getan.

Statt jedes Kapitel und alle Autor*innen im Einzelnen vorzustellen (hier verweisen wir auf das Inhaltsverzeichnis zu Beginn und die Autor*innen-Übersicht am Ende), möchten wir hier unsere professionellen Entscheidungen zusammenfassen, die uns bei der Zusammenstellung des Buches geleitet haben.

Zahlen: Jeder Mensch zählt

Es stimmt, dass es relativ wenige Häftlinge mit dem rosa Winkel in Auschwitz gab, verglichen mit anderen Gruppen wie Juden, Polen oder Roma und Sinti, selbst im Vergleich auch mit anderen Konzentrationslagern (wie zum Beispiel dem KZ Sachsenhausen mit mehr als 1.100 § 175-Häftlingen). Während jüdische Menschen und Angehörige der Roma und Sinti nach der Nazi-Ideologie systematisch „vernichtet“ werden sollten, ging es bei Homosexuellen eher darum, sie hart zu bestrafen mit dem Ziel der „Umerziehung“. Auch wenn viele Homosexuelle, die einmal erfasst waren, oft Schlimmstes erleiden mussten und Gefangene mit dem rosa Winkel meist am Ende der Hierarchie selbst in den KZs standen, gab es niemals einen „Gay Holocaust“. Es sind deshalb nicht die totalen Zahlen, die uns anleiteten, sondern die Notwendigkeit zu verstehen, warum die Nazis so viel Aufwand investierten, um Homosexuelle zu verhaften und zu quälen. Und nicht zuletzt: Jeder zu Unrecht verfolgte Mensch hat ein Recht darauf, anerkannt und erinnert zu werden.

Nationalitäten: Polen und Deutsche

Wir stimmen nicht mit jenen Historiker*innen überein, die das Leid homosexueller Häftlinge im Zweiten Weltkrieg lange ignorierten, einige in Polen vor allem mit einer ablehnenden Haltung deshalb, weil die meisten § 175-Häftlinge in Konzentrationslagern deutsche Staatsangehörige waren. Auch Polen wurden während der Besatzung nach § 175 verurteilt, nicht nur, weil sie sexuelle Partner von Deutschen waren. Auch homosexuelle Beziehungen zwischen Polen wurden bestraft. Die meisten kamen in Gefängnisse, manche auch in Zuchthäuser und am Ende in Konzentrationslager.

In Teilen Polens vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Verständnis der eigenen Nationalität durch neue Grenzen oder die Selbstdefinition der Menschen. Einige wurden deutsch, andere polnisch.

Die Verfolgung sexueller Minderheiten endete weder in Polen noch in Deutschland mit dem Jahr 1945.

Geschlechter-Identitäten: Lesben und Schwule

Offiziell wurden nur Männer gemäß dem § 175 verurteilt. Lesbische Frauen, Transsexuelle und andere sexuelle und geschlechtliche Minderheiten wurden nach anderen Gesetzen als „Asoziale“ oder „Kriminelle“ belangt. Wir lassen unsere Forschung nicht weiter leiten von heteronormativen Nazi-Definitionen. Es gab auch homosexuelle Frauen und Männer in Konzentrationslagern, die als jüdisch deportiert waren, aber doch war Homosexualität Teil ihrer Identität. Was erst in jüngster Zeit eine „queere Geschichte des Holocaust“ genannt wird, erlaubt einen (wie wir meinen: menschlicheren) und nicht-heteronormativen Ansatz, um differenzierter zu verstehen, was damals geschah. Und was nicht nur wieder geschehen könnte, sondern in vielen Ländern heute schlimmste Realität ist: In mehr als 70 Ländern gibt es Haftstrafen für homosexuelle Männer (davon in 44 Ländern auch für Frauen), in 13 Ländern sogar die Todesstrafe. Heute – und jeden Tag. In unserer Gegenwart.

