Die neue Einsamkeit

Über Diana Kinnert & Marc Bielefeld

© Gene Glover/Agentur Focus

Diana Kinnert, geboren 1991, ist eine deutsche Politikerin, selbstständige Unternehmerin sowie Beraterin und Publizistin. Sie beriet die britische Regierung bei der Einrichtung eines Ministeriums für den Kampf gegen die Einsamkeit. Außerdem ist sie Mitglied in der Bundeskommission zum Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt und berät neben diversen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen auch mehrere Landesregierungen zum Thema Vereinzelung. 2017 erschien ihr Bestseller Für die Zukunft seh’ ich schwarz.

 

Marc Bielefeld, geboren 1966 in Genf, ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er hat zahlreiche Artikel, Reportagen und Bücher geschrieben (darunter Wer Meer hat, braucht weniger), sowie als Co-Autor Ungebremst leben mit Heidi Hetzer oder den Krebs-Kompass mit Verena und Achim Sam.

Für jeden, der jemanden vermisst;
manchmal sich selbst.

Dinner for One

Shalom! Herzlich, laut und überdeutlich. So begrüßt, schreite ich durch die Tür, und es reicht, um in einer Welt anzukommen, in der alles geht, in der alle dürfen und nach der jeder lechzt. Goldene Kordeln fallen ins Gesicht, die gestaute Feuchtigkeit des Innenraums trägt beinahe wieder hinaus, volle Lippen haften für Augenblicke an den Wangen. Kuss hier, Kuss da. Das Essen dampft, die Gläser klirren, der Alkohol fließt. Begrüßungsformeln auf Französisch, Portugiesisch, Hebräisch, Englisch, Deutsch.

Yafo. Endlich wieder ins Yafo.

Wir schreiben die Zeit vor der Pandemie, es ist ein lauer Sommerabend in Berlin-Mitte. Eben bin ich noch durch die Torstraße gewandelt, jene historisch wechselvolle Hauptverkehrsvene im Look der Reichshauptstadt, heute neumodern belegt durch Boutiquen, gefüllt mit kalifornischer Mode, skandinavischem Mobiliar, hochpreisigen Comicheften aus vergangenen Jahrzehnten. Ich bog in eine Seitengasse, da liegt also das Yafo, ein auf den ersten Blick unauffällig anmutendes israelisches Lokal. Die Betreiberin Shani Ahiel, Israelin mit jemenitischen Wurzeln, ein kurz geratenes Energiebündel mit gelockter, schwarzer Mähne, wollte es so. Interieur aus durchmischten Holzarten. Gebrauchte Kinosessel überzogen mit bordeauxrotem Samt. Ein Ensemble antiker Spiegel verdoppelt die Gäste, Rahmen und Leuchter kleben an den Wänden, unter der Decke; Phantasien alter Jahrmärkte. Aus den Lautsprechern tönen die Stimmen selbstbewusster Jüdinnen aus den siebziger Jahren. Ihre Schallplattencover schweben an den Betonwänden.

»Ma nishma?«, fragt Yehonathan. »Wie geht es Dir?« Sein Wangenkuss hinterlässt Lippenstiftspuren auf meinem Gesicht. Der kahl geschorene Schädel glänzt, die gefärbten Augenbrauen sind hochgezogen. Yehonathan trägt Absatzschuhe, ist mit allerhand Klimbim behangen. Seine Finger sind mit Insekten und Reptilien tätowiert, als würde er dort den Katalog eines Naturkundemuseums abbilden wollen. Ein durchgezogenes Projekt zur Eheschließung, wie Yehonathan und sein Ehemann auf Nachfrage erklären. Yehonathan, insgesamt eine mystische Erscheinung. Verspielt, selbstbewusst, androgyn, elegant. Ein Überlebenskämpfer und Lebenskünstler aus den strengen jüdisch-orthodoxen Tiefen Jerusalems, angekommen in einer der wildesten Metropolen der Welt, einem Kessel aus düsterer Technokultur, sexueller Freizügigkeit, urbaner Kunst; angekommen im Berlin des dritten Jahrtausends.

Yehonathan wird die Gäste des Yafo durch den kulinarischen Abend lenken. Hier und heute, Twenty Nineteen.

Wie geht es Dir? Angebotslos steht die Frage zwischen uns, ist sich über die Antwort längst im Klaren. Ich sage unernst: »Alles gut.« Yehonathan nickt zufrieden, wendet sich seinem Tablet zu. Er ist Gastgeber des Abends, nach deutschen Gastronomieregeln Rezeptionist und Chefbedienung in einer Person, im Yafo-Vokabular: Host of the night. »Table for eight?« Ich nicke, rufe etwas Bejahendes hinterher. Während Yehonathan Befehle ins Tablet tippt, blicke ich kurz über seine Schulter. Wer ist heute alles da? Welche Bedienungen haben Schicht, wer sitzt am Tresen? Ich kenne das Lokal gut. Der Ruf des Yafo: International und extrem populär. Das liegt ohne Zweifel an der unbemühten Grundstimmung hier: Enthemmt, leidenschaftlich, tropisch-exotisch, zwanglos.

Der Laden ist schon jetzt fast voll. An gewöhnlichen Wochentagen sind die Tische für den Abend bereits Tage im Voraus bis an die Kapazitätsgrenzen gebucht. Die Berlinerinnen und Berliner, ihre Freunde, ihre Gäste, sie stehen bis runter zur Torstraße. Denn sie wollen ja nicht nur schmausen. Sie wollen sich vermengen, wollen die anishaltigen Spirituosen, das queer-jüdische Kabarett und den orientalischen Tanz. Im Yafo fließt das alles zusammen, summiert sich auf magische Weise, potenziert sich. Ein losgelassener Schrei mitten in diesem Berlin, in diesen Zeiten.

Als Yehonathan das erste Mal seine neue Wahlheimat bereiste, war das erste deutsche Wort, das er lernte: Verboten. Immer wenn Shani, die Betreiberin, die Anekdote hört, kreischt sie wie ein Papagei hinterher: »Papiere, Papiere, Papiere!« Aber dann kommt ja meist schon die Musik, kommen die Gerüche, die ersten Gäste, kommt die Besänftigung. Und so fühlt es sich dann an, wenn alles geht und alle dürfen, wenn der Tanz kommt, die Musik, wenn Enge und Körperlichkeit zu den Antipoden spießbürgerlicher Leitkultur werden und die Normen der artigen Abstandswahrung unterlaufen.

Aber ach, wenn doch alles nur so einfach wäre und das Yafo womöglich das echte Menschenherz.

 

Es ist 19:12 Uhr. Yehonathan führt mich zu meiner Tafel. Wir sind heute zu acht. Ein Abend unter Freundinnen und Freunden, so ist es verabredet. Yehonathan entlässt mich, küsst mich noch einmal auf die Wange, schreitet sodann fort, um die nächsten Gäste in Empfang zu nehmen. Ich wende mich dem Tisch zu, an dem Isobel schon sitzt. Ihr gewelltes Haar ist hochgesteckt, die Schultern frei. Ich freue mich, sie zu sehen, kann sie es abends für gewöhnlich doch so gut wie nie einrichten.

