Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. KAPITEL EINS
  8. KAPITEL ZWEI
  9. KAPITEL DREI
  10. KAPITEL VIER
  11. KAPITEL FÜNF
  12. KAPITEL SECHS
  13. KAPITEL SIEBEN
  14. KAPITEL ACHT
  15. KAPITEL NEUN
  16. KAPITEL ZEHN
  17. KAPITEL ELF
  18. KAPITEL ZWÖLF
  19. KAPITEL DREIZEHN
  20. KAPITEL VIERZEHN
  21. KAPITEL FÜNFZEHN
  22. KAPITEL SECHZEHN
  23. KAPITEL SIEBZEHN
  24. KAPITEL ACHTZEHN
  25. KAPITEL NEUNZEHN
  26. KAPITEL ZWANZIG
  27. KAPITEL EINUNDZWANZIG
  28. KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
  29. KAPITEL DREIUNDZWANZIG
  30. KAPITEL VIERUNDZWANZIG
  31. KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
  32. KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
  33. KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
  34. KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
  35. KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
  36. KAPITEL DREISSIG
  37. KAPITEL EINUNDDREISSIG
  38. KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
  39. KAPITEL DREIUNDDREISSIG
  40. KAPITEL VIERUNDDREISSIG
  41. KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
  42. KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
  43. KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
  44. KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
  45. KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
  46. KAPITEL VIERZIG
  47. KAPITEL EINUNDVIERZIG
  48. KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
  49. KAPITEL DREIUNDVIERZIG
  50. KAPITEL VIERUNDVIERZIG
  51. KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
  52. KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
  53. KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
  54. KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
  55. KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
  56. KAPITEL FÜNFZIG
  57. KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
  58. KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
  59. KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
  60. KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
  61. KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
  62. KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
  63. KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG
  64. DANKSAGUNG

Über das Buch

London, 1940. Während der Blitzkrieg über London wütet, setzen die Krankenschwestern des Nightingale Hospitals alles daran, den Krankenhausbetrieb aufrechtzuerhalten. Auch Dora, die inzwischen Mutter von Zwillingen ist, kehrt zurück, um ihre einstigen Kolleginnen bei der kräftezehrenden Arbeit zu unterstützen. Ganz anders als die Hilfsschwestern Jennifer und Cissy, die vor allem zwei Dinge im Sinn haben: schöne Kleider und attraktive Männer. Doch ihre romantischen Träume werden schon bald von dramatischen Ereignissen überschattet …

Über die Autorin

Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrem Ehemann in New York. Ihre Serie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg. Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.

Donna Douglas

Die
NIGHTINGALE
SCHWESTERN

Zeit der Entscheidung

Roman

Aus dem Englischen von
Sabine Schilasky

BASTEI ENTERTAINMENT

Für die Jungvermählten, Harriet und Lewis

KAPITEL EINS

An jenem Freitag im Mai 1940, an dem Winston Churchill Premierminister wurde und die Deutschen einen Blitzkrieg begannen, kehrte Dora Riley zum Nightingale Hospital zurück, weil sie wieder dort arbeiten wollte.

Sechs Jahre war es her, seit sie als Schwesternschülerin vor der Oberin gestanden hatte. Und jetzt stand sie wieder in diesem Büro mit all den Regalen voll Büchern, dem schweren, dunklen Mobiliar und den ledergepolsterten Stühlen und lausch­­te dem langsamen, unheimlichen Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Doras Herz pochte genauso wie damals, als sie noch eine der nervösen Lernschwestern in der Probezeit gewesen war. Unsicher sah sie die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches an.

Die Welt mochte sich in den letzten sechs Jahren gewaltig verändert haben, doch Kathleen Fox wirkte so abgeklärt wie eh und je, saß gerade und vornehm da in ihrer schwarzen Uniform mit gestärkter weißer Haube, die ihr Gesicht umrahmte. Ihre ruhigen grauen Augen fixierten Dora, musterten sie wie an jenem Tag, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

»Nun, Mrs. Riley«, sagte sie, wobei ihre weiche, wohlartikulierte Stimme immer noch ihre Herkunft aus Lancashire enthüllte. »Sie möchten also wieder zu uns kommen?«

Dora verschränkte die Hände auf dem Rücken und stellte sich ein wenig gerader hin, wie man es sie für das Gespräch mit Vorgesetzten gelehrt hatte. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht ablegen. »Ja, Schwester Oberin.«

»Wie lange ist es her, seit Sie hier Stationsschwester waren?«

»Zwei Jahre, Schwester Oberin. Ich habe 1937 mein Examen gemacht und bin im Frühjahr danach gegangen, um zu heiraten.«

Ihren Blick hielt sie auf Miss Fox’ Haube gerichtet, während die Oberin des Nightingale die Notizen vor sich auf dem Schreibtisch durchging. »Und warum, wenn ich fragen darf, möchten Sie zurückkommen?«

»Ich möchte meinen Beitrag leisten, Schwester Oberin. Für den Krieg.«

»Aha.« Miss Fox machte eine Pause. »Ihr Ehemann dient, nehme ich an?«

»Ja, genau, Schwester Oberin.« Dora presste ihre Lippen zusammen, um nicht zu viel zu sagen. Ihr Stolz erlaubte ihr nicht, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Sie war ein Mädchen aus dem East End, aufgewachsen in den Seitengassen von Bethnal Green, nur einen Katzensprung vom Krankenhaus. Wo Dora herkam, lief man nicht herum und jammerte über seine Pro­bleme. Man riss sich zusammen und packte zu, so wie ihre Mutter und ihre Großmutter es ihr vorlebten.

