Erstausgabe 2009
Neu überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2020
Fast jede Region und jede Stadt besitzt ihre eigenen Sagen, Legenden und alte Geschichten. Diese Geschichten sind oft über Generationen nur mündlich überliefert worden. Schließlich wurden die meisten alten Erzählungen aber auch irgendwann einmal schriftlich festgehalten. Trotzdem gibt es auch heute noch Geschichten, von denen nur noch die Alten wissen, weil sie niemals niedergeschrieben wurden. Wer kann sich nicht an die Märchen erinnern, die früher die Eltern oder Großeltern zum Besten gaben? Und manche dieser Geschichten waren Überlieferungen, die sie selbst von ihren Eltern gehört hatten.
Als ich noch ein Kind war, da gehörten die Märchenstunden immer zu den Höhepunkten. Am liebsten hörte ich die Überlieferungen aus der eigenen Region. Denn dann konnte man sich bei einem Spaziergang, vorbei an den Überresten einer alten Eiche, vorstellen, wie dort in der Vergangenheit über die Hexen gerichtet wurde und man konnte die großen Felsbrocken im Wald liegen sehen, die angeblich der Teufel selbst dorthin geschleudert hatte. Irgendwann begann ich damit, solche Geschichten zu sammeln. Schließlich machte ich mich gezielt auf die Suche nach Legenden, Sagen und alte Geschichten meiner Heimatstadt Duisburg. Einen Teil dieser Geschichtssammlung möchte ich nun in diesem Buch interessierten Bürgern näher zu bringen. Einige Erzählungen hatte ich ja bereits gesammelt und als meine Sammelleidenschaft bekannt wurde, trug man mir noch weitere zu. Manche Geschichten bekam ich gleich mehrmals und obwohl sie identisch sein sollten, wichen sie untereinander in vielen Details ab. Es war nicht immer einfach, bei der Niederschrift einen richtigen Mittelweg zu finden, ohne dass wichtige Dinge verloren gingen. Bald hatte ich den Bekanntenkreis abgegrast und ich begab mich für weitere Recherchen in das Duisburger Stadtarchiv. Es war eine wahre Fundgrube. Nie hätte ich gedacht, dass es in unserer Stadt so viele Überlieferungen gibt. Ich fand in alten, vergilbten Texten genau das, wonach ich gesucht hatte. Teilweise waren die betagten Werke in schwer lesbaren, verschnörkelten Buchstaben niedergeschrieben und manche sogar in der alten Sprache, dem Duisburger Platt, die früher hier gesprochen wurde. Ohne Kenntnis dieser Sprache ist es fast unmöglich, die alten Texte perfekt zu übersetzen. Bei meinen Besuchen im Stadtarchiv stieß ich immer wieder auf Geschichten, von denen ich vorher niemals etwas gehört hatte. Diese Erzählungen aus alten Zeiten waren oft in der blumigen Aussprache der damaligen Zeit niedergeschrieben worden. Um den Lesern diese zeitgenössische Ausdrucksweise nahe zu bringen, habe ich einige Geschichten originalgetreu aus der aufgefundenen Literatur übernommen. Diese Erzählungen sind original so zitiert, wie sie in den alten Büchern zu finden sind. Bei der Suche nach alten Überlieferungen fühlte ich mich wie ein Schatzsucher, dessen Erfolg mit jeder neu entdeckten Legende stieg. Die vielen Stunden, die ich im Stadtarchiv verbracht hatte, habe ich nicht mehr gezählt. Trotz der großen Anzahl an gefundenen Geschichten bin ich mir bewusst, dass immer noch eine Fülle unentdeckter Erzählungen im Stadtarchiv, aber auch in den Köpfen von so manchen alten Duisburgern auf ihre Entdeckung warten.
Wer weiß schon, dass an einigen Orten in unserer Stadt noch unermessliche Schätze aus Gold, Silber und Edelsteine verborgen sein sollen und wer kennt die Berichte über Hexen, Teufel und Zwerge, die hier in Duisburg ihr Unwesen trieben? Ich hoffe, dem Leser mit dieser Lektüre das Leben, wie es früher einmal auf Duisburger Stadtgebiet stattfand und die Ereignisse, die sich hier abspielten, oder abgespielt haben sollen, etwas näher zu bringen.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern dieses Buches viel Spaß bei der Reise durch Duisburgs dunkle Geschichten, Mythen und Legenden.
