Hans-Ulrich Lüdemann
Um Himmels Willen keine Farbe
ISBN 978-3-86394-896-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Fred Westphal
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... seit Jahrhunderten schlägt akkurat die Kirchturmglocke in Klockachtern. Zuverlässige Zeitansage und bei Nebel eine Warnung für die Schiffe auf See. Zur gleichen Stunde, in der vor Zeiten der Hund von Baskerville seine bedauernswerten Opfer packte, treiben Sturmböen Wolken vor den klockachternen Vollmond. Zugegeben, das Kläffen der hiesigen Dorftölen klingt nicht so schauerlich wie das Heulen des überlebensgroßen Scheusals in Conan Doyles spannender Geschichte. Die Abenteuer bei Jules Verne oder Stanislaw Lem sind ähnlich ungeheuerlich und unwahrscheinlich wie das, was in dieser letzten Novembernacht in Klockachtern geschieht. Klockachtern selbst kann dieses Gefahr bringende Unwetter wohl nichts anhaben. Es duckt sich hinter den Dünen in einer Bodensenke. Der Wind kämmt den dichten, landeinwärts stehenden Kiefernwald durch. Wenn im Laufe der Nacht der orkanartige Sturm mal von Nord auf Nordwest springt, dann rollen die aufgepeitschten Wogen gierig das kleine Eiland an, als wollten sie überschwappen und ein kurzes Bad im Bodden nehmen. Dreht der Wind auf Südwest, so schwappt der aufgewühlte Bodden mit kurzen Brechern über die Ufer, um in der Ostsee zu ertrinken.
Es bläst eben mal von Luv und mal von Lee. So sagte ein gewisser Tewje Butt großspurig. Ein Zugereister - die Einheimischen wenden sich geringschätzig lächelnd ab. Wie soll einer anders auf diesen düsigen Satz reagieren! Am Ende nennt dieser Tewje Butt ein freundliches Schwarz seine Lieblingsfarbe? Zuzutrauen wäre es ihm. Diesem Windei!
Klockachtern hat außer seinem seltsamen Namen, der aber keineswegs in freier Übersetzung bedeutet, dass hier die Uhren nachgehen, nichts Außergewöhnliches aufzuweisen. Fischerdorf ist eben auch nur Dorf, behauptet jenes Landei Tewje Butt. So genannt, weil er über zehn Kilometer von der Küste entfernt geboren wurde. Nicht weltbewegend ist ebenso die Tatsache, dass die Hiesigen ihre letzte Ruhe beinahe stehend finden. Weil der Friedhof in Klockachtern vor langer Zeit an einem Abhang errichtet worden ist. Er spielt bei den nächtlichen Ermittlungen wohl oder übel eine Rolle. Auch die Polytechnische Oberschule Klockachtern mit dem Sportplatz und seiner vorzüglichen roten Aschenbahn ist bemerkenswert. Weil ein Fürchtegott Lumen mit der Stoppuhr um den Hals verbissen hier viele Runden Konditionstraining absolviert. Auch ihn werden die seltsamen Vorgänge in Klockachtern in Atem halten. Mehr als auf dem Ascheoval.
Was dieses Dorf aus der Vielzahl anderer Flecken heraushebt, ist das Institut für Verhaltensforschung, wo unter der Leitung seines Direktors Doktor Gräulich angeblich geheime Experimente stattfinden. Das Institut ist ein moderner Klotz aus Glas und Beton. Ein schmerzlicher Anblick in dieser Landschaft, sagen die Fischköppe. Also alle, die bis zu zehn Kilometer vom Ostseestrand entfernt auf die Welt gekommen sind. Auffällig an dem Institutsgebäude ist eine schmale Treppe aus Beton an der Giebelwand. Vom Erdboden bis zur Kuppel reichend. Der Höhenunterschied beträgt immerhin ungefähr fünfzig Meter. Natürlich ist sie vorschriftsmäßig abgesichert, sodass nicht jedereiner diese schwindelerregende Stiege benutzt. Was es mit dieser - ja, man könnte sagen, Himmelsleiter, für eine Bewandtnis hat, wird sich zeigen. Fakt ist, dass sich kein Dorfbewohner erinnert, jemals einen Menschen gesehen zu haben, der eine zweifellos gefährliche Treppentour bis zur alufarbenen Kuppel des Instituts wagte.