Innerlich jedoch war sie krank vor Sorge um Nick. Er war im März nach Frankreich geschickt worden, und Dora vermisste ihn mit jeder Faser ihres Seins.

Und das war auch der wahre Grund, weshalb sie beschlossen hatte, wieder ans Nightingale zurückzugehen. Sie musste etwas tun, und das nicht bloß, um in diesem Krieg einen Beitrag für ihr Land zu leisten, sondern weil sie wusste, dass sie verrückt werden würde, wenn sie zu Hause blieb und sich das Schlimmste ausmalte.

»Darf ich fragen, warum Sie sich direkt bei uns bewerben und nicht bei der Civil Nursing Reserve? Dort koordinieren sie den Zivilschutz«, unterbrach die Schwester Oberin ihre Gedanken. »Sicher wären Sie dort an der richtigen Stelle, wenn Sie als ehemalige Schwester Ihre Dienste anbieten wollen, nicht wahr?«

Dora sah sie direkt an. Sie hatte das Gefühl, dass Miss Fox ihre Antwort hierauf bereits kannte.

»Das habe ich, aber die wollten mich nicht«, sagte sie gerade­heraus. »Sie nehmen keine Mütter.«

»Ach ja.« Die Schwester Oberin lächelte. »Sie haben kleine Zwillinge, stimmt’s?«

Dora wunderte es nicht, dass die Oberin von Walter und Winnie wusste. Trotz allem, was sonst noch um sie herum vorging, schaffte Miss Fox es, sich über all ihre »Mädchen« auf dem Laufenden zu halten, den ehemaligen wie den heutigen. »Ja, Schwester Oberin«, bestätigte Dora.

»Wie alt sind die beiden?«

»Gerade ein Jahr, Schwester Oberin.«

»Das ist noch sehr klein. Ich muss sagen, mich erstaunt, dass Sie die beiden allein lassen und wieder arbeiten wollen.«

Dora sagte nichts. Sie sah Miss Fox an, dass sie ablehnen würde, und wappnete sich für eine weitere Zurückweisung.

»Ich bewundere es, dass Sie sich zur Verfügung stellen wollen«, sagte Miss Fox schließlich. »Doch die Regeln der CNR gelten aus gutem Grund. Wie Sie selbst wissen, ist die Krankenpflege eine Berufung. Die Arbeitszeiten sind lang, die Arbeit ist sehr schwer, und – Krieg hin oder her – wir erwarten von unseren Schwestern, dass sie sich voll und ganz dem Krankenhaus verschreiben. Das ist keine Arbeit für eine Ehefrau und Mutter.«

»Ich komme zurecht«, beharrte Dora. »Ich bin wieder nach Hause gezogen, wo sich meine Mum um die Zwillinge kümmert, solange ich arbeite. Wir haben alles geregelt.«

»Verstehe. Und angenommen, Sie sind mitten in Ihrer Schicht, versorgen schwerkranke Patienten und erhalten plötzlich die Nachricht, dass es einem Ihrer Kinder schlecht geht. Was wollen Sie dann tun? Sie können nicht alles stehen und liegen lassen und nach Hause gehen, und Sie werden Ihre Arbeit kaum anständig machen können, wenn Sie sich um eines Ihrer Kleinen sorgen.«

»Das müsste ich nicht, wenn meine Mum dort ist«, sagte Dora trotzig. »Sie hat sechs eigene Kinder großgezogen und wird wissen, was zu tun ist.«

Miss Fox sah sie beinahe mitleidig an. »Ich denke, Sie werden anders empfinden, sollte der Fall erst einmal eintreten«, sagte sie freundlich. »Eine Mutter möchte sich instinktiv um ihre eigenen Kinder kümmern, nicht um die anderer.«

»Nun ja, mir bleibt wohl keine große Wahl, dank Hitler!« Dora hatte nicht vorgehabt, schnippisch zu werden, aber sie war es leid, dass man ihr überall die Tür vor der Nase zuschlug, wo sie doch nur helfen wollte. Bei der Arbeitsvermittlung war es dasselbe gewesen. Dort hatte man sie einfach nur von oben herab behandelt, als sie dort gewesen war, um sich freiwillig zu melden. »Glauben Sie mir, ich täte nichts lieber, als daheim bei meinem Mann und meinen Kindern zu sein, doch der alte Adolf und seine Meute haben etwas dagegen«, fuhr sie fort und achtete nicht auf Miss Fox’ erschrockene Miene. »Jetzt kann ich entweder zu Hause sitzen, Däumchen drehen und verrückt werden, oder ich kann hierherkommen und mich nützlich machen. Und so wie ich es sehe, Schwester Oberin, können Sie Hilfe gebrauchen. Wie ich gehört habe, sind Sie zurzeit auf Hilfsschwestern angewiesen, die bestenfalls fünf Minuten lang angelernt wurden. Ich weiß, dass es nicht ideal ist, aber wäre es nicht besser, jemanden wie mich hier zu haben? Ich möchte mich nützlich machen, und ich weiß, dass ich gute Arbeit leisten kann. Ich werde so hart arbeiten, wie ich kann, versprochen. Und wäre ich nicht in jedem Fall brauchbarer als eine Freiwillige, die eine Bettpfanne nicht von einem Verband unterscheiden kann?«

Dora bemerkte den frostigen Blick der Schwester Oberin und stellte fest, dass sie wieder einmal zu weit gegangen war. Warum musste dauernd ihr Temperament mit ihr durchgehen? Die Schwester Oberin würde sie jetzt erst recht nicht mehr nehmen, selbst wenn der Krieg hundert Jahre dauerte. Sie würde sich zum Frauen-Freiwilligendienst melden müssen, wo sie für Soldaten Tee kochen und Socken stopfen durfte.