Wahrhaftigkeit: Eine Wirklichkeit voller Wider­sprüche

Schon immer gab es die Versuchung unter Historiker*innen, aber auch in allgemeiner Öffentlichkeit, mehr Einfühlung jenen Gruppen gegenüber zu zeigen, denen man/frau selbst nahe steht – und sie bevorzugt als Held*innen oder auch Opfer zu sehen. Wir betrachten es als unsere professionelle Verpflichtung, die Wirklichkeit unvoreingenommen darzustellen, auch und gerade, wenn sie voller Widersprüche sein mag. Wir wissen inzwischen, dass es zumindest einen homosexuellen Gefangenen in Auschwitz gab, der andere in seiner Funktion als „Kapo“ folterte. Vielleicht gab es mehr. Ebenso falsch wäre es, Homosexualität als generell gute oder schlechte Eigenschaft eines Menschen zu werten: Die sexuelle Orientierung ist als Teil unserer Persönlichkeit angeboren und keine freie Entscheidung.

Auschwitz: Ein besonderer historischer Ort

Es gibt fraglos noch viele andere Orte, an die erinnert werden muss, um daraus für eine bessere Zukunft zu lernen, einige sogar, die es erst noch zu entdecken gilt. Was Auschwitz jedoch zu einem so einmaligen Ort des Erinnerns macht, ist nicht allein die große Zahl jährlicher Besucher*innen (vor Coronazeiten mehr als zwei Millionen, davon die Mehrheit Schulklassen), sondern weil es ein international bekanntes Symbol dafür ist, was Menschen anderen Menschen antun können in so einem furchtbaren, gleichsam fabrikmäßigen Ausmaß. Während die meisten Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager in Deutschland und Österreich heute (oft auch erst nach jahrelangen Widerständen) an das Leid homosexueller Opfer erinnern, gibt es dazu im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau noch immer nichts, zumindest nicht öffentlich zugänglich für Besucher*innen. Mit der Publikation des vorliegenden Buches können bestimmte historische Fakten nicht mehr ignoriert oder gar geleugnet werden. Es ist unerträglich, dass seit 2019 mehr als ein Drittel Polens zu sogenannten „LGBT-freien Zonen“ erklärt und damit einige ihrer Bürger*innen wesentlicher Existenzrechte beraubt wurden.

Achtung: Gegenüber allen Minderheiten

Es geschah (und geschieht) tatsächlich immer wieder in der Geschichte, dass Minderheiten gegeneinander aufgebracht wurden. Dies wiederholte sich in den meisten Konzentrationslagern, wo immer wieder berichtet wurde, dass Angehörige sexueller Minderheiten als am „niedrigsten“ angesehen (und auch oft von vielen Mitgefangenen so behandelt) wurden. Unsere gesamte Forschung basiert demgegenüber auf bestmöglicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung früher (oder noch immer) verfolgter Minderheiten. Die Zeit ist gekommen zu erkennen, dass ein Erinnern an nicht-heteronormative Opfer in Auschwitz heute von Vorteil für alle Teile der Gesellschaft ist – nicht nur in Polen und Deutschland.

Teil I: Grundlagen und Umfelder

„Es machte keinen Unterschied“

Warum das Schicksal Homosexueller in Auschwitz erst mit Verspätung erforscht wird

Michael Berenbaum

Aus dem Englischen von Lutz van Dijk

Während der Einweihungsfeier des Forschungsinstituts (heute das Zentrum für Holocaust-Studien) am United States Holocaust Memorial Museum wurde 1993 der damalige leitende Historiker der Gedenkstätte Auschwitz, Franciszek Piper, während seines Vortrags3 durch einen empörten Zwischenruf unterbrochen. Ein schwuler Aktivist rief: „Warum reden Sie nicht auch von schwulen Opfern?“

Irritiert durch die Unterbrechung sowie verzögert durch die Übersetzung und das wohl unbekannte Wort „schwul“, antwortete Piper, dass Homosexuelle nicht als Homosexuelle in Auschwitz inhaftiert waren – zur weiteren Bestürzung des Aktivisten. Was er meinte, war, dass homosexuelle Gefangene zuerst in Konzentrationslagern in Deutschland inhaftiert waren, wozu seit 1938 auch Österreich gehörte.

Ein Wort zur Begriffsklärung: Wenn ich von der Nazi-Verfolgung homosexueller Männer spreche – es gab keine systematische Verfolgung von Lesben –, benutze ich das Wort „homosexuell“. Die Bedeutung von „schwul“ (oder „gay“ im Englischen, Anm. d. Ü.) beinhaltet heute eine soziale Anerkennung, die es sicher nicht gab in Nazi-Deutschland seit der „Nacht der langen Messer“ im Juni 1934 mit der Ermordung von Ernst Röhm, dem ehemals nahen Vertrauten Hitlers und homosexuellen SA-Führer. Homosexualität wurde von den Nazis als Schande in Deutschland angesehen, in den slawischen Völkern wurde es als Teil ihrer Degeneration bewertet.