Was also berechtigt dazu, auf solche Namen wie Conan Doyle, Jules Verne oder gar Stanislaw Lem eine derartig langweilige Ortsbeschreibung folgen zu lassen? Kurz gesagt - und ohne Rücksicht auf schwache Nerven -, in jener Nacht werden Menschen entführt. Einwohner dieses knapp hundert Seelen zählenden Dorfes, unterschiedlich im Alter, naturgemäß verschieden im Beruf. Auch der gewiefteste Kriminalist wäre ohne jede Chance, weil nicht einmal die Entführten von alldem etwas mitkriegen. Wer aber denkt schon gleich an etwas Grauenvolles? Die Zeitungen unseres Landes berichten wenig über schreckliche Missetaten. Was in dieser Nacht in Klockachtern vor sich geht, erfährt keiner in dieser großen weiten Welt. Zumal der Sturm die Telefonverbindung unterbrochen hat. Zwar merkt Kneiper Karsten Lumen, dass sein Sohn Fürchtegott verschwunden ist, aber dem schwergewichtigen Schwedenkrone-Wirt kommt gar nicht in den Sinn, dass Fürchtegott einer Entführung, oder modern gesagt einem Kidnapping, zum Opfer gefallen ist. Oss Lumen, Supersportler und Medaillengewinner, stark as so wie ein Oss, wie seine Mitschüler sagen, ist nicht so gebaut, dass ihn jedereiner verschleppen könnte. Mit Gewalt schon gar nicht. Das weiß Vater Lumen hundertprozentig.
Wie bei jedem undurchsichtigen Fall, so gibt es auch in Klockachtern einen Menschen, der Bescheid weiß. Der Auskunft geben könnte, wie beispielsweise Sherlock Holmes jederzeit in Conan Doyles Kriminalerzählungen. Dieser eine wird Tewje Butt gerufen, und sein Wissen hängt nicht damit zusammen, dass er Namensvetter des Zauber-Butts ist. Überhaupt - Tewje Butt steht auf der anderen Seite. Als Täter braucht er jedoch weder Sherlock Holmes noch dessen fähigen Kopf Doktor Watson zu fürchten. Aber was hat Tewje Butt, Sohn der Diplom-Psychologin Doktor Margarete Butt, mit dem zeitweiligen Verschwinden der Dorfbewohner zu tun? Das ist - zugegeben - der Schlüssel für alle eventuellen Nachforschungen. Für alle Bemühungen, Licht in das Dunkel dieses gespenstisch anmutenden Vorfalls zu bringen.
Was hatte Tewje Butt sich nicht alles vorgenommen. Als der Umzug aus der Großstadt nach Klockachtern nicht mehr zu verhindern war, fügte er sich in sein Schicksal. Würde er eben in dem Dorf, in das es ihn verschlug, eine noch größere Rolle spielen als in seiner Heimatstadt. Es sah auch anfangs alles gut aus, als er sich zum Schuljahresbeginn der Klasse vorstellen musste. Die Dörfler saßen in ihren Bänken und starrten ihn an, während Tewje redete und redete. Ihre Mäuler standen offen, und ihre Augen glotzten nach vorne. Tewje legte sich immer mehr ins Zeug. Er bekam gar nicht mit, dass die künftigen Schulkameraden staunten, weil solch ein spacker Kerl, wie der Neue es war, derart vom Leder zog. Und auch auf dem Schulhof ließ Tewje nicht locker. Wenn es galt, die Vorzüge einer Großstadt auszumalen. Dass er durch solche brandigen Reden sich keine Freunde machen würde, begriff Tewje anfangs nicht. Er legte sich sogar mit Fürchtegott Lumen an. Wie er erst später erfuhr, anerkannter Spitzensportler seiner Altersklasse. Und das nicht im Luftballonaufblasen! Woher sollte Tewje auch wissen, dass jemand, der den Namen Oss trägt, nicht gerade schwach auf der Brust ist. Oss Lumen machte kurzen Prozess mit diesem Großmaul. Er griff Tewje unter die Achseln und setzte ihn, ohne ein Wort zu sagen, in die Öffnung eines Müllcontainers. Tewje hatte die Pause über zu tun, sich aus der Funktion eines Pfropfens zu befreien. Dass niemand bereit war, ihn aus seiner Hilflosigkeit zu befreien, fiel ihm gar nicht auf. Im Gegenteil! Tewje setzte noch einen drauf. Er zog aus der Tasche eine Zigarettenschachtel hervor, riss ein Zündholz an und begann zu paffen. Wider Erwarten ist Tewje noch kein Raucher. Aber er schluckte tapfer den Rauch hinunter. Schluckte und schluckte. Tränen traten ihm in die Augen. Da spürte er plötzlich eine schwere Hand auf seiner Schulter und vernahm die beinahe klassisch zu nennende Formulierung:
»Folgen Sie mir unauffällig!«
Tewje drehte sich um und erkannte Direktor Döns. Karl Döns blickte nachdenklich auf den etwas klein geratenen Jungen. Dann schaute er in die Runde, um noch mehr rauchende Schlote ausfindig zu machen. Aber ohne Erfolg. So erkundigte er sich bei Tewje nach der Zahl der Zigarettenlängen, die bis zur Stunde hatten dran glauben müssen. Als der ertappte Sünder nur den Daumen vorzeigte, was ja einen sehr geringen Konsum bedeutet, nahm der Direktor den Sünder erneut bei den Schultern und ging mit ihm am Zaun entlang. Als wollte er mit Tewje Butt etwas plaudern. Hinter dem Tor blieben beide stehen. Karl Döns wies stumm auf die riesige Blumenrabatte vor der Schule und sagte leise: »Das für die Zukunft. Wohlgemerkt: Pro Zigarette fünfzig Meter Unkraut jäten!«
Direktor Döns drehte auf dem Absatz und kehrte mit ruhigen Schritten auf den Hof zurück. Tewje wusste, dass es auch anders hätte ausgehen können: Benachrichtigung der Mutter, Eintragung im Klassenbuch und was sich Lehrer sonst noch an Strafen ausdenken können. Für eine Ladung vor die Schülerkonfliktkommission der POS (Polytechnische Oberschule) Klockachtern, kurz Schülergericht genannt, war dieses Delikt nicht schwerwiegend genug.
Tewje Butt war sauer, dass ihm diese Großtat keine Ehre eingebracht hatte. Und zugleich war er froh, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein. Auch in den folgenden Wochen hatte Tewje nicht das Gefühl, dass jemand aus der Klasse sich mit ihm gutstellen wollte. Er gab nicht auf. Raufereien oder Rauchen fielen notgedrungen aus. Tewje hängte sich mal an diesen, mal an jenen Mitschüler. Auch in den Pausengesprächen mischte der Junge tüchtig mit. Als er ganz beiläufig jenen kernigen Satz von den Lippen ließ, wonach der Wind mal von Luv und mal von Lee weht, da nannten die Klassenkameraden ihn statt Landei nur noch Windei. Überhaupt ging dieser idiotische Satz schnell herum in Klockachtern. Sodass selbst Tewjes Mutter im Institut davon erfuhr und jene Behauptung beim Abendbrottisch analysierte. Sozusagen den Sohn vorsichtig lächelnd belehrte. Danach war Luv die dem Winde zugewandte und Lee die abgewandte Seite. Mal den Wind von Luv und mal von Lee ist genauso düsig wie von hinten in die Brust getroffen oder dass Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen.
Ja, Tewje fühlte sich bald als fünftes Rad am Wagen in der Klasse. So ganz nebenbei hatte er sich im Flur des Schulhauses ein neues Problem aufgehalst. Dieses sollte zwar nicht den Kopf kosten, aber an den Kragen gehen, das würde es schon. Vor allem, wenn Frau Doktor Margarete Butt davon erfuhr. Da half alles nichts. Auch kein Wunschdenken an den Zauber-Butt Timpe Te, den der Fischer im Märchen nur rufen musste, damit alles wieder ins Lot kam. Mit den besagten drei Wünschen war es ohnehin so eine Sache. Des Fischers Fru Ilsebill war schließlich auch nicht froh damit geworden. Aber so klar wie das Wasser der Ostsee ist - Tewje Butt wollte ihnen schon zeigen, was für ein Kerl in ihm steckt!