»Wie ich sehe, nehmen Sie nach wie vor kein Blatt vor den Mund«, sagte Miss Fox und zog die Augenbrauen hoch.

»Verzeihen Sie, Schwester Oberin.« Dora senkte den Blick. Es war nicht Miss Fox’ Schuld. Sie hielt sich nur an die Regeln, so wie alle anderen auch. Doch die ganze Welt schien im Moment aus Regeln und nichts als Regeln zu bestehen. Plakate klebten an den Hauswänden, und Flugblätter von der Regierung wurden durch ihren Briefschlitz geworfen, die ihr vorschrieben, was sie kaufen und was sie essen sollte, wo sie hingehen und mit wem sie sprechen durfte. Tu dies, tu das, mach, was dir gesagt wird. Es war schlimm genug, dass sie ihr den Ehemann genommen hatten, da mussten sie nicht auch noch ihr Leben kontrollieren. Sie war das alles gründlich leid.

Jäh wurde sie in die Gegenwart zurückgerissen, als sie feststellte, dass die Schwester Oberin mit ihr sprach.

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, Schwester Riley, dass Sie, wenn Sie wieder in diesem Krankenhaus arbeiten, nicht noch einmal so mit mir sprechen dürfen«, sagte sie.

Dora sah sie völlig verständnislos an. Sie hatte kaum mitbekommen, was die Schwester Oberin ihr sagte, weil sie nur Ohren dafür gehabt hatte, dass sie soeben mit »Schwester« angesprochen worden war. Es war lange her, dass sie jemand so genannt hatte, und ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr es ihr fehlte. Stolz durchströmte sie und straffte ihr Rückgrat, sodass sie sich noch gerader aufrichtete.

Noch immer konnte sie es kaum glauben. »Meinen Sie … Darf ich zurückkommen?«, fragte sie.

»Wie Sie selbst sagten, habe ich keine große Wahl«, gestand Miss Fox freimütig. »Und obwohl ich anmerken möchte, dass die meisten unserer Hilfsschwestern durchaus eine Bettpfanne von einem Verband unterscheiden können« – Dora krümmte sich innerlich unter dem strengen Blick –, »kann ich nicht leugnen, dass es hilfreich wäre, mehr Schwestern auf den Stationen zu haben.«

»Vielen Dank, Schwester Oberin.«

»Doch Sie dürfen, wie gesagt, keine Sonderbehandlung erwarten«, fuhr Miss Fox fort. »Sie werden hier genau wie jede andere Schwester behandelt, auch wenn man natürlich nicht von Ihnen erwartet, hier zu wohnen. Aber Sie werden die Anweisungen befolgen, und Ihre Pflichten haben absoluten Vorrang vor allem anderen. Ist das klar?«

Ihre Stimme war immer noch sanft, hatte allerdings jenen eisernen Unterton, an den Dora sich noch gut erinnerte.

»Ja, Schwester Oberin. Danke. Ich werde Sie nicht enttäuschen, versprochen.«

»Sorgen Sie dafür, Schwester Riley.«

Dora betrachtete die ernste, unerbittliche Miene der älteren Frau und glaubte, ein winziges Blitzen in den grauen Augen gesehen zu haben.

In einem hatte Dora Riley recht, dachte Kathleen Fox. Alles veränderte sich. Das Krankenhaus war kaum wiederzuerkennen. Die Fenster des vornehmen georgischen Gebäudes verschandelte braunes Klebeband, das bei einem Angriff vor Glassplittern schützen sollte, und die Sandsäcke stapelten sich so hoch an den Erdgeschossmauern, dass sie die unterste Etage verdunkelten.

Die meisten Stationen waren im letzten September nach der Kriegserklärung geräumt worden. Patienten, die auf dem Weg der Besserung waren, wurden nach Hause geschickt, und solche, die zu krank gewesen waren, hatte man mit einem Großteil der Belegschaft in den kleineren Ableger des Nightingale Hospital in Kent verlegt.

Inzwischen waren acht Monate ohne ein Anzeichen für die gefürchteten Bomben- oder Gasangriffe vergangen, und mehrere Stationen im Londoner Nightingale hatten den Betrieb wieder aufgenommen. Jedoch hatten sie sehr viele ausgebildete Schwestern an den Queen Alexandra’s Sanitätsdienst des Militärs verloren. Kathleen verübelte es den Schwestern nicht, dass sie fortgingen, um dem Land zu dienen, nur machte es die Leitung des Krankenhauses für sie sehr schwierig. Sie musste sich auf ehemalige Schwestern wie Dora Riley und ein Heer von Mädchen aus dem Freiwilligen Hilfsdienst verlassen.

Freiwillige, die eine Bettpfanne nicht von einem Verband unterscheiden können. Kathleen musste schmunzeln. Ja, Dora hatte recht. Die jungen Frauen waren recht eifrig und freundlich, nur bereiteten sie einige Kurse beim Roten Kreuz kaum für den Alltag auf einer vollbelegten Station vor.