Auschwitz war nicht einer der Orte, den die Nazis zur Inhaftierung Homosexueller gewählt hatten. Dieses Konzentrationslager wurde erst 1940 eröffnet, und viele Verhaftungen geschahen bereits in den Jahren ab 1934. Eindeutig gab es auch homosexuelle Häftlinge in Auschwitz, und Überlebende berichteten von der besonderen Brutalität, die sie erlitten. Eine nicht unerhebliche Zahl jedoch diente auch als Kapos (oder Funktionshäftlinge), und es gibt auch Berichte über den sexuellen Missbrauch junger Mitgefangener.

Gleichwohl richteten sich die meisten Nazi-Anstrengungen zur Inhaftierung Homosexueller auf die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und Mauthausen. Über viele Jahre gab es nur wenige Informationen über homosexuelle Opfer der Nazis, weil der deutsche § 175 Bestandteil der Gesetzgebung bis 1969 blieb, mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende. Homosexuelle Verfolgte zögerten, ihre Geschichten zu erzählen, und Forscher mussten besonders engagiert sein, um wenigstens einige Basisinformationen herauszufinden.

Generell blieben Sexualität und im Besonderen sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch während des Holocaust für eine beträchtliche Zeit ein Tabu. Viele Überlebende empfanden Schuld wegen ihres Überlebens, wenn sie gefragt wurden: „Wie hast du überlebt?“, da diese Frage auch wie eine Anklage klingen konnte. Für Männer konnte es sich anhören wie: „Wen hast du betrogen?“ – für Frauen wie: „Wem hast du deinen Körper gegeben?“ Viele zogen es deshalb vor zu schweigen.

Es gab auch andere schlichte Gründe dafür, das Thema zu vermeiden: Sexuelle Beziehungen zwischen „Ariern“ und Juden waren verboten, weswegen davon ausgegangen wurde, dass es sie auch nicht gab. In vielen Lagern, besonders in Auschwitz, herrschte schlimme Unterernährung. Viele Frauen hatten keine Menstruation mehr, die Libido von weiblichen wie männlichen Gefangen war stark reduziert. Wenn es Träume gab, waren sie nicht erotischer Natur, sondern richteten sich auf Nahrung zum Überleben.

Erste Risse in dieser Mauer des Schweigens entstanden erst durch wenige Erinnerungen und Romane. Literatur eröffnete zuweilen leichter Zugang, um die Grenzen der offiziellen Holocaust-Darstellung zu erweitern. Yehiel Dinur (auch: De-Nur, 1909–2001) veröffentlichte unter dem Pseudonym Ka-Tzetnik (Spitzname für KZ-Häftling) 1953 den Roman Haus der Puppen (München 1995, House of Dolls) über junge jüdische Frauen, die als Sexsklavinnen im KZ missbraucht wurden. Dies war ihm besonders nahe, da seine jüngere Schwester diesem Missbrauch zum Opfer fiel und das Lager nicht überlebte.

Gisella Pearl (1907–1988), die als jüdische Ärztin inhaftiert war, schreibt in ihren Erinnerungen „Ich war Arzt in Auschwitz“ (1948) deutlich über sexuelle Gewalt an jungen Frauen, jedoch ohne jede moralische Verurteilung der Opfer. In dem US-amerikanischen Film Der Pfandleiher (The Pawnbroker, 1964) erinnert sich Sol Nazermann (gespielt von Rod Steiger) an den sexuellen Missbrauch seiner Frau.

Als in den 1970er und frühen 1980er Jahren die ersten Forscherinnen im Kontext von Frauen- und (noch etwas später) Genderstudien nachzufragen begannen, wurde ihnen zumeist abweisend begegnet. Traditionelle Holocaust-Forscher argumentierten, dass jüdische Frauen zuerst als Jüdinnen ermordet worden waren und nicht als Frauen. Eine Sorge war dabei auch, dass diese neuen Fragen ablenken würden vom Jüdischsein der ermordeten Frauen.