Isobel tanzt. Tanzt professionell, jeden Abend. »Erwachsenenunterhaltung«, wie sie sagt. Ich rücke zu ihr auf, bereit zur pre-pandemischen Umarmung, doch ihr Blick haftet auf dem Smartphone. Es dauert, bis sie mich bemerkt in diesem Yafo-Nebel. »Diana!«, ruft sie. Dann schnellt sie hoch, im selben Zug finden die Finger gerade noch das Rotweinglas, ein hastiger, kleiner Schluck, wir umarmen uns, dann sagt Isobel: »Entschuldige, dass ich schon bestellt habe, aber ich muss ja gleich schon wieder los.« Die Arbeit ruft, die Nachtschicht. Isobel, die Tänzerin. Ich habe Verständnis, bin dankbar. Immerhin ein kurzer Moment an diesem Abend. »Wann kommen die anderen?«, fragt sie. »Müssten gleich da sein«, sage ich, mit Blick auf das Telefon. Sieben ist es ja längst.

Ich bestelle ein Glas Wein. Es wird immer lauter um mich herum. An den Nachbartischen sind die ersten Flaschen geleert, die stresserprobten Bedienungen beginnen sich zu konzentrieren. Die Temperatur steigt, immer mehr Gäste gehen für eine Zigarettenlänge vor die Tür. Isobel und ich unterhalten uns, sprechen über den Job. Der Tanz, die Politik. Die Kunden, die Strategien, die Aussichten. Dann: die Menschen, das Leben. Ich frage sie, nebenbei, Erwachsenenunterhaltung und Beziehungsglück, wie geht das zusammen? Sie spricht von Affären, Experimenten. Das größte Hindernis für eine stabile Beziehung, sagt sie, ist nicht die Eifersucht, es ist das fehlende Alltagserleben. Isobel nimmt einen Schluck, tippt an ihrem Glas herum. »Ich komme ja selten vor sieben Uhr nach Hause, ab fünf am Nachmittag geht das Geschminke wieder los.«

Das Wort Sehnsucht fällt nicht, es ist offenbar kein Bestandteil ihres Vokabulars. Als ich das Wort doch erwähne, nickt Isobel, sagt: »Ich muss dringend eine Kleinigkeit essen.«

Wir bestellen. Eine halbe Stunde ist vergangen. Wir sind zu zweit. Blick auf das Mobiltelefon. Leila fragt, ob das Abendessen eigentlich noch stattfindet. Franka informiert uns, dass sie später kommt, sie habe noch einen Arbeitstermin. Cassandra will wissen, wer eingeladen ist. Betül teilt ihren Standort, scheint auf dem Weg zu sein. Elisabeth kündigt an, sie sei gleich da, sie muss noch jemanden ins Bett bringen.

»Seit wann hat Elisabeth Kinder?«, fragt Isobel, als ich ihr von dem Kammerspiel erzähle. »Sie hat keine Kinder«, antworte ich, »Sie hat eine Fernbeziehung.« Isobel lacht auf. In Kathmandu ist es 23:15 Uhr. Der Gute-Nacht-Videochat mit der Freundin steht gerade an.

Im Yafo wird die Luft schwerer, beginnen die Fenster zu schwitzen. Eine junge Ägypterin im Bikini-Top kommt zu uns an den Tisch, serviert Lammfleischterrinen in Lehmformen, cremigen Hummus, auf dem ein über Feuer gegrillter Blumenkohl thront, geröstete Auberginenscheiben mit Sesampaste und Matbucha aus eingekochten Tomaten und Chilischoten. Darauf ein Klecks Joghurt mit Koriander. »Da komme ich ja genau richtig«, höre ich eine Stimme hinter uns, »gut, dass ihr schon bestellt habt.« Franka hat es vom späten Termin zu uns geschafft. Sie legt ihren hellen Mantel ab, desinfiziert sich die Hände. Franka, digitale Kommunikatorin in einer respektierten Agentur, ist eine durch und durch sterile Person. Ehrgeizig, organisiert, diszipliniert, sarkastisch.

Sie setzt sich. Wir sind jetzt zu dritt, bedienen uns von der Mitte der Tafel. Die Speisen im Yafo sind so gedacht: für alle, die an einem Tisch sitzen. So sehen es die israelische Esskultur und auch das Menü im Yafo vor. Sämtliche Speisen sind Gerichte zum Teilen. Isobel und ich brechen die in Backpapier gewickelten Brote, dippen damit in Pasten und Soßen. Franka winkt ab. Sie bestellt einen separaten Teller. Bevor sie zu essen beginnt, legt sie ihr Telefon neben ihrem Besteck ab. Nach einem Griff zur Handtasche landet ein Stapel Visitenkarten auf dem Tisch. Isobel schaut rüber. »Ich muss schnell noch ein paar Mails schreiben«, sagt Franka. Ein schnelles Follow-up auf die Veranstaltung und den Kampagnenstart eben. Die Ägypterin schwebt am Tisch vorbei. Alles in Ordnung, alles gut. Franka sagt: »Hochkarätige Kunden, gut für unser Netzwerk. Solche Mails erledige ich immer gleich, morgen kann ich die Namen und Gesichter den Gesprächen nicht mehr zuordnen.«

Isobel und Franka, die Tänzerin und die Vermarkterin. Kurz prallen zwei Welten aufeinander. Warum schreibt man Menschen, an die man sich am Morgen nicht mehr erinnert? Isobel schaut Franka an. Franka holt Luft. Ich bestelle noch eine Runde Getränke, Wein, eine Flasche Wasser. Isobel steht auf, sagt: »Ich muss los, zur Arbeit.« Franka versucht zu lächeln. »Ganz viel Spaß.«

Isobel, die Tänzerin, stapelt auf einmal Münztürme neben Visitenkarten. Kleingeld, das sich häuft. Kupfer, Aluminium, Zink und Zinn. Isobel macht das ganz ruhig und nimmt sich demonstrativ eine Minute Zeit. Dann wirft sie ihren hauchzarten Schal über die Schultern und schreitet von dannen. Franka ignoriert die Türme, tippt ihre Mails.

Wieder Blick auf das Telefon. Leila fragt, wann wir mit dem Essen beginnen. Ihre Nachrichten kommen in Blöcken, angedeuteten weißen Sprechblasen, manchmal liegen zwei Minuten zwischen den Nachrichten, manchmal fünf Sekunden. Ich habe auf stumm geschaltet. Die nächsten Zeilen von Leila lassen wissen: Ihr Mitbewohner hat gerade gekocht, außerdem vermutet sie, dass die Straßen draußen noch immer verstopft sind. Feierabendverkehr, alles rot. Leila sagt ab. Ein federleichtes Manöver.

Es ist nach 20 Uhr.