Es klopfte an der Tür, und Veronica Hanley, die stellvertretende Oberin, trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Kath­leens Stimmung trübte sich angesichts der großen, masku­linen Gestalt. Also hier war jemand, den sie ohne Weiteres nach Übersee geschickt hätte. Sie war sicher, dass Miss Hanley die Nazis sehr viel wirksamer das Fürchten lehren könnte als die britischen Truppen.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Hallo, Miss Hanley. Was kann ich für Sie tun?«

Miss Hanley klatschte ihr ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. »Die Wäschebestellung«, sagte sie mit ihrer dröhnend tiefen Stimme. »Es gibt keine neuen Laken oder Kissenbezüge mehr. Die Fabrik, die sie herstellt, ist inzwischen für die Truppenversorgung zuständig.«

»Verstehe.« Kathleen nahm ihren Stift, um das Formular zu unterschreiben. »Ich fürchte, bald müssen wir unsere Patienten bitten, ihre eigene Bettwäsche mitzubringen.«

Miss Hanley erschauderte. »Gott bewahre, Schwester Oberin! Ist Ihnen bekannt, dass viele unserer Patienten aus ungezieferverseuchten Häusern kommen?«

»Es war ein Scherz, Miss Hanley.«

»Oh.«

Kathleen lächelte, als sie den verdutzten Ausdruck auf dem kantigen Gesicht ihrer Stellvertreterin sah. Miss Hanley besaß viele hervorragende Eigenschaften, Sinn für Humor zählte nicht dazu.

Es war einer der vielen Unterschiede zwischen ihnen. Veronica Hanley war eine Schwester der alten Schule, am Nightingale ausgebildet und enorm traditionsbewusst. Überdies hatte sie nie einen Hehl aus ihrer Verachtung für Kathleen Fox gemacht, deren Ausbildung sie für minderwertig hielt und deren forsche nordenglische Art sie ebenso ablehnte wie deren neue Ideen.

Bei Kriegsbeginn hatte Kathleen ihr angeboten, nach Kent zu gehen und dort die kommissarische Leitung der Klinik zu übernehmen. Sie hatte geglaubt, dass ihre Stellvertreterin die Chance sofort ergreifen würde, doch zu ihrer Verblüffung hatte Veronica Hanley abgelehnt.

»Ich würde lieber in London bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Schwester Oberin«, hatte sie gesagt. »Es erscheint mir falsch, meinen Posten am Nightingale in dieser Stunde der Not zu verlassen.«

Kathleen hatte ihrem Wunsch zähneknirschend entsprochen, obgleich sie vermutete, dass es Miss Hanley vor allem darum ging, sie im Auge zu behalten.

Während sie die Bestellung unterschrieb, bemerkte sie, wie sich ihre Stellvertreterin ein wenig vorbeugte. Anscheinend wollte sie noch etwas sagen.

»Gibt es sonst noch etwas, Miss Hanley?«, fragte sie geduldig.

»Die Maler haben angerufen. Sie können frühestens in zwei Wochen mit der Arbeit auf den Stationen Holmes und Peel anfangen.«

»Wie ärgerlich.« Da das Krankenhaus bisher noch nicht wieder den vollen Betrieb aufgenommen hatte, war von den Treuhändern beschlossen worden, die beiden leeren Stationen im obersten Stockwerk streichen zu lassen. »Könnten sie dann vielleicht beide gleichzeitig streichen, damit es schneller geht?«

»Ist das klug, Schwester Oberin?« Miss Hanley runzelte die Stirn. »Sicher wäre es besser, sie nacheinander streichen zu lassen, damit im Notfall eine Station zur Verfügung steht …«

»Wir lassen sie beide gleichzeitig streichen«, fiel Kathleen ihr gereizt ins Wort. Warum musste die Frau über alles mit ihr streiten? »Ich bezweifle sehr, dass wir die Stationen so bald brauchen werden«, ergänzte sie etwas ruhiger. »Wir haben kaum genug Schwestern, um die Stationen zu versorgen, die im Moment in Betrieb sind.«

»Apropos Schwestern …« Miss Hanley räusperte sich, und Kathleen ahnte, was kommen würde. »Diese junge Frau, die ich vorhin aus Ihrem Büro kommen sah – gehe ich recht in der Annahme, dass sie hier gelernt hat? Lassen Sie mich überlegen. Schwester …« Sie gab ein wenig zu übertrieben vor, nachdenken zu müssen. »Schwester Doyle, richtig?«

Kathleen neigte den Kopf, damit ihre Stellvertreterin ihr Grinsen nicht sah. Als Widerstandskämpferin im Untergrund wäre sie denkbar schlecht geeignet. Ihr fehlte jedwedes Talent zur Verstellung, denn ihr breites, offenes Gesicht verriet sie immer.

»Das stimmt. Nur dass sie jetzt Mrs. Riley heißt.«

»Ja, richtig. Und was führt sie her?«

Als wüsstest du das nicht!, dachte Kathleen. Miss Hanley dürfte die letzte halbe Stunde an der Tür gelauscht haben.

Kathleen spielte mit und antwortete: »Sie möchte ihre alte Stellung wieder.«

»Dann sollte sie sich beim CNR bewerben«, sagte Miss Han­ley prompt.