Dieter Ebels
* * *
An einem schönen Herbstnachmittag des Jahres 1561 saßen auf dem Duisserner Berg an einer Stelle, von der aus man die Stadtmauern Duisburgs sehen konnte, drei fahrende Gesellen. Sie gehörten zu jener Art von Lateinschülern, die niemals lange an einem Ort und an einer Schule aushielten, sondern von Stadt zu Stadt zogen, einige deshalb, um berühmte Lehrer anderer Städte zu hören; die meisten aber, weil das ungebundene Zigeunerleben und die frischfreie Wanderschaft ihnen mehr zusagten, als ernsthaftes Studium. Unterwegs lebten sie von milden Gaben, von Betteln und Diebstahl. Manche dieser fahrenden Schüler studierten so ewig und alterten auf der Landstraße. Manche zogen bei beginnendem Alter, wenn die Unsicherheit der Lebenshaltung ihnen nicht mehr behagte, als Wunderdoktoren und Heilkundige umher und hatten bei der damaligen Unwissenheit des Volkes meist ein gutes Geschäft. Einige machten sich, wenn das Glück es wollte, als Stadtschreiber sesshaft, brachten es dann wohl zu einflussreichen Stellungen und wurden geachtete Bürger.
Die drei auf dem Duisserschen Berg machten verdrießliche Gesichter und schimpfen gewaltig. Sie waren heute morgen von Mühlheim abmarschiert, hatten sich unterwegs getrennt, um bei den Bauern im Guten oder Bösen Geld und Lebensmittel zu „fechten“ und hatten den weithin sichtbaren Hügelrücken als Treffpunkt bestimmt. Jedoch zeigte sich heute die Ausbeute mehr als mager. Daher saßen sie mürrisch, kauten an trockenen Brotrinden und gestohlenen Rüben und sahen auf die Stadt nieder, die dort unten lag.
Die beiden Jüngeren zankten mit dem Dritten, einem schon erwachsenen Menschen mit dichtem, schwarzem Vollbart und etwas sorgfältigerer Kleidung, der der Führer zu sein schien.
„Uns in so eine Gegend zu führen!“, schimpfte der eine. „Diese Bauern sind hartgesotten wie Krebse. Um eine Brotkruste zu ergattern, läuft man da drei, vier Höfe ab. Und misstrauisch sind die Kerle, passen auf wie Luchse. Ausgeschlossen, dass man so beiläufig ein Huhn mitnehmen kann!“
„Wenn das so weitergeht“, knurrte der andere, „dann geb ich die Landstreicherei auf, meld´ mich da unten bei der Duisburger Schule an und lerne bei Mercator das Landkartenzeichnen. Das soll augenblicklich viel Geld einbringen!“
Der Schwarze zuckte die Achseln. Er trank gleichmütig ein paar Eier aus, die er in irgendeinem Hühnerstall „gekauft“ hatte, und strich sich nachdenklich den Mund.
„Wenn es euch wieder zum Cicero und Aristoteles zieht, meinetwegen. Wer Vagant ist, muss mit guten und bösen Tagen rechnen. Das heißt – ihr habt Recht, uns geht es nicht gerade rosig. Und wenn der Winter kommt, wird es erst recht schlimm. Wir müssen versuchen, uns irgendwo warm hineinzusetzen. Nun ist mir, als wir in Mühlheim bei den Steinkohlegräbern zusahen, so ein Gedanke gekommen, den wir da unten vielleicht ausführen können.“
Er nestelte an seinem Ranzen und zog ein ziemlich neues Wams hervor, das er prüfend besah. Die Gefährten schielten gierig herüber.