Ich nehme noch vom Hummus, betrachte das Brot. Franka ist noch bei ihren Karten, ich höre ihre Stimme nicht, als sie kurz etwas über den Tisch zu mir sagt, ohne mich anzuschauen. Leilas Absage verstimmt mich. Ich finde das unzuverlässig, ungehobelt, unkameradschaftlich. Für einen Moment flammt Ärger auf. Ich muss an ein Wort denken: Multioptionsattitüde. Es nervt.

Betül scheint immer noch auf dem Weg zu sein. Ich klicke ihren geteilten Standort an. Die App lokalisiert sie unweit des Yafo vor einer Weinbar um die Ecke. »Kommst du?«, schreibe ich. »Gleich«, blinkt es binnen Sekunden zurück: »Spontan alten Freund getroffen.« Lange werde ich meinen Unmut nicht mehr verbergen können. Eine Umarmung von hinten reißt mich aus den Gedanken. Shani strahlt mir entgegen, strahlt übers ganze Gesicht.

»Was ist mit deinem Tisch los?«, fragt sie.

»Kommen gleich«, sage ich.

»Dann stelle ich dich schnell zwei Freunden vor.«

Shani, die Betreiberin, zerrt mich von meinem Platz. Franka schaut kurz auf. Ich entschuldige mich, folge Shani.

An der Bar stehen zwei junge Männer in Unterhemden. »Schulfreunde aus Tel Aviv«, sagt Shani. Wir begrüßen uns, dann trinken wir eine Runde Schnaps. Was sie nach Berlin verschlagen habe, frage ich die beiden. »Abenteuer, Nachtclubs, Frauen«, sagt einer der zwei, der andere schmunzelt, sieht zu Boden. Die zwei beginnen, Zigaretten zu drehen, werfen sich hebräische Wortfetzen zu. Shani vermittelt mir derweil unauffällig, dass beide verheiratet sind. Sie rollt mit den Augen. Sie sagt drei Worte: Tinder, Bumble, OkCupid.

Als die beiden Männer zum Rauchen vor die Tür wollen, stolpern Cassandra und Betül rein. Wir gehen aufeinander zu, navigieren zwischen den Tischen hindurch, umarmen uns. »Elisabeth ist auch schon da, sie raucht draußen nur noch schnell eine.« Cassandra sagt das. Es ist 20:15 Uhr. Ich denke: Ephemerkultur, Regime der Leichtigkeit, Scheißdraufzeiten. Wir gehen zu unserem Tisch. Franka, von mir alleingelassen, isst inzwischen mit Gabel und Messer. Elisabeth stiebt jetzt in den Raum, segelt mitten durchs Lokal auf uns zu. Ein Abend unter Freunden, es ist zwanzig nach acht inmitten dieser Zeiten.

Shani bringt flambierte Aprikosen, Yehonathan wechselt die Musik. Balkanpop. Die beiden stoßen mit uns an. Elisabeth spricht von Kathmandu, liest aus ihrem letzten Chat vor. Betül recherchiert. Der alte Freund von der Weinbar scheint inzwischen in Berlin zu wohnen, vorzeigbare Karriere, Reisemarkierungen im Profil, Szeneprominenz im Freundeskreis. Franka hilft bei der Analyse auf Instagram, so nesteln sie an einem Psychogramm der Pixel, forschen nach der großen offenen Frage. Ob er könnte, wenn sie wollte, ob er würde, falls sie es wagt. Ich überlege: Konditionalherrschaft, Möglichkeitssucht. Der Algorithmus der Sehnsucht. Betül hatte gesagt, sie mochte ihn schon immer, nicht erst vorhin, an diesem heißen Berliner Abend.

Ich wende mich Cassandra zu. »Wie geht es den Zwillingen?«

»Schlafen nicht durch«, sagt die taufrische Mutter, stützt den Kopf ab. »Hilft nicht wirklich beim Promovieren.«

»Das wird schon«, sage ich, ohne zu wissen, wovon ich spreche.

»Nein, wird es nicht«, sagt Franka. Sie schaltet sich kurz ein, gerade als die Datteln gereicht werden, es folgt ein Impromptu über die Belastungen junger Familien, Franka rät zu devotem Partner und teurer Kinderbetreuung. Cassandra antwortet kaum hörbar. Betül schreit auf. Der alte Freund von der Weinbar will sie noch auf ein Getränk einladen. Drüben, nicht hier. Ihr Mobiltelefon blinkt kurz, dann ein zweites Mal. Es dauert nun noch eine Weile, die Musik im Yafo wird lauter, aber lange dauert es nicht. Der Aufgeregtheit in Betüls Augen ist nichts entgegenzusetzen. »Ich hab sowieso schon gegessen«, sagt sie. Und wie sie das sagt. Leicht, federleicht. Sie nimmt einen weiteren Schluck Wein, während stolpernden Takts die Displays unserer Telefone auf dem Tisch aufleuchten. Dann entlässt die Gruppe Betül. Sie nimmt ihre Tasche, ihre dünne Jacke, geht durch die Tür, weg ist sie.

Die zwei verheirateten Israelis steuern durchs Lokal, treten an unseren Tisch. Ihre Frage ist international, gehoben. »May we sit with you?« Nun, es ist mehr Ankündigung als Frage. Sie stellen sich meinen Freundinnen vor, reihum. Auf Elisabeth scheinen sie ein Auge geworfen zu haben. Diese geht bald nach draußen, sie müsse telefonieren. Franka sagt, fast krakeelend in die Musik: »Sie ist lesbisch, sie hat eine Freundin.«

Die Gespräche sind zäh. Cassandra gibt wenig preis, zwischen den Israelis und Franka springt der Funke nicht über. Fuckboys treffen aufstrebende Spießerin. Die Moderation strengt mich an. Mein Telefon vibriert, mein Kumpel Mick ist dran. »Seid ihr noch im Yafo?«, fragt er. »Ich bin mit zwei Freunden unterwegs, wir würden jetzt kommen.« Mir fällt prompt ein: Mick war eigentlich Teil unserer Einladungsrunde. Gast Nummer sieben. Doch der geniale Gründer jettet routiniert um die Welt, ist mal hier, mal da, nirgends für länger. Die Erinnerung an ihn löst sich darum manchmal auf. Mick, der modernste aller modernen Geister. Agil, aber ohne Zuhause.

Der Abend dreht sich inzwischen. Shani kommt abermals hinzu, entlockt den beiden Israelis hitzig Promotionsthemen, erfolgreiche Kampagnen; Cassandra und Franka ganz Ohr. Elisabeth kommt zurück von ihrer kurzen Raucherpausenamnesie, trinkt sich mit Granatapfel in Hochprozentigem milde. Wie spät ist es? Die Tür geht auf, geht zu, geht auf, nur einen Augenblick später streunt Mick herein, Mick plus zwei, und bald sitzt das halbe Yafo an unserem Tisch. Mick winkt zu den anderen Tischen, die anderen Tische winken herüber, und so geht es ab jetzt kopflos in die Nacht, in dieser Blase, in der alles geht und alle dürfen, in diesem warmen Showroom, in dem alle wollen und doch nicht können.