»Die wollen sie nicht, weil sie Kinder hat.«

»Aha.«

»Ich habe sie trotzdem eingestellt.«

»Tatsächlich, Schwester Oberin?« Miss Hanley blickte so entsetzt drein, als hätte Kathleen ihr erzählt, dass Mussolini persönlich als Pförtner für das Krankenhaus eingestellt worden wäre. »Aber die Regeln besagen ganz klar, dass verheiratete Frauen mit kleinen Kindern …«

»Ich fürchte, wir werden noch häufiger gegen unsere eigenen Regeln verstoßen, solange dieser Spuk noch nicht vorbei ist. Der Krieg verändert alles, Miss Hanley. Und wenigstens hat Schwester Doyle – ich meine, Riley – hier gelernt, was mehr ist, als wir im Augenblick von einigen unserer Schwestern behaupten können.«

»Hmm.« Veronica Hanley kniff die Lippen zusammen. Soweit Kathleen sich erinnerte, hatte Miss Hanley ohnehin nie viel von Dora gehalten. Ihrer Ansicht nach sollte die Krankenpflege, ganz besonders im Nightingale, ausschließlich wohlerzogenen jungen Frauen aus ehrbaren Familien vorbehalten sein und nicht irgendwelchen Mädchen aus der Arbeiterklasse, wie Dora es war.

Kathleen blickte wieder auf die Wäschebestellung, auf der diverse Posten rot durchgestrichen waren. Das Leben war schon ohne ihre täglichen Kämpfe mit Miss Hanley schwer genug, dachte sie.

KAPITEL ZWEI

Dora lief den ganzen Weg zurück zur Griffin Street.

Niemand in dieser Straße benutzte den Vordereingang seines Hauses. Einzig Miet- und Geldeintreiber klopften an die vordere Tür. Dora eilte die enge Gasse hinter der Häuserreihe entlang, die von hohen, groben Ziegelmauern gesäumt war und auf einer Seite an den Bahndamm grenzte, während auf der anderen Seite die winzigen Hinterhöfe der Häuser lagen.

Sie hob den rostigen Riegel und öffnete die Holzpforte zum Hof von Nummer 28. Wie die benachbarten Höfe auch war er klein und quadratisch und mit spindeldürrem Unkraut bewachsen, das aus den Rissen in den Steinplatten lugte.

Doras jüngerer Bruder Alfie war auf dem Hof, hockte neben einem verbeulten Pappkarton und hielt ein Salatblatt über die Öffnung.

»Was hast du da, Alfie?« Dora näherte sich ihm und spähte in den Karton. Sie sah eine zuckende Nase, und ein schwarzes Augenpaar starrte zu ihr auf. »Oh Mann, ein Kaninchen. Wo hast du das denn her?«

»Ich habe ihn auf den Hackney Marshes gefangen. Er heißt Octavius, und er ist mein Haustier, aber Oma sagt, dass er in den Topf kommt.«

Er verzog das Gesicht. Die ganze Familie nannte ihn »Klein Alfie«, dabei war er mit seinen acht Jahren schon ein kräftiger Junge und reichte Dora bis zur Schulter.

Sie hockte sich neben ihn und streckte eine Hand aus, um das weiche braune Kaninchenfell zu streicheln. »Hör nicht auf Oma. Du weißt doch, dass sie das nur so dahinsagt.« Sie nickte zu dem Blatt in Alfies Hand. »Trotzdem solltest du ihn lieber nicht zu gut füttern, sonst überlegt sie es sich vielleicht doch noch anders.«

Sie verließ ihren Bruder, duckte sich unter der Leine mit tropfnasser Wäsche hindurch und ging durch die Hintertür ins Haus.

Ihre Mutter, Rose, war in der Spülküche und machte Tee.

»Hallo, Liebes.« Sie lächelte Dora über die Schulter hinweg zu. »Du musst den Kessel gehört haben.« Sie drehte sich um und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Wie war es im Krankenhaus?«

»Die Schwester Oberin sagt, dass ich nächste Woche anfangen kann.«

Ihre Mutter strahlte. »Na, was habe ich dir gesagt? Ich habe ja gleich gewusst, die geben dir deine Stelle wieder, oder nicht?«

Aber Dora hörte nicht zu. Sie achtete nur auf den dünnen Vorhang, der die Spülküche vom eigentlichen Küchenbereich trennte. Das glucksende Lachen ihrer Kinder wärmte ihr das Herz, und sie musste sich beherrschen, nicht sofort zu ihnen zu laufen. »Wie haben sich die Zwillinge benommen?«

»Bestens.« Rose Doyle sah sie an. »Geh schon rein zu ihnen, ich bringe dir einen Tee. Wie du aussiehst, kannst du einen gebrauchen.«

»Danke, Mum.« Dora warf ihr ein dankbares Lächeln zu und schlüpfte durch den Vorhang.

Die kleine Küche war immer schon der Mittelpunkt des Hauses gewesen. Hier kam die ganze Familie zusammen, um zu reden, zu lachen, zu weinen und zu streiten. Oma Winnie saß wie üblich in ihrem Schaukelstuhl am Kamin und stopfte Socken. Es versetzte Dora einen Stich zu sehen, wie dicht ihre Großmutter sich die Arbeit vors Gesicht halten musste und wie angestrengt sie über den Brillenrand hinweg blinzelte. Ihr Augenlicht wurde immer schlechter, auch wenn sie das nie zugeben würde.