Im Laufe der Zeit jedoch gab es eine indirekte, aber wesentliche Annäherung im Verstehen, dass einerseits die Forschungen der Frauen- und Genderstudien hilfreich waren, um weitere Aspekte des Holocaust zu begreifen, aber zuweilen eben auch missbraucht wurden, wenn sie bewusst die Komplexität des Holocaust zu vereinfachen suchten. Als Ergebnis erschienen zahlreiche neue Studien, die ihre Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen und ihr spezielles Leiden im Holocaust richteten.

Es ist heute allgemein anerkannt, dass mehr jüdische Frauen im Holocaust ermordet wurden als Männer. Als noch nicht deutlich war, dass die Nazis auch Frauen und Kinder verfolgten, ließen Männer zuweilen ihre Frauen und Kinder zurück, um selbst fliehen zu können. Sexueller Missbrauch von jüdischen Frauen geschah häufiger, in KZs sogar nach bestimmten Regeln, obwohl offiziell sexuelle Kontakte zwischen „Ariern“ und Juden verboten waren. Wenn sie in nahe Wälder flohen, konnten Männer sich zuweilen dem Widerstand anschließen. Frauen und Kinder waren hier nicht willkommen. Falls ihnen doch die Flucht gelang, wurde häufig erwartet, dass sie den kämpfenden Männern zu dienen hatten. Es wurde ihnen auch geraten, einen Beschützer zu finden, um nicht vergewaltigt zu werden.

Bei der Ankunft an den Todesrampen von Auschwitz-Birkenau wurden Kinder und Frauen, insbesondere schwangere Frauen, als Erste selektiert und „ins Gas“ zur Ermordung geschickt. Junge Männer dagegen wurden zuerst zur Arbeit verpflichtet und konnten so zumindest etwas länger überleben.

Im Widerstand gab man Frauen oft den gefährlichen Auftrag für Kurierdienste, denn bei Männern, die ergriffen wurden, konnte aufgrund der Beschneidung sofort ihre jüdische Identität erkannt werden. Oft sprachen jüdische junge Frauen auch die Landesprache besser und ohne Akzent. Ihre Brüder hatten dagegen oft die Yeshiva (eine jüdisch-religiöse Schule, Anm. d. Ü.) besucht.

Wenn es also schon Tabus gab, den sexuellen Missbrauch von Frauen während des Holocaust anzusprechen, so waren die Tabus gegenüber Homosexualität und Holocaust noch viel stärker.

Als wir das United States Holocaust Memorial Museum vor mehr als drei Jahrzehnten konzipierten, gab es eine Debatte im damaligen Vorstand, wer genau zu den Opfern des Holocaust zu zählen sei: Sollte es allein um die Juden als Opfer der Vernichtung gehen, oder sollten auch andere verfolgte Gruppen thematisiert werden?

Einige wurden zu Opfern durch das, was sie taten: Gewerkschafter, politisch Oppositionelle, Sozialdemokraten. Einige durch das, was sie sich zu tun weigerten: Zeugen Jehovas verweigerten den Wehrdienst, und der Gruß „Heil Hitler!“ kam ihnen niemals über die Lippen.

Andere wurden zu Opfern durch das, was sie waren: Roma und Sinti, behinderte Deutsche, die als „Last“ für die „Herrenrasse“ betrachtet wurden, und homosexuelle deutsche Männer, die dem Macho-Ideal des Nazi- Supermannes widersprachen.

Diejenigen, die dafür stimmten, dass allein die jüdischen Opfer Thema sein sollten, waren besorgt, dass die Einbeziehung weiterer Opfergruppen vom eigentlichen Thema des Holocaust ablenken würde – der systematischen und staatlich geförderten Vernichtung eines gesamten Volkes, aller Kinder, Frauen und Männer, allein weil sie „jüdisches Blut“ in sich hatten. Außerdem fürchteten sie, dass Vergleiche mit anderen Opfern zu einer Einebnung und Ablenkung vom wahren Verständnis gegenüber den Hauptopfern und damit der Einmaligkeit dieser „jüdischen Erfahrung“ führen könne.