Von hinten, scheinbar aus dem Off, werde ich plötzlich angesprochen. Ein Andockmanöver in der beginnenden Nacht. Drei Studenten kennen mich von politischen Berichten, sie wollen reden, plaudern, dieses und jenes erörtern. Sie sind freundlich, interessiert, offen. Ich wechsele die Frequenz, bin im Nu nicht mehr bei meinen Freunden, sondern bei den Studenten, um uns alle herum das dampfende Yafo. In den hintersten Ecken meines Schädels denke ich: Seelenzäune. Absentierungsobsession. Lonely Cowgirls.

Es ist weit nach Mitternacht, als ich beschließe, nach Hause zu gehen. Die Nacht ist immer noch hellwach, einige sind schon verschwunden, viele werden ihr verhaftet bleiben. Am Tresen werden Drinks gereicht, hinten in den Sesseln liegen Köpfe auf Schultern, Ohrringe blitzen. Als Letztes höre ich noch Yehonathans Stimme, die sagt, dass Nachbarn sich beschwert hätten. Zu laut, zu voll. Viel zu schrecklich laut und vergnügsam ist diese Nacht nahe der Torstraße.

Ich hatte mich verabschiedet, es ging schnell und leicht, fast ungesehen. Jetzt schlendere ich noch ein wenig durch die Nacht. Es war nichts Außergewöhnliches, denke ich. Es war jetzt normal. Zeitenusus. Ich sehe einen Imbiss, einen Penner, den Himmel. Der Himmel ist nicht schwarz, er ist orangefarben erhellt von den Millionen Megawatt der Stadt. Auf dem Weg nach Hause passiere ich den Alexanderplatz. Ein bisschen still ist es hier, die Häuser wie Schatten, der Turm wie eine Nadel, das Pflaster eben und dunkel. Ich sehe kaum Menschen, erkenne nur Umrisse in der Nacht, in der die Reklamen stoisch leuchten. Unverhohlen verlassen wirkt die große Stadt zu dieser Stunde, unverhohlen groß und leer und hohl. Das Gesicht der Maskerade.

Ich muss an Alfred Döblin denken. Diesen Psychiater, diesen Worteerfinder. Berlin, Alexanderplatz. Muss an Biberkopf denken, die tragische Romanfigur, die in der Irrenanstalt landet. Döblin, der Verrücktgewordene. Ließ seine Zeilen von der Reizüberflutung handeln, ließ sie von Lärm sprechen und Anonymität, von geisteskranken sozialen Verwerfungen in Folge des industriellen Aufbruchs. Wie lange ist es nun her, dass er diesen Klassiker der Literatur aufs Papier dachte? Wie lange ist es her, dass es immer feiner, immer internationaler, immer schneller, immer subtiler, immer schlimmer geworden ist? Leben in der Dystopie. Wie flieht man aus der Flüchtigkeit?

Nicht einmal ist an diesem Abend das Wort gefallen. Das fällt mir nicht erst jetzt ein, es fiel mir die ganze Zeit auf. Den ganzen Abend über, während jeden Glases, während jeder Zigarette und während jeden Dialogs war es anwesend, das Thema dieser Zeit. Die Einsamkeit. Und doch vermieden wir das Wort, verschwiegen es hochprofessionell. Ja, wir umschifften es wie einen fürchterlichen, unaussprechlichen Felsen, vergaßen es vor lauter Musik und Spaß, vor lauter Abgeschnittenheit, vor lauter Leichtigkeit, vor lauter Privilegien, vor lauter Flexibilität, vor lauter Feigheit.

Ich ging noch ein wenig, bevor ich zu Hause ankam. Nein, nicht einmal war das Wort gefallen, nicht einmal während unseres gemeinsamen Abendessens. Ich überlegte kurz. Zu unaussprechlich mächtig lag es wohl über diesen Zeiten.

Es fängt an: Die vereinzelte Gesellschaft

Einsamkeit kennt viele Formen. In den modernen kapitalistischen Gesellschaften haben sie inzwischen zu einer kollektiven Vereinzelung geführt. Experten sprechen von einem Phänomen, das sich ausweitet wie eine Epidemie: Allein in Deutschland sagen 14 Millionen Menschen, dass sie sich einsam fühlen. Und spätestens seit Corona ist das Gefühl der Isolation zum globalen Status quo geworden.

Wenn ich in die Suchmaschine die Worte »einsam« oder »allein« eingebe, spuckt das Internet in weniger als einer halben Sekunde bis zu 160 Millionen Ergebnisse aus. Ich klicke auf Bilder. Sekunden später darf ich mir anschauen, was wir uns offenbar unter diesen Begriffen vorstellen. Was die Filter und Algorithmen uns vor Augen halten, wenn es um das Thema Einsamkeit geht.

Ich sehe einen Herrn mittleren Alters, der allein auf einer Bank sitzt und aufs Meer blickt. Eine Frau, die unter ihrem Regenschirm auf einem Steg steht und aufs graue Wasser schaut. Da ist ein Mann, er hockt auf seiner Fensterbank, starrt verloren auf das Häusermeer zu seinen Füßen. Da ist eine Frau, allein auf ihrem Bett, die Beine angezogen, die Arme über den Knien verschränkt. Ich sehe eine Seniorin in ihrem Sessel sitzend, deren Blick durch ein offenes Fenster in die Leere fällt. Weiter unten spiegelt sich das Gesicht eines jungen Mädchens in einer Scheibe, der Blick traurig, melancholisch. Es sind gängige Szenen der Einsamkeit. Eine Verlorenheit, die uns anspringt.

Scrolle ich weiter runter, sind Leuchttürme auf menschenleeren Inseln zu sehen. Alsbald: Liegengelassene Teddybären, verlassene und vom Regen nasse Straßen, der Mond, Millennials, die sich eine Plastiktüte über den Kopf ziehen. Die Bilder zeigen mir Zäune, Barrieren aus Draht, geisterhaft verlassene Rolltreppen und einen nackten Stein, auf den jemand mit Farbe geschrieben hat: »Corona ist doof«.

Noch weiter unten wird mir ein Poster dargeboten, das die Vorstellungen von Einsamkeit typographisch darstellt. Es stehen dort groß die Worte: »Verschlossenheit«, »Verlassensein«, »Isolation«, »Solitüde«, »Wüste«, »Einsiedlerleben«. Dann wieder kommen zahllose Bilder von Frauen und Männern, die zu Hause in ihren Wohnungen allein auf den Fluren sitzen, barfuß oder in dicken Socken, flankiert von blanken, möbellosen Wänden. Plötzlich das graphische Motiv einer Statistik: Frauen (42,4 Prozent) würden sich häufiger einsam fühlen als Männer (29,5 Prozent). Ich wische weiter nach unten, bekomme nun einige Sinnsprüche präsentiert.