Nun ist dieser Tag da, an dem der Junge eine Möglichkeit sieht, den Spieß umzudrehen. Sozusagen wissenschaftlich sein Problem zu lösen. Wissenschaftliche Durchdringung, so hatte er oft genug zu Hause gehört, ist das Maß aller Dinge und der Keim für jeden Erfolg. Tewje begreift, dass er alles daransetzen muss, die Menschen zu durchschauen, die seine Bahn kreuzen. Aus der Physikstunde bei Direktor Döns weiß er, dass weißes Licht in ein Spektrum verschiedenster Farben zerfällt. Erst so durchschaubar wird. Also muss man Menschen ähnlich durchleuchten wie das Licht. Aber jedereiner, ob Direktor Döns, Lehrer Breegen, Oss Lumen, die schwarzhaarige Maria Sundmann - sie werden sich nicht freiwillig stellen und einen Blick in die geheimsten Winkel ihrer Seele gestatten. Sich eventuell lächerlich machen. Oder noch schlimmer, sich in Gefahr begeben. Auch was man denkt und zum falschen Zeitpunkt bekannt werden lässt, kann Gefahr für Leib und Seele bringen ...
Endlich also ist zur Sprache gekommen, was der gewiefte Kriminalist immer als erstes bei der Aufklärung eines mysteriösen Falles suchen muss: das Motiv des Täters. Ist die Angst eines Schülers groß genug, so greift er auch zu verbotenen Mitteln. Um herauszubekommen, was ihm blüht für das Ding, welches er in der Schule gedreht hat. Anders als in dieser Gaunersprache lässt sich Tewjes Motiv nicht umschreiben. Man muss ihm zugutehalten, dass er lange gezögert hat, ehe er seinen perfekten Plan ausführt. Aber in dieser schwarzen Novembernacht, wohl die windigste des Jahrhunderts, wirft Tewje Butt alle Skrupel über Bord und schreitet zur Tat.
Da Frau Doktor Margarete Butt über einen ausgezeichneten Schlaf verfügt, schleicht Tewje vor Mitternacht aus dem alten Fachwerkhaus, welches die Gemeinde Klockachtern, vertreten durch Bürgermeister Spöker, Mutter und Sohn zugewiesen hat. Die Windböen werfen den Jungen beinahe zu Boden. Aber Tewje ist zu allem entschlossen. Auf dem Weg zum Institut für Verhaltensforschung begegnet er keiner Menschenseele. Ab und an heult ein Dorfköter den Vollmond an, wenn er hinter den Wolkenfetzen hervorschaut. Nicht der Kauz schreit in diesem Landstrich Unheil verkündend, sondern die aufgestörte Möwe. Nach alter Legende lebt in ihr die Seele eines ertrunkenen Seemannes weiter.
Tewje hat richtig vermutet: Durch die große Scheibe des Pförtnerhauses sieht er Opa Niedorfs weißhaarigen Kopf. Auf der Tischplatte steht ein kleiner Wecker. Bevor Tewje an die Ausführung seines Planes gegangen ist, hat er genau ausgekundschaftet, wie und auf welche Art und Weise der siebzigjährige Mann seinen Dienst versieht. Er fand heraus, dass Opa Niedorf in der Nacht von einem Kontrollgang zum anderen ein Schläfchen macht. Um den Aufbruch zum Gang durch das Institut nicht zu versäumen, hat der alte Mann den Wecker neben sich. Im Grunde genommen kann er auch ruhig schlafen. Ist das Gebäude doch hervorragend abgesichert. Wer nach einer Klinke sucht, sucht vergebens. Wie also ins Haus kommen? Für Tewje Butt kein Problem. Nachdem der Junge die Pförtnerloge passiert hat, steht er Minuten später vor der Eingangstür zum Haupthaus, dessen Dach die alufarbene Kuppel trägt. Wenn jetzt einer vermutet, Tewje würde einen Nachschlüssel oder einen Dietrich aus der Tasche holen, so irrt er gewaltig. Der Junge zerrt einen Kassettenrekorder aus seiner Anoraktasche, baut sich an der Eingangstür auf und schaltet das Gerät ein. Sekunden dauert es, bis aus dem Lautsprecher eine tiefe Männerstimme ertönt:
»Doktor Gräulich hier. Doktor Gräulich hier. Doktor Gräulich hier.«
Wie von Zauberhand geöffnet, schwingt die schwere Tür nach innen. Lautlos schlüpft Tewje in den schwach erleuchteten Gang, der zu einer gewundenen Treppe führt. Als der Junge auf dem ersten Absatz steht, hört er hinter sich ein leises Pfeifen. Tewje weiß, dass in diesem Augenblick die Portaltür wieder schließt. Das war Trick Nummer eins. Doktor Gräulich hat keine Ahnung, dass Tewje heimlich dessen Stimme auf Band aufgezeichnet hat, um den raffinierten Türmechanismus des Instituts in Gang zu setzen. Auf diese Art und Weise kommt Tewje Butt durch alle versperrten Schleusen im Haus.