»Alles in Ordnung, Oma?«, begrüßte Dora sie munter, während ihr Blick bereits auf Walter und Winnie gerichtet war, die nebeneinander auf dem Läufer zu Füßen ihrer Oma hockten. Nicks Bruder Danny war bei ihnen und baute geduldig Türme aus Holzklötzen, die sie mit ihren Patschhändchen wieder umwarfen.

Walter bemerkte Dora als Erster und begann prompt zu weinen. Winnie stimmte ein, und bald heulten beide aus voller Kehle.

»Typisch! Den ganzen Tag haben sie nicht geweint, bis du reingekommen bist«, brummelte Doras Großmutter.

»Sie sind bloß aufgeregt, sonst nichts. Hallo, ihr Süßen.« Dora hob beide hoch, hielt jedes Kind auf einem Arm und küsste ihre Pausbacken. Sie sahen ihrem Vater so ähnlich, dass es Dora das Herz brach. Beide hatten dunkle Locken und strahlend blaue Augen.

Dora vergrub ihr Gesicht an Winnies Hals und atmete sehnsüchtig den vertrauten Babygeruch ein. »War wirklich alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie richtige kleine Engel waren«, antwortete ihre Mutter, die mit dem Teetablett he­reinkam. »Ich musste eigentlich kaum auf sie aufpassen. Danny hat die ganze Arbeit gemacht, stimmt’s nicht, Dan?« Rose sah liebevoll zu dem jungen Mann hinüber, der auf dem Läufer kniete und die Bauklötze zusammenräumte. Danny antwortete mit einem scheuen, etwas schiefen Grinsen.

»Ja, der ist ganz hin und weg von den beiden«, pflichtete Doras Großmutter ihr bei.

»Das will ich auch meinen«, sagte Dora. »Sie sind ja deine Nichte und dein Neffe, nicht, Danny?«

Er nickte ernst. »Sie sind meine F-Familie. N-Nick hat gesagt, ich soll auf sie aufpassen, wenn e-er weg ist.«

»Ja, hat er.« Dora lächelte ihn an. Mit seinem dichten hellen Haar und den ausdruckslosen Augen mutete Danny Riley auf den ersten Blick etwas seltsam an. Er war Anfang zwanzig, hatte jedoch den Verstand eines Kindes. Seine Mutter erzählte jedem, er hätte einen schrecklichen Unfall gehabt, doch Nick hatte Dora gestanden, dass es die Prügel seines brutalen Vaters gewesen war, die seinen Bruder zu dem gemacht hatte, was er war. Nick hatte ihr auch erzählt, dass er, als er es herausgefunden hatte, dem Mistkerl selbst eine ordentliche Tracht Prügel verpasst hatte. Er hatte keine Einzelheiten erzählt, doch Dora kannte ihren Mann gut genug, um es sich auch so vorstellen zu können. Was immer Nick getan haben mochte, es hatte Reg Riley ausreichend verschreckt, dass er aus der Stadt geflohen und nie wiedergesehen worden war.

Seitdem beschützte Nick seinen Bruder. Neben ihr und den Kindern war Danny der einzige Mensch auf der Welt, den Nick Riley wahrhaft liebte.

Und Dora liebte Danny ebenfalls, weshalb sie mit Freuden zugestimmt hatte, dass er nach der Heirat zu ihnen ziehen würde. In einem guten Zuhause und umgeben von Liebe war Danny richtig aufgeblüht. Er fügte sich sehr gut in ihre glückliche Familie, und die Zwillinge waren seit ihrer Geburt sein Ein und Alles. Stundenlang spielte er geduldig mit ihnen, sang ihnen vor, zog alberne Grimassen für sie und ließ sie klaglos an seinen Haaren reißen. Er half Dora, sie ins Bett zu bringen, und saß dann noch Stunden bei ihnen, um sie im Schlaf zu beobachten und ihre winzigen Finger und Zehen zu bestaunen.

Nun wollte er Dora die beiden abnehmen, damit sie in Ruhe ihren Tee trinken konnte, doch Dora schaffte es nicht, sie schon wieder loszulassen. Sie setzte sich an den Tisch, auf jedem Knie einen Zwilling, und plauderte mit ihrer Mutter und Großmutter.

Sie erzählte ihnen alles über ihr Gespräch mit der Schwester Oberin und dass Letztere nicht recht verstehen konnte, warum Dora die Kinder allein lassen und wieder arbeiten gehen wollte.

»Na, recht hat sie, oder?«, sagte ihre Großmutter. »Es ist nicht richtig, dass eine Mutter arbeiten geht. Sie gehört nach Hause, zu ihren Kindern.«

Dora wurde kreuzunglücklich, doch wie so oft sprang ihre Mutter ihr bei.

»Hör sich das einer an, Ma! Du hast selber unten in der Wäscherei gearbeitet, als du mit Brenda und mir im neunten Monat warst, also sei du mal ganz still! Und bei mir war es auch nicht anders.« Sie wandte sich zu Dora. »Achte gar nicht auf sie, Dor. Sie ist bloß mal wieder auf Zank und Streit aus. Du hättest hören sollen, wie sie mit den Nachbarn redet. Da könnte man glatt denken, du bist Florence Nightingale persönlich, so wie sie rumtönt.«

»Tue ich nicht!«, widersprach Großmutter Winnie, und auf ihren schlaffen Wangen erschienen rote Flecken. »Und was dich angeht«, hier drehte sie sich zu Klein Alfie um, der das Pech hatte, ausgerechnet in diesem Moment zur Hintertür hereinzukommen, »du gehst sofort wieder raus und ziehst die dreckigen Stiefel aus, bevor du in meine saubere Küche kommst. Du trampelst mir hier nicht alles mit Matsch voll. Und du hast hoffentlich nicht wieder das verdammte Kaninchen gefüttert. Je schneller das in die Pastete wandert, desto besser, sage ich dir.«

Rose blickte über den Tisch hinweg zu Dora und zwinkerte ihr zu. Dora grinste. Typisch Großmutter Winnie. Gott bewahre, dass sie auf ihre alten Tage noch milde würde!