„Zum Kuckuck, woher hast Du den Staat, Simon?“ „Bis vor kurzem“, sagte der Schelm, „gehörte er noch jenem Wirt, der uns in einer der letzten Nächte aufnahm. Ich ließ ihn, als wir morgens so früh aufbrachen, mitgehen. Nun soll er mir gute Dienste leisten, dass die wackeren Duisburger nicht gleich den Vogel erkennen, der ich bin. Auch euch muss ich etwas herausstaffieren, zerlumpt, wie ihr seid. Ich denke, dass die paar Gulden, die ich mir eigentlich für den Winter fort gesteckt hatte, langen werden.“
Die beiden drängten sich heran. „Was hast Du vor?“ Da entwickelte der Vagant Simon seinen beiden Spießgesellen einen feinen Plan…..
Ganz Duisburg war in heller Aufregung. Alle Mäuler hatten zu tun. Gerüchte liefen. Man erzählte es sich auf dem Markt, beim Bartscherer und Tuchhändler. Gruppen biederer Handwerksmeister standen in lebhaftem Gespräch auf der Gasse, selbst während der Arbeitszeit. Und heute tagte sogar der Rat deswegen. Der hohe Stadtrat, beide Bürgermeister und vierzehn Ratsherren. Und in dieser Sitzung ging es ziemlich bewegt zu.
Da hatte sich ein Mann beim Stadtsekretarius gemeldet, hatte erklärt, Meister der Gesteinskunde zu sein und auf Duisburger Gebiet mit seinen beiden Gesellen Kohlen graben zu wollen, gute, echte Steinkohlen. Dieser Meister Simon machte einen guten Eindruck, trug anständige Kleider und warf mit lateinischen Brocken um sich, dass es nur so schwirrte. Der schien die ganzen Eingeweide der Erde bis in ihre tiefsten Tiefen zu kennen.
Georgius Weimann, der einflussreiche Stadtsekretaruis, hatte sich für diese Pläne einnehmen lassen, hatte auch, noch ehe der Rat einberufen war, einigen Freunden davon erzählt. Es ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und auf einmal hatte ganz Duisburg das Kohlenfieber. Ha, nun würde man diesen Mühlheimern zeigen, dass man nicht auf sie angewiesen war; man würde, genau wie diese vielbeneideten Nachbarn das Geld scheffelweise aus dem Boden herausholen. Mancher stand mit überlegsamen Augen vor seinem Krautacker, seiner schlechten Schafweide. Wer konnte wissen, ob nicht gerade sein Boden ungeahnte Schätze barg?
Wie gesagt, in der entscheidenden Sitzung ging es sehr lebhaft zu. Meister Simon hatte noch einmal in wohlgesetzter Rede vor der hohen Versammlung seine Pläne dargetan. Danach war der Duisburger Grund und Boden seinen geübten Augen ganz besonders verheißungsvoll erschienen. Eine gründliche Untersuchung würde diesen ersten Eindruck gewiss bestätigen. Er riss mit sich fort. Die staunenden Stadtväter hörten gewaltige Förderziffern, sahen im Geiste bereits den ganzen Niederrhein mit Duisburger Steinkohle überschwemmt und die lieben Nachbarn von der Ruhr gänzlich aus dem Felde geschlagen.
Ganz besonders war es Herr Georgius Weimann, der in beredten Worten für Meister Simon eintrat. Zwar gab es auch gewichtige Gegenreden. Der erste Bürgermeister, Herr Walter Gym, ein kühl überlegender Mann, schüttelte hin und wieder den Kopf. Auch der Rentmeister knurrte missbilligend, weil ihn der Angriff auf den Stadtsäckel, der infolge der Grabereien und Gerätebeschaffung bevorstand, einen Schrecken einjagte. Von Seiten der Bürger meldete sich Gossen Holtgref, der Führer der „Seßtiener“, und meinte, man solle den Wald, in dem Meister Simon graben wolle, nur lieber weiterhin zur Eichelmast für die „Farkes“ benutzen. Da hätte man einen bescheidenen, aber sicheren Gewinn, anstatt unsicheren Versprechungen nachzujagen. Habe man nicht schon damals dem Wetzel Winnik im Stadtgebiet nach Salpeter graben lassen, um eigenes Pulver zu erzeugen? Was war dabei herausgekommen? Nichts als Kosten! Von Salpeter keine Spur! Er fürchte, dass es mit den Kohlen genau so gehen werde.