Ich lese: »Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise am Herzen, bis es bricht.« Ich lese: »Einsam heißt nicht, dass man keine Freunde hat, die für einen da sind. Einsam heißt, dass fehlt, was das Herz glücklich macht.« Plötzlich ein Zitat von Wilhelm Busch: »Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut.« Kurz darauf dieser Aphorismus: »Begegnest Du der Einsamkeit, habe keine Angst! Sie ist eine kostbare Hilfe, mit sich selbst Freundschaft zu schließen.«

Ich sitze da und denke: Ja, was denn nun? Und surfe noch etwas weiter durchs Ergebnismeer.

Ein Mann ohne Augen. Ein Heißluftballon über den Wolken. Ein Teenager, vergraben in seinem Hoodie, seinem Kapuzenpulli. Ich sehe, noch weiter nach unten scrollend, eine graphisch dargestellte Waagschale, auf der die Begriffe »Äußere Auslöser« und »Innere Ursachen« schwerer wiegen als jener der »Inneren Stärke«. Ich erkenne das symbolträchtige Bild des einsamen Poeten. Eine Schreibmaschine, ein weißes Blatt Papier. Darauf einzig die Worte: »Die Einsamkeit.« Vielleicht ist es der Beginn eines Romans, vielleicht nur das inszenierte Motiv einer Bildagentur.

Als Nächstes bieten mir die Suchergebnisse: Zwei Schienen, die ins Leere führen. Dann entdecke ich ein Gemälde von Marc Chagall, Solitude von 1933. Öl auf Leinwand, 1×1,69 Meter groß. Laut Beschreibung ein Sinnbild kultureller Entfremdung, dargestellt durch einen Rabbiner, eine Geige spielende, einäugige Ziege und einen Engel mit Flügeln vor einem dunkel verrauchten Dorf. Menschen auf der Flucht, offenbar auch ein Inbegriff der Einsamkeit.

Ich scrolle noch weiter nach unten. Lese auf einem Bild den Satz: »Es ist schon eigenartig, wie wir es genießen, allein sein zu können, aber daran verzweifeln, wenn wir allein sein müssen.« Ich sehe dann noch dies: Einen winzigen Mann auf einem gottverlassenen Parkplatz, einen Rentner am Stock, eine Frau auf einer Schaukel, sitzend und sinnierend vor einem spiegelglatten See. Und sie alle wenden uns den Rücken zu.

Doch dann erschöpft es sich langsam. Dann wiederholen sich die Motive, die Bilder, die Ideen. Ab einem gewissen Punkt, so scheint es, kommen die Vorstellungen von Einsamkeit an eine Grenze. Ich sehe, ganz unten, noch eine skizzierte Cloud, lese von »digitaler Einsamkeit«. Danach aber bietet unter den Hunderten von Suchergebnissen nur noch ein fauler Zynismus Abwechslung. Ich blicke auf die Vergrößerung eines haarigen Milbengesichts und lese: »Wenn Du einsam bist, besinne Dich Deiner garantierten Freunde – sie leben zu Millionen auf deiner Haut.«

Die Seite ist zu Ende. Und nun sehe ich mich selbst. Wie ich mitten in Berlin in der U-Bahn sitze, allein unter vielen, versunken in mein mobiles Display.

 

Einsamkeit ist ein altes Thema. Es beschäftigt die Menschen seit eh und je, kommt in zahlreichen Facetten zur Sprache. Der Zustand der Einsamkeit, so scheint es, kann ein guter sein, ein schlechter, er kann beflügeln und bedrücken. Einsamkeit hat, grob gesprochen, einen doppelten Ruf. Allein das Wort kann uns an menschenleere Strände und sonstige Paradiese der Besinnung beamen. Orte, die wir mit Selbstfindung und Glück verbinden. Dies ist die eine Spielart des Einsamkeitsbegriffs. Sie hat mit lustvoller Entdeckung zu tun, mit Reizreduktion, Einkehr und Kontemplation, mit spiritueller und gedanklicher Bereicherung. Selten jedoch bringt der Zustand der Einsamkeit – so positiv wir ihn auch begreifen wollen – Heiterkeit und Ausgelassenheit mit sich. Auf der anderen Seite des Spektrums landen wir schließlich in ganz anderen Kontexten, wenn wir von Einsamkeit sprechen. Dann haben wir es mit Verlassenheit zu tun, mit Abgeschiedenheit und Ausgrenzung.

Schon beim ersten Betrachten wird klar, dass das Thema Gewicht hat. Dass der Begriff der Einsamkeit zudem keineswegs leicht zu definieren ist, dafür umso schneller in Gemeinplätzen und Klischees versandet.

Eindeutig sind hingegen Zahlen. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Splendid Research fühlt sich in Deutschland jeder Sechste häufig oder gar ständig einsam – und damit ist nicht die schöne Spielart der Einsamkeit gemeint. Fast 14 Millionen Menschen, allein hierzulande, die vielmehr das sind, was der Duden so definiert: »Für sich allein«, »verlassen« oder »ohne Kontakte zur Umwelt«. Ein verstörender Zustand. Und ein verstörender Wert. Zum Vergleich: Die Zahl der so begriffenen Einsamen ist damit doppelt so hoch wie die der Diabetiker im Land, weit höher auch als jene der Herzkranken und sogar gut siebenmal höher als die der Demenzkranken in Deutschland.

In vielen anderen Ländern kommen die Umfragen zu keinem ermutigenderen Ergebnis. In einer Umfrage der Europäischen Kommission von 2018, also vor Corona, wurden über 28000 Menschen aus ganz Europa gefragt, ob sie sich in der vorangegangenen Woche einsam gefühlt hätten. Das Ergebnis: In Bulgarien waren die meisten Menschen von Einsamkeit betroffen. 20 Prozent der Befragten fühlten sich dort meistens, fast immer oder immer einsam. In sieben weiteren Ländern erging es mindestens zehn Prozent der Befragten ebenso. Nur in den Niederlanden waren es mit drei Prozent deutlich weniger. Der Gesamtdurchschnitt derjenigen, die sich meistens oder immer einsam fühlten, lag bei acht Prozent. Auf die Gesamtbevölkerung der EU von 2018 hochgerechnet, entspricht das etwa 41 Millionen Menschen. Allein über sechs Millionen davon sollen es in England sein. Gut und gern 20 Millionen außerhalb Europas in Japan, weit über 30 Millionen in den USA. Wie der nichtkommerzielle Hörfunksender NPR berichtet, geben in den Vereinigten Staaten sogar drei von fünf Amerikanern an, einsam zu sein. »Mehr und mehr Menschen sagen, dass sie sich ausgeschlossen und unverstanden fühlen«, schreiben die Autoren einer Studie, die im Auftrag des Versicherungsunternehmens Cigna gemacht wurde. Zudem fehle es ihnen an companionship, an Gesellschaft. Und seit 2018 ist die Zahl all jener, die sich sozusagen »außen vor« fühlen, noch einmal um 13 Prozent gestiegen.