Rose stellte ihre Teetasse hin und stand auf. »Also ich lege lieber los, sonst kriege ich nie ein Essen auf den Tisch.«

»Kann ich helfen?«, fragte Dora.

Bevor ihre Mutter antworten konnte, richtete sich der schlaksige Danny ein wenig linkisch auf.

»Ich h-helfe«, sagte er. »Ich m-mag Kochen.«

»Na, da sage ich nicht nein.« Rose lächelte ihm zu. »Komm mit, Danny. Du kannst mir helfen, das Gemüse zu schnippeln.«

»Falls das verfluchte Kaninchen nicht schon alles gefressen hat«, brummelte die Großmutter.

Als sie fort waren, blickte Dora zum Kaminsims hinüber, auf dem ein offizieller blauer Militärumschlag lehnte. Dora hatte ihn gleich gesehen, als sie reingekommen war, und ihr Herz hatte schneller geschlagen, denn sie hoffte, dass es Post von Nick war. Doch bei näherem Hinsehen erkannte sie die saubere Handschrift, die so gar keine Ähnlichkeit mit der krake­ligen Schrift ihres Mannes hatte.

»Ist der von Josie?«, fragte sie.

»Ist er.« Ihre Großmutter angelte den Brief hinter der Uhr hervor und reichte ihn Dora. »Und das hier war auch dabei.« Sie gab Dora eine Schwarzweißfotografie. »Sieht sie nicht schick aus in ihrer Uniform?«

Dora hatte einen Kloß im Hals, als sie ihre kleine Schwester Josie in ihrer schneidigen WAAF-Uniform sah. »Sie sieht so erwachsen aus«, murmelte sie.

»Das habe ich auch schon zu deiner Mum gesagt. Kaum zu glauben, dass sie zwanzig ist, was?«

Dora starrte das lächelnde Gesicht ihrer Schwester an. Sie war die Einzige in der Familie, die das dunkle Haar und die schlanke Gestalt ihrer Mutter geerbt hatte und nicht das rote Haar und die kräftige Statur ihres Vaters. Und sie war die Stillste und die Klügste aus dem ganzen lärmigen Doyle-Clan. Josie und Dora waren einander sehr nahe. Nun war Josie oben in Lancashire und lernte, wie man Flugzeuge reparierte, und Dora vermisste sie fast so sehr wie ihren Nick.

Und es war noch ein Brief von Doras Schwägerin Lily gekommen. Nachdem Doras Bruder Peter eingezogen worden war, waren Lily und ihre kleine Tochter Mabel nach Kent evakuiert worden. Dora hätte mit ihnen gehen sollen, ertrug den Gedanken jedoch nicht, weit weg vom Rest der Familie zu sein.

Ihre zweite jüngere Schwester Bea kam rechtzeitig zum Abendessen von der Arbeit, und bald saßen sie alle plaudernd und streitend um den Tisch herum.

»Die anderen bei der Arbeit denken, dass sie jetzt bald bei uns einmarschieren«, verkündete Bea und füllte sich Kartoffeln auf.

Dora bemerkte Dannys ängstlichen Blick. »Dazu wird es nicht kommen«, sagte sie.

»Woher willst du das wissen?«, konterte Bea. »Es ist doch gut möglich, oder nicht? Sie sind schon in Holland, also sind wir die Nächsten.«

»Nicht mehr, seit Churchill das Sagen hat«, prophezeite die Großmutter zuversichtlich. »Der alte Haudegen wird Hitler den Marsch blasen, keine Bange.«

»Mir tun unsere Soldaten leid«, fuhr Bea mit vollem Mund fort. »Was glaubt ihr wohl, wie es unserem Pete geht, der da drüben festsitzt? Und deinem Nick«, ergänzte sie und sah Dora an.

»Dem wird schon nichts passieren, keine Sorge.« Dora bedachte ihre Schwester mit einem strengen Blick, damit sie Ruhe gab. Die siebzehnjährige Bea war eine unverbesserliche Unruhestifterin und sorgte für Aufruhr, wo immer sie konnte.

»Ja, aber …«

»Können wir über etwas anderes reden?«, fiel Dora ihr ins Wort. »Was wollte eigentlich Mickey Malone heute Morgen vor Tau und Tag an unserer Pforte hinten?«

Bea wurde rot. »Weiß ich doch nicht.«

»Ach nein? Er sah aus, als würde er auf dich warten.«

Rose legte ihr Besteck hin. »Mickey Malone? Hier? Mit dem hast du hoffentlich nichts zu schaffen, junges Fräulein!«, warnte sie.

»Seine Familie macht nichts als Ärger«, stimmte die Großmutter ein.