Wir führten dann als Vorstand des United States Holocaust Memorial Museum eine internationale Tagung durch, die ich leitete und deren Thema lautete: Ein Mosaik von Opfern: Nicht-Juden, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Dabei entwickelte sich ein Konsens, nach dem eine Darstellung des Holocaust als einmalige „jüdische Erfahrung“ gerade die Einbeziehung auch anderer Opfergruppen beinhalten musste. Drei Beispiele hierzu:

Es ist nicht möglich, die Mordmethode des Vergasens darzustellen, ohne deren Ursprung im T-4 Vergasungsprogramm zu benennen, das schließlich auch zur Ermordung behinderter Deutscher in sechs Mordzentren führte. Die Mitarbeiter des T-4 Programmes im Rahmen der „Aktion Reinhard“ waren die ersten Angestellten oder Beamten, die am Ende Millionen Juden vergasten.

Ähnlich argumentierte ich an anderer Stelle, dass Zeugen Jehovas Märtyrer waren. Wenn sie ihren Glauben verleugnet und schlicht ein entsprechendes Dokument unterschrieben hätten, wären sie aus dem KZ gekommen. Juden dagegen waren zuerst Opfer. Selbst diejenigen, deren Großeltern zum christlichen Glauben übergetreten waren, wurden ermordet, da sie angeblich noch immer „jüdisches Blut“ in sich hatten.

Die Nazi-Ideologie gegenüber Homosexuellen war uneindeutiger: einerseits „Umerziehung“ (ähnlich heutigen „Konversionstherapien“), andererseits harte Strafen. Gegenüber den Juden ging es um Mord und systematische Vernichtung. Gegenüber Homosexuellen war es nicht systematischer Mord, obwohl viele an den Bedingungen im Lager starben, sondern Haft, Bestrafung und „Umerziehung“.

Damals waren auch kulturelle Normen noch stärker vorherrschend, die zu einem Zögern bei einigen im Vorstand führten, auch homosexuelle Opfer des Holocaust darzustellen, eben weil es wenig Wissen und noch weniger Einfühlung in diese Opfergruppe gab. Indem die Akzeptanz homosexueller Frauen und Männer sowohl in den USA als auch in anderen Ländern allmählich zunahm, wuchs auch die Bereitschaft, den homosexuellen Opfern der Nazis Raum zu geben. Auch mehr und mehr selbstbewusste Aktionen der „Gay Community“, und damit auch politischer Druck, führten häufiger zu konkreter Bereitschaft. Es wurde zu einer Notwendigkeit. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ist mit Dr. Klaus Müller (heute von Berlin aus) ein Spezialist zur Verfolgung Homosexueller ein Mitarbeiter unseres Museums in Washington.

Trotz allem ist der inzwischen zeitlich große Abstand leider eine unübersehbare Erschwernis bei jeder gründlichen Forschung zu Homosexuellen in Auschwitz, da sowohl Überlebende als auch Täter fast alle verstorben sind und damit auch die Möglichkeit, sie direkt befragen zu können. Während die meisten Überlebenden damals zwischen 18 und 40 Jahre alt waren und alle Täter auch mindestens 18 Jahre, wäre der jüngste Täter heute 93. Außerdem standen Fragen nach der Situation von Homosexuellen in Auschwitz und anderen Lagern bei früheren Interviews und auch Video-Aufnahmen wie zum Beispiel bei den Fortunoff-Archiven der Yale Universität aus den frühen 1980er Jahren oder der Shoah Foundation, aufgenommen zwischen 1994 und 2000, nicht im Vordergrund.4

Um ein differenziertes Bild zu bekommen, wären frühere Interviews und Erinnerungen aufmerksam durchzuschauen und Archive zu studieren, so dass allmählich doch noch einige Informationen zusammengetragen werden können.5

Zwei Erfahrungen aus jüngster Zeit lassen ein weiteres Problem erkennen: Joni Epstein interviewte kürzlich erneut Max Glauben (*1928 in Warschau, heute US-Bürger), der als Junge in Majdanek und anderen KZs war. Seit vielen Jahren erzählt Max Glauben seine Geschichte, so im US Holocaust Memorial Museum,6 im Dallas Holocaust und Human Rights Museum und neuerdings auch als Hologramm-Aufnahme der Shoa Foundation. Insgesamt beantwortete er in all den Jahren Tausende von Fragen. Mehrfach sagte Max Glauben, dass er sicher sei, dass er damals vergewaltigt worden sei, aber egal, wie sehr er sich um Einzelheiten der Erinnerung bemühe – es gelänge ihm nicht. So sehr ist diese schlimme Erfahrung in seinem Unterbewusstsein unterdrückt.