Genauso geschah es vor einer Woche, als der Institutsdirektor ihm den Arbeitsplatz der Frau Kollegin Butt zeigte. Überhaupt, Doktor Engelbert Gräulich widmet erstaunlich viele Stunden seiner karg bemessenen Freizeit dem Jungen. Ob es daran liegt, dass Tewje Butt keinen Vater hat? Jedenfalls kommt Doktor Gräulich, der nicht müde wird, zu betonen, dass sein Name um Himmels willen nicht von Gräuel oder Grauen kommt, sondern von der Farbe Grau abgeleitet ist, oft in das Haus der Familie Butt. Der Akademiker gilt in seinen Kreisen als anerkannter Wissenschaftler und Erfinder. Einiges hat er Tewje unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut. Wobei Doktor Gräulich kein Risiko eingeht. Tewje kann schweigen wie ein Grab. Und außerdem - er kapiert nichts von den Einzelheiten, die Doktor Gräulich ihm verrät. Aber wer ein Auto fährt, muss schließlich nicht wissen, dass er einen Zweitakter oder Viertakter unter der Motorhaube hat. Und damit ist schon viel gesagt. Über Tewje Butts nächtliches Unternehmen.
Noch einer gibt sich ein Stelldichein bei den Butts. Wobei Hein Aschrot, Schwimmmeister und Institutsfotograf, sich mit Kameras behängt, um den Sohn der Kollegin Doktor in die Geheimnisse der Fotografie einzuweihen. Warum diese beiden Männer sich so viel mit ihm abgeben, ein solcher Gedanke beschäftigt den Jungen nicht. Wichtiger ist für Tewje im Augenblick die Meinung von Direktor Döns zu dem Vorfall im Flur des Schulhauses. Ist er wider Erwarten nicht informiert, wird Klassenleiter Hagen Breegen Farbe bekennen. Überhaupt - wenn es notwendig ist, müssen alle infrage kommenden Personen ihren Charakter wie einen schillernden Regenbogen mit klaren Farben offenbaren! Ob sie wollen oder nicht.
Die vielen Treppen machen dem Jungen zu schaffen. Kneiper Lumens Sohn würde die fünfzig Meter Höhenunterschied bis zur Kuppel des Hauses im Sprint bewältigen. Aber Oss Lumen ist eben stark as so wie ein Oss! Tewje dagegen ein kleines Licht im Sport. Trotzdem, oder gerade deswegen, könnte auch Oss Lumen einen Denkzettel vertragen. Tewje bemerkt die Fahrstuhltür, aber er schüttelt den Kopf. Das Brummen des Aufzugs würde vielleicht Opa Niedorf alarmieren. Weiß man, wie tief oder wie flach ein Wachmann schläft? Auch für den alten Mann hält diese Nacht noch Überraschungen bereit. Wobei diese durchaus hätten ins Auge gehen können. Oder besser gesagt: Sie hätten Opa Niedorf beinahe das Leben gekostet. Ein Großvater ist mitunter leicht zu erschrecken. Und wie schnell steht nach einem Schock das Herz still. Vom Institut hält der Alte nicht viel. Für ihn ist hier alles weder achtern noch vorn. Aber wer gibt schon was auf Ansichten dieses alten Mannes? Noch dazu, wenn Klockachtern der Meinung ist, dass Opa Niedorf nicht ganz richtig im Kopf ist. Hermann Niedorf soll in jungen Jahren einen Schädelbruch gehabt haben. Aber vielleicht ist das auch nur ein Gerücht. Jedoch - wen kümmert das?