Aber er begegnete aus der Versammlung heraus doch starkem Widerspruch. Die hohen Förderziffern hatten die Köpfe verwirrt. Und als der Stadtsekretarius, dem man schon manchen guten Rat dankte, nochmals für die Sache sprach, wurde sie mit Stimmenmehrheit beschlossen. Meister Simon sollte auf Stadtkosten im Duisburger Wald nach Steinkohlen graben, wofür ihm und seinen Gesellen pro Tag anderthalb Gulden bewilligt wurden. Die Gerätschaften sollten vom Rentmeister in Mühlheim gekauft werden. Zwar wurde das gute Ergebnis einer nochmaligen, gründlichen Geländeuntersuchung im Beisein von Ratsmitgliedern zur Bedingung gemacht. Aber Meister Simon verstand seine Sache.
Man kam hochbefriedigt von der Besichtigung zurück und trank – aus dem „gemeinen Säckel“ – in der Weinschule 24 Quart Wein auf gutes Gelingen. Am „Hilligen Born“ sollte die Graberei losgehen, wenn es die Witterung erlaubte, noch dies Jahr, sonst im Frühling.
Meister Simon trabte nun jeden Tag mit seinen beiden Begleitern in den Wald hinaus und nahm Vermessungen und Erdproben vor. Ein früher Frost und Schneefall machte den eifrigen Arbeiten vorläufig ein Ende. Der Rentmeister zahlte seufzend den Dreien die vereinbarten Verpflegungskosten, während sie es sich in Duisburg wohl sein ließen. Alle Zweifler waren verstummt. Die grundbesitzenden Bürger rissen sich um Einladungen um die drei Gesteinskundigen, bekamen mancherlei Versprechungen und erwiesen sich erkenntlich. Einmal macht Meister Simon sogar eine längere Reise nach auswärts, wie er sagte, in ein anderes Bergwerksgebiet, um Erfahrungen zu sammeln. Dann kam der Frühling.
Die Gerätschaften, ein langes Seil, eine eisenbeschlagene Tonne und Grabzeug, waren längst beschafft, und nun begannen die Drei endlich am Hilligen Born zu wühlen wie die Maulwürfe.
Ungefähr ein Jahr nach jenem Herbsttag, an dem die drei Gesellen auf dem Duisserner Berg gesessen hatten, schritt Herr Stadtsekretarius Georgius Weimann durch den Duisburger Wald. Seil Ziel war der heilige Brunnen, an dem noch immer geschürft wurde, und er war in ausgezeichneter Stimmung.
Zwar hatte es inzwischen gerade wegen der Grabereien Ärger gegeben. Als sich nach langen Arbeiten noch immer kein Erfolg zeigte, begannen einige, die gleich zu Anfang gegen das Unternehmen waren, wieder zu zweifeln, zu murren. Sprachen von dem Geld der Stadt, das einfach ins Wasser geworfen wurde. Der Rat hatte sich wieder versammeln müssen, hatte eine leise Ermahnung zu größerem Eifer an Meister Simon nebst Gesellen gerichtet und überdies beschlossen, die Arbeit nicht mehr im Taglohn, sondern nach Maß der herausgeholten Erdmassen zu bezahlen. Simon versprach und beschwichtigte, aber der Zweifler wurden immer mehr. Gossen Holtgref und der Rentmeister waren neulich im amtlichen Auftrag draußen gewesen, hatten die Arbeit nachgemessen und besichtigt und hinterher mächtig über das Abenteuer der Stadt geschimpft.
Der Stadtsekretär war all dem Gerede bisher entgegen getreten. Gut Ding will Weile haben, und ein Farken wird nicht an einem Tag fett. Er fühlte sich gewissermaßen verpflichtet, an dies Unternehmen, das er eigentlich veranlasst hatte, auch zu glauben. Zuletzt war auch ihm bange geworden. Die Rechnung des Rentmeisters war bereits beängstigend lang.