Das zweite Beispiel ist ein neuer Film über Fredy Hirsch (1916–1944) mit dem Titel Dear Fredy7, ein deutsch-jüdischer Spitzensportler, der Deutschland im November 1935 Richtung Tschechoslowakei verließ, in Prag und Brno jüdischen Jugendgruppen Sportunterricht gab, bis er im November 1941 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er weiter jüdische Kinder und Jugendliche zu sportlichen Aktivitäten ermutigte. Im September 1943 wurde er mit den meisten Kindern nach Auschwitz ins dortige „Familienlager“ verschleppt, aber arbeitete auch dort unermüdlich, ja heldenhaft, um den Kindern schöne Momente im schlimmen KZ-Alltag, selbst in Auschwitz-Birkenau, zu verschaffen.

International wurde Fredy (Alfred) Hirsch zum ersten Mal bekannt durch den monumentalen Dokumentarfilm Shoah (1985) von Claude Lanzmann. Der Auschwitz-Überlebende Rudolf Vrba (1924–2006) beschreibt darin, wie er versucht hatte, Fredy für den Widerstand zu gewinnen und einen geplanten Aufstand zu leiten. Fredy hätte sich (nach Rudolf Vrbas Aussage) jedoch dafür entschieden, sich selbst zu töten, statt entweder die Kinder in die Gaskammern zu leiten oder sie im Stich zu lassen, um einen Aufstand anzuführen. Dieses Interview war zu Beginn der 1980er Jahre aufgenommen, und mit keinem Wort wurde erwähnt, dass allgemein bekannt war, dass Fredy schwul war. Der Film Dear Fredy dagegen berichtet von seinem offenen Leben mit seinem Partner in der Tschechoslowakei, ebenso wie in Theresienstadt und Birkenau. Wiederholt sagen Zeitzeugen in dem Film: „Jeder wusste, dass er schwul war, aber das machte keinen Unterschied.“ Das sagten auch Zeugen, die heute in Israel leben.

Gleichwohl wurden indirekt Andeutungen gemacht, nach denen es auch mehrere Schwule im Untergrund in Birkenau gab, möglicherweise sogar Nazi-Bewacher, die Fredy Hirsch über lange Zeit mit Respekt behandelten und Zugeständnisse für seine Kinder machten, auch wenn er sie im März 1944 nicht retten konnte. Mehr Forschung wäre hier dringend geboten und könnte unter Umständen anderes zu Tage fördern als die so oft wiederholte Geschichte der homosexuellen Kapos und der ihnen zu Diensten stehenden „Jungs“.8

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die gewachsene Akzeptanz von Homosexuellen und mehr Selbstachtung sowie Interesse innerhalb der „Gay Community“, selbst die eigene Geschichte vorurteilslos aufzuarbeiten, auch zu mehr Fokus auf das Schicksal der Homosexuellen in der NS-Zeit – und im Besonderen auch in Auschwitz – führen wird. Leider geschieht dies erst jetzt. Die Forschungsaufgabe, so wertvoll sie ist, wird dadurch zusätzlich erschwert.


3 Der Vortrag lautete „Das Konzentrationslager Auschwitz als Teil des Nazi-Systems von Terror und Völkermord sowie der Wirtschaft im Dritten Reich“.

4 Eine Ausnahme ist das 1995 von Klaus Müller aufgenommene Video-Interview des homosexuellen Überlebenden Teofil (Stefan) Kosinski (1925–2005) im US Holocaust Memorial Museum in Washington: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn504848. Siehe auch die Erinnerungen von Teofil Kosinski (zuerst noch als „Stefan K.“) in dem Buch von Lutz van Dijk auf Deutsch (Verdammt starke Liebe, 1991), den USA (Damned Strong Love, New York 1995) und zuletzt auch in Polen (Cholernie mocna miłość, Krakow 2017).

5 Siehe auch den Beitrag in dieser Richtung von Rainer Hoffschildt am Ende dieses Buches mit biografischen Informationen zu 136 in Auschwitz nach § 175 Inhaftierten.

6 Siehe das Video-Interview mit Max Glauben im US Holocaust Memorial Museum von 1985: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn506598

7 Dokumentarfilm „Lieber Fredy“ („Dear Fredy“, Hebräisch mit englischen Untertiteln, 74 min.) von Rubi Gat, Israel 2017.

8 Vergleiche auch den Beitrag von Lutz van Dijk zu Fredy Hirsch in diesem Buch.