»Ich weiß gar nicht, was ihr meint«, murmelte Bea und sah wütend zu Dora. Dora hatte nicht vorgehabt, ihre Schwester in Schwierigkeiten zu bringen, aber wenigstens hörte Bea so auf, über Nick und den Krieg zu reden. Es war schon schwer genug, nicht in tiefe Verzweiflung zu verfallen, da musste ihre Schwester nicht noch alles schlimmer machen.

Nach dem Abendessen ging Dora nach oben, um die Zwillinge ins Bett zu bringen. Danny bestand darauf, ihr zu helfen.

»Willst du nicht lieber Radio hören?«, fragte Dora ihn. »Gleich müsste Sandy’s Half-Hour anfangen. Und du hörst doch so gerne die Musik.«

Nick hatte ihnen das Radio gekauft, kurz bevor er fortmusste, und es war Dannys ganzer Stolz. Er saß Stunden davor, drehte an den Knöpfen, presste sein Ohr an das blanke Holzgehäuse und grinste verzückt, wenn es in dem Kasten knisterte und pfiff. Danny hörte sich alles an. Er kicherte vor Freude bei It’s That Man Again, summte zur Musik mit und lauschte ernst den Nachrichten und der Ratgebersendung The Kitchen Front, obwohl er nicht verstand, worum es ging. Dora lächelte, wenn sie ihn so glücklich sah.

»Ich helfe dir l-lieber.« Er grinste sie scheu an. »A-außerdem sagst du immer, ich b-bekomme sie besser zum Sch-schlafen als du.«

Dora schmunzelte. »Das stimmt, Danny. Dann komm. Waschen wir die zwei und ziehen ihnen die Pyjamas an.«

Sie war verblüfft, wie geschickt Danny sich beim Windelwechseln anstellte. Dieser junge Mann, der zu ungeschickt war, um sich die Schuhe zuzubinden, war sehr sanft und sorgfältig, wenn es darum ging, die unterschiedlichen Stofflagen zu falten und festzustecken. Verglichen mit den tapsigen Lernschwestern, die Dora früher auf der Säuglingsstation erlebt hatte, nahm er sich wie ein Experte aus.

Sobald sie die Zwillinge gewaschen, gepudert und in ihren Pyjamas hatten, legte Dora sie in die Mitte des Doppelbettes und polsterte sie zu beiden Seiten ab, damit sie nicht hinauskullerten. Walter schlief sofort ein, doch Winnie strampelte greinend und streckte ihre kleinen Hände aus.

»Sie w-will Aggy«, sagte Danny, zog die ramponierte Stoffpuppe aus seiner Tasche und gab sie Dora. »O-ohne die schläft sie nicht.«

»Danke, Dan. Ich hätte mir denken können, dass du es nicht vergisst.« Dora nahm die Puppe und stopfte sie neben ihrer Tochter unter die Decke. Tatsächlich gab Winnie ein zufriedenes Seufzen von sich, und ihre Lider senkten sich flatternd.

Ließen sich doch nur all unsere Probleme so leicht lösen, dachte Dora.

Während Danny den Zwillingen vorsang, ging Dora den Wäschehaufen sortieren, den ihre Mutter ihr in der Ecke bereitgelegt hatte. »You Are My Sunshine«, sang Danny wie üblich. Er hatte gehört, wie Jimmie Davis das Lied im Radio sang, und seither summte er es immerzu.

Es war seltsam, dachte Dora. Wenn er sprach, stotterte Danny für gewöhnlich, doch aus irgendeinem Grund geriet er beim Singen niemals ins Stocken.

Dora stimmte ein und summte vor sich hin, während sie ein Hemd von Danny aufnahm, um es zusammenzulegen. Doch beim Anblick des Kleidungsstücks hielt sie inne. Wie kam es, dass sie selbst die einfachsten Tätigkeiten daran erinnern mussten, dass Nick nicht hier war? Seine Abwesenheit durchzog jeden Teil ihres Lebens, von dem Moment an, wenn sie morgens ohne ihn aufwachte, bis sie abends mit dem Gedanken an ihn einschlief.

»Nick kommt d-doch nach Hause, n-nicht, Dora?«

Sie blickte auf und war erschrocken, als sie hörte, wie Danny ihre Gedanken aussprach. Er hatte aufgehört zu singen und beobachtete sie aufmerksam. Dora hoffte nur, dass er nicht sah, wie sie sich hastig die Tränen wegwischte.

»Sicher wird er das, Dan.« Sie zwang sich, munter zu klingen.

»A-aber Bea hat gesagt …«

»Hör nicht auf Bea«, beruhigte Dora ihn umgehend. »Sie redet eine Menge Unsinn.«

Danny schwieg für eine Weile. »Nick w-wird doch nicht sterben, oder, Dora?«, fragte er schließlich.

Dora wandte sich von ihm ab und betete zu Gott, dass Danny nicht sah, wie Zweifel ihre Miene verdunkelten. Was auch in ihr vorgehen mochte, sie musste um ihrer Familie willen stark sein. »Natürlich wird er das nicht.«

Danny schwieg abermals, und Dora sah an seinem besorgten Gesichtsausdruck, dass er sich anstrengte, alles zu begreifen. »Auf j-jeden Fall wünsche ich mir, dass er aufhört zu k-kämpfen und nach Hause k-kommt«, sagte er nach einer längeren Pause.

Dora lächelte traurig und faltete das Hemd.

»Ich auch, mein Junge«, seufzte sie. »Ich auch.«