Aber nun war sein Wagemut glänzend gerechtfertigt worden. Er pfiff fröhlich vor sich hin. Gestern Abend war der Meister Simon in besten Staat bei ihm gewesen, hatte eine sehr zuversichtliche, ja strahlende Miene zur Schau getragen und einige Flaschen feines besten Rheinweins mit ihm geleert. Hatte dabei einige Bemerkungen fallen lassen: Morgen würde die Stadt ihr blaues Wunder erleben und dergleichen. Zuletzt war er, der Stadtsekretarius, mit einer gewissen Feierlichkeit von dem Meister eingeladen worden, sich morgen Nachmittag an der Grabestelle höchstselbst einzufinden. Es werde ihm dort eine sehr wichtige Eröffnung gemacht werden. Darauf hatte Simon alle stürmischen Fragen unbeantwortet gelassen und war mit einem Lächeln gegangen.
Kein Zweifel – der Erfolg war da. Man war auf Kohlen gestoßen. Seine weise Voraussicht hatte sich wieder einmal bewährt. Wie standen die Nörgler nun da? Er aber war der Wohltäter der ganzen Stadt. Selbstverständlich kam es auch ihm zuerst zu – nicht etwa dem Bürgermeister – in dem Augenblick zugegen zu sein, wo die ersten unterirdischen Schätze ans Tageslicht geholt wurden.
Seine Schritte wurden immer beschwingter. Ordentlich warm wurde ihm unter dem feinen englischen Tuchrock. Wie prächtig die Sonne heute lachte! Und wie die Vögel im Holz sangen! Und eine Fülle von Eicheln gab es dies Jahr! Da mussten ja seine Borstentiere – für zwölf Stück stand ihm die Waldmast amtlich zu – wahre Fleischberge werden. O, Herr Stadtsekretarius Georguis Weimann war mit sich und der Welt höchlichst zufrieden!
Dahinten lag der Grabort, die Stätte seines Ruhms! Gelbe Massen von Erde, Sand und Steinen türmten sich zwischen den jungen Buchenheistern und Hülskrabbenbüschen. Eigentlich war der idyllische Waldwinkel recht verunstaltet. Aber was machte das? Wenn erst hier die vollbeladenen Steinkohlenwagen fortächzen würden zur Stadt!
Kein Geräusch von Picken oder Schaufeln war hörbar. Man wartete da unten wohl auf ihn. Er stieß einen fröhlichen Ruf aus, aber niemand antwortete. Er trat näher, blickte in die tiefe Grube hinunter. Das Seil lag unbeweglich, die Tonne, mit der man die Erde heraufwand, stand gefüllt unten. Personen waren keine zu sehen.
Ein wenig befremdet kletterte Herr Georgius Weimann schnaufend in die Tiefe, hielt noch einmal an und rief schallend. Nichts – kein Mensch und kein Laut. Auf einmal witterte er Unrat. Aber nein, das konnte doch nicht…….
Ganz verstört sah er sich unten um. Viel Steine und Sand. Keine Spur von Kohlen. Keine Spur von Meister Simon und seinen Gesellen.
Da! Oben auf der gefüllten Tonne lag ein Zettel, sorgfältig mit Steinchen beschwert. Der Sekretarius griff eilig danach. Eine schöne Handschrift. Ein lateinischer Vers, kurze Zeilen, wie sie die Lateinschüler zu Geburtstagen und Festen zu fertigen pflegten. Nun, das machte ihm, dem gelehrten Stadtschreiber, keine Schwierigkeiten. Aber bald begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen. Das war…..Das war…..das Blatt entsank seiner Hand, stöhnend, fassungslos, sank er auf einen Erdhaufen………
Das Verschen lautete, ins Deutsche übertragen, etwa:
Kohlen
Sind hier keine zu holen!
Euer Geld, das soll uns laben,
könnt selber weitergraben!!!
Zur selben Zeit wanderten fern durch den Wald, der sich am Schloss von Angermund hinzog, drei lustige Gesellen. Sie machten lange Schritte, schauten ab und zu lachend hinter sich und sangen:
Wir fahrenden Scholaren,
han weder Haus noch Zelt.