Forscher und Ärzte sprechen längst von einer Epidemie der Einsamkeit. Und obwohl »Einsamkeit« nach wie vor ein schwammiger Begriff ist und bis heute von den meisten Menschen kaum als genuines Problem erkannt und eingestuft wird, meinen die Forscher damit sogar einen Zustand, der nicht nur traurig und bemitleidenswert ist, sondern der sogar krank macht.

Der Mediziner Vivek Murthy diente unter Präsident Barack Obama als Surgeon General of the United States, war verantwortlich für die wichtigen Fragen der US-amerikanischen Gesundheit. Seine Erfahrungen fasste er jüngst wie folgt zusammen: »Während all meiner Jahre als Arzt waren es weniger Herzattacken und Diabetes, die für den Zustand der meisten Patienten verantwortlich waren. Es war ihre Einsamkeit.« Und wenn Murthy von einer crisis of loneliness spricht, meint auch er eine Angelegenheit, die längst ganze Gesellschaften betrifft.

 

In der Tat: Eine seltsame und neue Form der Vereinsamung wird zusehends zu einem modernen Phänomen. Zu einem Grundzustand vieler Menschen, der zunächst wenig greifbar, dafür aber umso drängender zu spüren ist.

Und dabei reicht es nicht mehr, sich auf alte Muster und Vorstellungen von Einsamkeit zu berufen, wie sie sich etwa in den stereotypen Motiven der Suchergebnisse zeigen. Die Seniorin, die schweigend auf der Parkbank sitzt. Der einsame Rentner in seiner stillen Wohnung. Die Frau im Regen. Oder auch die berühmte einsame Insel.

Auch genügt es nicht mehr, sich auf gängige Konnotationen zu berufen, wenn wir statt von Einsamkeit einerseits etwa von Ruhe und Besinnung sprechen, andererseits von Kontaktarmut, Isolierung, Verlassenheit oder sozialer Ausgrenzung. Vielmehr gilt es, die Merkmale und Bedingungen der neuen Einsamkeit differenzierter zu betrachten und feiner zu bemessen, also ganz neu zu begreifen und dann präziser zu definieren. Denn ein diffuses Gefühl von meist negativer Einsamkeit zieht sich inzwischen durch alle Milieus und betrifft die meisten Altersgruppen. Einsam fühlen sich nicht mehr vorrangig Senioren, verwitwete und arme Menschen, sondern zunehmend auch arbeitende Bürger, zunehmend auch jene Frauen und Männer der digitalen Generationen, die ja eigentlich inmitten eines sozial vernetzten, durchlässigen, mobilen Lebens stehen.

Das Phänomen der Einsamkeit, dem wir heute gegenüberstehen, ist komplex und vielschichtig. Globalisierung und Individualisierung haben zu ganz neuen Formen der Isolation geführt. Die digitale Welt und die neuen Technologien befeuern dies, und das beschleunigte und mehr und mehr kompetitive Leben macht es augenscheinlich nicht leichter.

 

Was geschieht, wenn das Mobiltelefon in die Hosentasche rutscht, ich die Treppen der U-Bahnstation hinaufsteige und auf die Straße hinaustrete? Ich sehe die Menschen – denn sie sind überall. Sie sitzen in den Bars, bummeln durch die Stadt, flitzen zum Bus, warten auf ihr Uber, kommen von der Arbeit, gehen zur Arbeit. Sie sitzen in ihren Wohnungen, in ihren Autos, kommen vom Einkaufen, fahren nach Hause. Vielleicht wollen sie ins Kino, ins Theater, zum Sport. Vielleicht haben sie einen Termin, holen gerade die Kinder ab, wollen zu einer Veranstaltung. Ein einziges Gewusel, wie Ameisen sind sie stets ziel- und zweckgerichtet unterwegs.

Über 3,6 Millionen Menschen leben in Berlin, das sind über 4000 pro Quadratkilometer. Was für ein herrliches Durcheinander, was für ein erstaunliches Miteinander. Aber ist es das wirklich? Leben wir wirklich noch die Idee des Gemeinwesens, so wie es die verdichtenden Räume von Gemeinden, Landkreisen, Kommunen und Städten eigentlich verlangen – egal, wie vielstimmig und divers vor allem Letztere sich inzwischen entwickelt haben? Sind wir wirklich auch so verbunden, wie es uns das Internet, die sozialen Medien gern suggerieren? Sind wir die Community, die uns das World Wide Web so lieblich verheißt? Und bilden wir am Ende wirklich noch die Gesellschaft, wie sie in der Soziologie definiert ist: Sind wir eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren?

Oder sind uns die verbindenden Elemente eher abhandengekommen? Fehlen uns womöglich gemeinsame Themen? Sitzen wir in unterschiedlichen Blasen und findet jeder heute zunehmend in seiner eigenen, aus beinahe unendlichen Möglichkeiten zusammengebauten Biographie statt? Ist da letztlich eine längst überholte Idee des Gemeinwesens am Bröckeln? Ein Miteinander, das gerade auf tausendfach verzweigten Wegen auseinanderfällt?

Schon beim Essen – eigentlich Paradebeispiel für soziales Miteinander – sind Kategorien populär geworden, die mehr trennen als einen. Und oft sogar einen Dissens eröffnen. Auf der einen Seite stehen die Veganer und Vegetarier, auf der anderen die Fleischliebhaber und Genießer alter Schule, die dem Essen weiterhin unverändert frönen wollen. Allein die Vielzahl an kursierenden Sprüchen zeigt, dass hier Fronten entstanden sind. »War kurz davor, Veganer zu werden, habe gerade noch mal Schwein gehabt«, lautet einer davon. Ein nächster: »Wenn alle Tiere ausgestorben sind, dann fressen wir die Vegetarier!« Die andere Fraktion kontert auf ihre Weise, fragt die Fleischesser, was sie als Außenstehende zum Thema Intelligenz zu sagen haben.

Das Essen ist zur politischen Gesinnungsfrage geworden. Zum Etikett, ob einer zu den Guten gehört, die die Welt retten wollen, oder zu den Bösen, die sich um nichts scheren. Gräben sind entstanden, wo eigentlich doch alle an einem Tisch sitzen sollten – um sich in aller Gegensätzlichkeit zuzuprosten. Nach der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten am 8. November 2016 boykottierten Tausende junge und progressive Demokraten vornehmlich aus den Großstädten die familiäre Einkehr zu Thanksgiving in den Staaten des Mittleren Westens. Mit Trump-Wählern an einem Tisch sitzen? Nein. Auch dann nicht, wenn es sich um Vater, Mutter, Onkel, Tante, die Großeltern handelt.