Tewje hebt den Kopf. Vom nahen Kirchturm schlägt wieder schwer die Glocke. Das erinnert den Jungen an Pastor Sundmanns Tochter Maria. Auch ein Kapitel für sich, denkt Tewje. Als er die nächste Treppe in Angriff nimmt. Maria Sundmann! Nicht, dass sie ihn ausgelacht hätte, aber sie hat auch kaum auf ihn reagiert. Ihn nur aus ihren braunen Murmelaugen angeglupscht. Als wundere sie sich, dass es ihn überhaupt gibt und wieso er ausgerechnet in diese Klasse gekommen ist. An des Pastors Tochter kommt Tewje Butt also auch nicht heran. Trotz aller Mühen. Nein, es stört ihn nicht, dass Maria ein kleines Kettchen mit Kreuz am Hals trägt. Gewiss hängt das mit ihrem Vater zusammen. Wie auch immer: Ein Kreuz am Kettchen kann jeder tragen. Zumal Tewje sich flugs über Hein Aschrot ebenfalls eine Kette besorgte. Die als Anhänger ein Seemannsgrab hat. Ein Kreuz, ein Herz und ein Anker. Ineinander verschlungen sind also Tod, Liebe und die christliche Seefahrt. Aber auch diese Ausrüstung erwarb Tewje keine Achtung. Weder bei Maria Sundmann noch bei den anderen in der Klasse.
„Ein Seemannsgrab?!", brummte Oss Lumen, während Steffen Spöker höhnisch lachte.
»Wer trägt heutzutage noch ein Seemannsgrab?!", wieherte Pete Mönkmeier übertrieben laut. Und er tanzte durchs Klassenzimmer: „Buttje, Buttje, Timpe Te ... Buttje, Buttje in der See ... Seine Frau Mariabill will nicht so, as Tewje will ...«
»Wat will sie denn?!«, blökte Steffen Spöker, den Zauberspruch aus dem Märchen aufnehmend.
»Liebe?!«, japste Pete Mönkmeier.
Da schlug Tewje Butt zu. Der spillrige Großkotz aus der Stadt, Namensvetter vom Zauber-Butt ...
Ausgerechnet Pete Mönkmeier, diese farblose Lusche, macht sich über ihn lustig. Im Verein mit Steffen Spöker.
Tewje Butt lächelt grimmig. Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Da kann Steffen Spöker noch so gut in der Schule sein und Aussicht haben auf ein Studium. Da kann der überaus weißhäutige Pete Mönkmeier noch so abwesend in der Klasse sitzen und durchs Fenster starren. Über die alleinstehende Frau Mönkmeier und ihren Sohn spricht ohnehin das Dorf hinter vorgehaltener Hand. Natürlich nicht mit dem zugereisten Tewje Butt. Nun, auch das wird sich ändern. Wenn sie Farbe bekennen. Bekennen müssen! Tewje atmet tief durch. Alles hängt davon ab, dass Alkibiades ihn nicht im Stich lässt. Alki - Meister aller Klassen und auch einem Supersportler wie Fürchtegott Lumen meilenweit überlegen. Gemeinsam werden Tewje und Alkibiades den anderen auf die Schliche kommen. Wenn Alkibiades bei Doktor Gräulich nicht versagt hat, warum sollte er es ausgerechnet bei ihm?! Bei Tewje Butt, der in der Klemme sitzt. Und zwar so schlimm, dass er ohne Hilfe nicht wieder herauskommt. Tewje hält inne. Er muss ein wenig verpusten. Aber die letzten Stufen nimmt er mit einem Sprung. Steht urplötzlich vor einer mit Aluminiumplatten verkleideten großen Tür. Auch hier weder ein Türknauf noch eine Klinke. Flink zieht der Junge erneut den Kassettenrekorder aus der Tasche. Lässt die Spule anlaufen.