Weitaus krasser, komplexer und undurchschaubarer schreitet die Fragmentierung in den digitalen Welten voran. Die Werbung ist in hohem Maße personalisiert, heute bedient sie einen jeden ganz gezielt nach seinen individuellen Wünschen, Neigungen, Geschmäckern und Aktivitäten im Netz. In den sozialen Medien dürfen sich viele in abgekapselten Filterblasen wohlfühlen und in ihrer persönlichen Meinung bestätigt finden, während konträre Argumente und abweichende Standpunkte gar nicht mehr eingeblendet werden. Vielerorts sind die sozialen Medien zu Stammtischen geworden, nicht zu verbindenden Plattformen des sachlichen Austauschs.

Auf Diensten wie Instagram, Snapchat oder Tiktok kann sich jeder seine eigenen Bilderbuchwelten bauen, seine idiographischen Traumvorstellungen reibungslos und in Sekundenschnelle generieren. Diese Darbietungen sind zwar explizit zum Sharen gedacht, flitzen anschließend aber durch die digitalen Räume und können nie wieder zurückgeholt werden. Antastbar und diskutabel sind sie nur noch durch kurze Kommentarfunktionen, ein paar bunte Emojis. Geliked durch den erhobenen Daumen, gehatet durch den Shitstorm. Verhandelt während Begegnungen von Mensch zu Mensch werden Statements dieser Art so gut wie nicht mehr.

Man könnte es das Pippi-Langstrumpf-Syndrom nennen: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Nur dass Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt wohnte und nicht im vollvernetzten und durchglobalisierten dritten Millennium. Pippi war eine rotzopfige, freiheitsliebende, in doppelter Hinsicht starke und herrlich querdenkende Ausnahme. Eine kopfstehende junge Philanthropin, die ohne Eltern, dafür aber mit einem prallvollen Goldkoffer des Vaters über die Tische und durchs Leben tanzte. Die sich Piratenhüte aufsetzte, ein Pferd im Garten und einen Affen auf der Schulter hatte, die im Heißluftballon über den Dingen schwebte, auf die Schule und aufs Bravsein pfiff und sich die Welt wirklich machte, wie sie ihr gefiel. Ein Kniestrumpf grün, der andere knallorange.

Ein Sinnbild der Individualisierung, das heute in gewisser Weise zum Programm geworden ist. Zum gelebten Alltag von Milliarden.

Im Meer der Möglichkeiten können wir beliebig und beinahe grenzenlos auswählen und zugreifen. Können ordern und buchen, uns stylen und präsentieren, wie es uns gefällt: 24/7 und an beinahe jedem Ort der Welt. Wir können uns pinkfarbene Jeans bestellen und sie in der nächsten Sekunde gegen lilafarbene Highheels umtauschen. Handyhüllen stehen in Abermillionen Ausführungen zur Verfügung, elektronische Geräte in zahllosen Konfigurationen. Auch Alltagsgegenstände, Statussymbole und Produkte, die schon immer Teil der Selbstpositionierung und des persönlichen Ausdrucks waren, stehen heute in schier endloser Vielfalt und oft genug zum Schnäppchenpreis zur Verfügung. T-Shirts und Turnschuhe massenhaft, Möbel in unbegrenzten Mengen und Designs, Autos in zahllosen Ausführungen, Klassen und Finanzierungsrahmen. Selbst Reisen sind heute zu allen nur erdenklichen Destinationen zu haben, vom All-Inclusive-Urlaub auf Gran Canaria bis zum maßgeschneiderten Erlebnistrip zu den Goldschopfpinguinen der Antarktis. Die Welt der Waren und Angebote ist zum Manifest der Individualisierung geworden. Der Soziologe und Psychologe Harald Welzer fasst das heute existierende Universum der Möglichkeiten so zusammen: »Alles immer, immer alles.«

Die gepriesene Individualisierung aber bringt per definitionem eine tückische Eigenschaft mit sich. Das Wort Individuum nämlich steht für eine Entität, die sich nicht mehr weiter teilen lässt. Der Ursprung stammt aus dem Lateinischen: individere – nicht teilbar. Und so steht eigentlich das Gegenteil der Individualisierung für jene womöglich zu diskutierende Daseinsform, die vielmehr dieses Wort beschreibt. Dividuum: das Teilbare. Das, was wir halbieren, dritteln, vierteln können. Das, was zu Schnittstellen führt und uns in einem Boot mit anderen sitzen lässt. Kurzum: Nicht die Individualisierung steht für die Idee einer Gemeinschaft und Gesellschaft – sondern ihr Antonym.

Wie aber können die Einheiten in der Vielheit funktionieren? Ja, wie ticken die Menschen in der Gesellschaft? Nun, aufs Hier und Heute des digitalen Zeitalters gemünzt, ließe es sich wohl so ausdrücken: Das moderne, vernetzte Wesen bewegt sich nach Belieben durch den Ozean des Überflusses. Es kann wählen zwischen unendlich vielen Angeboten, kann sich das Leben aus einem fast unerschöpflichen Kosmos von Informationen, Meinungen und Botschaften, aus einem Füllhorn ungezählter Träume, Apps und Waren komponieren.

Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom 3.0: Wir alle machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder für sich. Jeder allein für sich. Jeder in seiner eigenen kleinen Raumkapsel.

Der Publizist Ulf Poschardt schreibt in seinem Buch Mündig von der »zentralen Subjektverfasstheit«, mit der der Mensch durch die modernen Zeiten taumelt. Durch eine Zeit, »in der alles möglich ist, das Unmögliche kommt und alle auf eine magische Art mit allem überfordert sind«.

Wenn im Zustand dieser heiteren Reizüberflutung allein in Deutschland weit mehr als zehn Millionen Menschen von sich selbst sagen, sie würden sich oft oder dauerhaft »einsam« fühlen – müssten wir dann nicht eher einen anderen Begriff wählen, um das Phänomen zu beschreiben? Ein Wort, das diesen Zustand präziser greift? Das Bild des haltlos auseinanderindividualisierten Menschen, der als ebensolcher am Ende ziemlich allein dasteht?

Oder besser: Vereinzelt.

Ausgerechnet die lieben Handys, ersonnen als ultimative Verbindungsautomaten, sind in diesem Prozess zu alternativlosen Katalysatoren geworden: Zu Vereinzelungsapparaten erster Güte. Und wir alle sind jeden Tag Zeuge davon – meist selbst als emsige Nutzer. Die Menschen laufen mit ihren Smartphones über die Straßen, sitzen und stehen in den U-Bahnen vor ihren Geräten, zücken das Mobiltelefon beim Fußballspiel, schreiben Messages während der Besprechung, wischen im Flugzeug noch kurz vor dem Pushback über die letzten Nachrichten. Und der genervte Blick ist inzwischen sogar beim Abendessen am Familientisch zur unabwendbaren Zutat geworden: »Jetzt leg doch endlich mal das Handy weg, Mensch!«

Denn der Mensch klebt am Handy. Das Handy klebt am Menschen. Längst sind beide zusammengewachsen.

Die Computer, besonders in ihrer omnipräsenten Ausprägung als Smartphones, führen uns das Phänomen der Vereinzelung so radikal vor Augen wie kaum etwas anderes. Allüberall ist es zu beobachten: In den Büros und Restaurants, in Bussen und Bahnen, abends im Restaurant und sogar noch auf Konzerten, wo eigentlich alle gemeinsam den Auftritt genießen wollen. Das Telefon ist stets zur Hand, die Bildschirmzeit zur festen Größe geworden. Vor kurzem habe ich eine Mutter neben ihrem Kinderwagen gesehen, in dem ihr Baby lag. Sie stand auf der Straße und telefonierte, aus dem Kinderwagen schimmerte ein bläuliches Licht. Mutter und Kind im Bann des allmächtigen Schirms – jeder für sich.

Eine befreundete Lehrerin erzählte mir neulich von einer Variante dieser Auseinanderdrift. In der Pause kam ein Schüler zu ihr gelaufen und heulte: »Leon will gar nicht mehr mit mir spielen, er spielt nur noch mit seinem Handy!«

Solche und ähnliche Szenen haben sich längst zu einem Sinnbild der kollektiven Vereinzelung verdichtet. Mit einem Fingerwisch landet jeder in seiner Welt, surft ein jeder durch seine persönlichen Universen, auch wenn er gerade Teil einer Masse ist, Mitglied einer mehr oder minder eng zusammengehörigen Gemeinschaft. Die allgegenwärtigen neuen Technologien machen es möglich: Wir sind im Hier und Jetzt – und doch oft ganz woanders. Sind Teil einer Menge – und doch meist ganz bei uns. Sind im Plural eingebunden – und doch dem Singular verbunden.

»Connectivity« lautet das Schlüsselwort dieser allgegenwärtigen Vernetzung. Und dabei sei zumindest die Frage erlaubt: Sind wir am Ende nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen dieser Verknüpfungsorgien gleichzeitig das, was ja auch das Wort »gemeinsam« bereits in sich birgt: Einsam?

 

Ein plakatives Beispiel dieser Art der Vereinzelung erlebte ich in einem Internetcafé in Asien. Weit über 20 Kinder und Teenager saßen dichtgedrängt in dem dunklen, heißen Raum, kaum einer älter als zwölf, dreizehn Jahre. Die Jugendlichen saßen Ellenbogen an Ellenbogen, doch ein jeder war fixiert auf seinen Bildschirm, ein jeder versunken in das Computerspiel vor seinen Augen. Auf den Screens schritten Maschinenwesen durch künstliche Welten, während draußen die Palmen der Insel im Wind standen, am Steg die Fischer festmachten und die Erwachsenen und älteren Menschen auf niedrigen Plastikstühlen vor den Garküchen saßen. Doch auch sie und sogar viele der Fischer blickten auf ihre Geräte, denn fast jeder hielt ein Smartphone in der Hand.

Es wirkte grotesk. Der Mensch mitten im tropischen, bunten Gewimmel Asiens – ein jeder davongeflogen in seine eigene Welt.

Und mitten im Gewusel saß der Staat auf zwei Klappstühlen. Zwei Polizisten in Uniform, Rücken an Rücken, ein jeder absorbiert von seinem kleinen Phone, das er in Händen hielt.

 

Es ist erstaunlich und klingt paradox. Doch trotz nie dagewesener Möglichkeiten der Kommunikation, trotz immer neuer Kanäle des rasenden Austauschs scheint das vermeintliche Miteinander zunehmend zu einem systematischen Auseinander zu führen. Als ob uns im Beliebigen das Verbindende und Verbindliche abhanden kommt – zumindest jene Versionen davon, an die wir uns bisher geklammert haben.

Zu beobachten sind dabei nicht nur altbekannte Bruchstellen, sondern tausend neue Haarrisse, die das Ganze kreuz und quer zerschnippeln. Statt der Zusammenführung, so könnte man den Eindruck gewinnen, lässt sich vielerorts eine Fragmentierung feststellen, statt der Gemeinsamkeit zudem eine voranschreitende Polarisierung. Die in letzter Zeit öfter und vehementer stattfindenden Demonstrationen sind ein weiteres Zeichen. Pegida. Fridays for Future. Märsche gegen Rechts. Die Gelbwesten in Frankreich. Die Separatisten in Spanien. Die Corona-Demos. Oft genug sind es hitzige Kundgebungen, Proteste, die in Ausschreitungen münden. Neu aber ist etwas anderes: Denn vor allem in letzter Zeit führt die Spaltung keineswegs mehr nur durch die weite Gesellschaft, sondern bricht sich Bahn bis hinein in enge Bekanntenkreise, Freundeskreise, Familien.

Beim Thema Klimawandel sind es heute die eigenen Kinder, die den Eltern die Leviten lesen und gegenüber Mama und Papa nicht nur einen emanzipierten und mündigen, sondern vor allem völlig konträren Standpunkt einnehmen. Auch hier hat sich eine Kluft aufgetan, die es bisher nicht gab: Eine weltweite Generation von Teenagern hält den Erwachsenen vor, versagt zu haben und weiter zu versagen.

Auch die Corona-Krise hat Differenzen zutage gefördert, von denen viele bisher gar nicht wussten, dass sie existieren. Da standen sich Kollegen, alteingeschworene Freunde und sogar Familienmitglieder auf einmal stirnrunzelnd gegenüber. Die einen glaubten an eine vielfach im Internet verabreichte Deutung der Pandemie, nannten die anderen systemtreue Lemminge. Die wiederum titulierten die anderen als Verschwörungserzähler und hielten sie für Dumpfbacken. Im Nu hatten sich diverse Lager gebildet. Denn Corona trennte schlagartig nicht nur Alte und Junge voneinander, Kranke und Gesunde, systemrelevante und systemirrelevante Menschen. Das Virus trieb Keile auch zwischen alte Verbündete – die sich plötzlich wie Gläubige und Ungläubige gegenüberstanden.

Und oft nur noch wütend schwiegen.

Ist aus einem Austausch am Ende nicht nur Konfrontation geworden, sondern eine Form der stillen Abwendung? Zerbröselt da durch ein konfuses Gemisch Tausender Faktoren womöglich gerade ein größeres Wir und mündet in eine immer feinere Zersplitterung, die bei vielen längst zu einer unbemerkten Vereinzelung geführt hat? Zu einer Art der Vereinsamung, die inzwischen immerhin 14 Millionen Deutsche spätestens dann einräumen, wenn sie gezielt danach gefragt werden?

 

Man muss nicht lange suchen, um diese einsamen Menschen im Alltag zu finden. Sie leben auf dem Land, in der Stadt. Sie fristen ihr Dasein in der Wohnung nebenan, gehen über die Straßen, sitzen in der U-Bahn. Normalerweise offenbart sich die Einsamkeit der Menschen nicht, wird kaschiert durch die vermeintliche Normalität. Doch wer genau hinschaut, wer nachfragt und zuhört, der wird feststellen: Das nuancierte Phänomen der Einsamkeit ist überall anzutreffen. Bei Menschen fast jeden Alters, unter Menschen fast jeder Einkommensgruppe, bei Deutschen wie Migranten.