»Doktor Gräulich hier. Doktor Gräulich hier, Doktor Gräulich hier.«
Beinahe lautlos reagiert der automatische Öffner auf die Männerstimme. Jeder geschulte Kriminalist weiß, dass neben Fingerabdrücken auch die menschliche Stimme ein unverwechselbares Indiz ist Da ist auch der beste Sprachimitator auf dem Holzweg, wenn er glaubt, ein derartiges Türschloss zu überlisten. So gesehen ist die Sicherung der Türen im Institut mit eingespeicherten Stimmen beinahe unübertrefflich. Tewje blickt neugierig in das matt erleuchtete Innere der Kuppel. Vorsichtig nähert er sich dem Kasten, der in der Mitte des Raumes steht. Hinter ihm ein Lufthauch. Der Eingang ist wieder verschlossen. Das weißfarbene Ungetüm vor Tewje Butt ist Alkibiades. Ohne Gewissensbisse wird der Junge in dieser Nacht die technischen Möglichkeiten von Alki nutzen. Tewje schließt die Augen. Er versucht sich zu erinnern, wie Doktor Gräulich die Bedienung seines angeblich unübertrefflichen Alkibiades beschrieben hat. Ohne Stocken war jener Begriff über Doktor Gräulichs Lippen gekommen: Hirnspezialspektralcomputer mit Video. Oder abgekürzt: HSSC. Oder Alkibiades. Warum dieser griechische Name - Doktor Gräulich sprach darüber seltsamerweise nicht. Das war auch für Tewje Butt zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht von Belang. Wichtig waren allein die Ausführungen Doktor Gräulichs über die Anwendungsmöglichkeiten des Hirnspezialspektralcomputers oder - wie der Akademiker sagte - über die Parameter seiner einmaligen Erfindung. Wie jede großartige Entdeckung in der Weltgeschichte, so kann auch Alkibiades zum Schaden oder zum Nutzen der Menschen verwendet werden. Je nachdem, wer Macht über ihn besitzt. Wer ihn bedient.
»Mein vortrefflicher Alkibiades«, so Doktor Gräulich, »ist in der Lage, auf Abruf Bioströme vom menschlichen Hirn freizusetzen und diese mittels elektronischem Bildwandler sichtbar zu machen. Das wichtigste an Alkibiades ist aber ein sogenannter Strahlenaktivator, der den sogenannten Somnambulischen Affekt auslöst. Das ist das«, erklärte Doktor Gräulich mit überlegenem Lächeln, »was allgemein im Volksmund mit Mondsüchtigkeit oder Schlafwandeln bezeichnet wird. Dein Direktor Döns wäre froh, Tewje, hätte er meinen Alkibiades zur Verfügung. Eine Gesamteinschätzung seiner Schüler wäre im Handumdrehen möglich. Auch dein Klassenleiter Breegen brauchte sich nicht mehr abzuquälen mit den sogenannten Kopfnoten. Nein, Alkibiades löst dieses Problem auf eine ganz einfache, jedoch an Wunder grenzende Art und Weise: nämlich durch Rhinochromatropie. Rhino, mein Junge, bedeutet - die Nase betreffend. Und Chromatropie ist nichts weiter als ein Farbenspiel. Nun setzen wir einmal voraus, in der Schule gibt es fünf Zensuren. Desgleichen fünf Hauptfarben im Spektralband des Sonnenlichts: Violett, Grün, Gelb, Orange, Rot. In dieses Spektrum lässt sich auch ein Schüler platzieren ...«
An diese Worte wird Tewje Butt erinnert, als er vor Alkibiades steht. Spielerisch fahren seine Fingerspitzen über eine Vielzahl von Tasten. Aufatmend registriert der Junge die kleinen Schilder, die jeweils die Funktion bezeichnen, welche beim Schalten wirksam wird.
»Der Begriff Alkibiades ist zugleich gemäß dem griechischen Alphabet das Maß der Kapazität für die Probanden. Gewissermaßen das Alpha und Omega oder zu deutsch - das A und O für die Gesamtheit der Vorgänge«, hatte Doktor Gräulich erläutert. Was diese Sätze bedeuten, weiß Tewje Butt nicht. Er gab sich auch keine Mühe, Doktor Gräulich zu begreifen. Der Sohn von Frau Doktor Margarete Butt hat das Zeug zu einem Knöpfchendrücker. Einer, der eine hochmoderne Apparatur bedient, ohne die technischen Zusammenhänge zu kennen. Wer einen Taschenrechner gebraucht, der mit Sinus, Tangens, Wurzelfunktionen, Logarithmen oder Potenzen operiert, muss ja auch nicht begreifen, wie das vor sich geht. Genauso benutzt Tewje Butt den Hirnspezialspektralcomputer. Er bedient Alki, beherrschen jedoch tut er ihn nicht. Ein Diener also ist der HSSC, den jedereiner gebrauchen oder auch missbrauchen kann. Tewje Butt kennt ja nicht einmal die Zusammenhänge, die zum Vorschaubild führen. In diesem Augenblick zeigt es an, dass Alkibiades betriebsbereit ist.