Die andern ducken sich im Nest,
wir han erkorn das allerbest:
Wir fahren in die Welt!
* * *
Vor langer, langer Zeit, als die Stadt Duisburg noch Duseberg geheißen hat, gab es einen wahrlich gottesfürchtigen Vorfall.
Eines Tages brach in der Stadt ein Feuer aus. Die Flammen verbreiteten sich in Windeseile und verschlangen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Überall in den, damals sehr engen Gassen, loderte eine fürchterliche Feuersbrunst. Die Bürger waren dagegen machtlos. Alle Versuche, das Feuer zu löschen, schlugen fehl. Jeder war bemüht, soviel von seinem Hab und Gut, wie er tragen konnte, zu retten, damit die Flammen nicht alles verschlingen konnten.
In einem der Häuser, die von dem Feuer noch nicht erreicht waren, wohnte eine Witwe. Diese hatte, nachdem ihr Mann verstorben war, in ihrem Haus einen Ausschank eröffnet. Die Frau war bei allen Bürgern sehr beliebt. Sie wurde von den Leuten besonders wegen ihrer Ehrlichkeit besonders geachtet, denn Ehrlichkeit war in der damaligen Zeit eine Tugend, die noch lange nicht jeder befolgte.
Als die Witwe nun sah, dass die wilde Feuersbrunst immer näher an ihr Haus heran rückte, bekam sie Angst, dass auch ihr Heim verbrennen würde. Das Haus mit dem Ausschank war alles, was sie noch hatte. Und als es schließlich so weit war und die ersten Funken auf ihr Dach prasselten, füllte sie die Krüge, in denen sie sonst das Bier ausschenkte, mit Wasser. Diese Krüge stellte sie vor die Türe ihres Hauses.
Dann betete sie:
„Gerechter Gott, wenn ich jemals in diesen Krügen falsches Maß geschenkt habe, so soll dieses Haus verbrennen, habe ich aber nach deinem Gebot gehandelt, so erfülle das Wort: Mit welchem Maß ihr messet, so soll auch euch gemessen werden.“
Da geschah ein Wunder. Das Haus der ehrlichen Witwe wurde von der Feuersbrunst geschont.
Alle Bürger, die miterlebt hatten, dass der liebe Gott die ehrliche Frau vor Schaden behütet hat, fielen, ergriffen von dem Wunder auf die Knie und beteten zum Herrn. Diese Geschichte sprach sich schnell herum und immer wieder versammelten sich die Leute vor dem verschonten Haus, um Gott im Himmel zu preisen.
* * *
In den Jahren von 1756 bis 1763 wurde Europa vom Siebenjährigen Krieg heimgesucht. Alles begann damit, dass sich Kaiser Friedrich der Zweite von Preußen zu einem Präventivkrieg entschloss und Sachsen besetzte. Schließlich schlug er auch noch Schlachten in Böhmen und Schlesien. So hatte sich der Kaiser eine Menge Feinde gemacht und musste sich denen auch erwehren. Sein Erbfeind England, genauer gesagt, das englische Hannover, das auf der Seite Preußens stand, wurde in unseren Breiten von den Franzosen hart bekämpft.
Überall litt die Bevölkerung an den grausamen Wirren dieses Krieges. Auch vor unsere Heimatstadt machte der Krieg keinen Halt. Die französischen Truppen waren darauf aus, die preußische Festung Wesel zu ihrem Eigen zu machen. Damals hatte das französische Heer alles besetzt. Es versetzte die Bürger in Angst und Schrecken. Besonders schlimm hausten die Franzosen in Ruhrort und Duisburg. Ganze vier Jahre hielten sie hier Quartier und unterjochten die Bevölkerung. So mussten die Bürger Fleisch, Brot, Wein und Schnaps für die Soldaten und Hafer und Stroh für deren Pferde liefern. Als Bezahlung für diese Dienste gab es meistens nur irgendwelche Grobheiten von den Soldaten. Die Abgaben und Lasten der Bürger wurden immer unerträglicher. Die rücksichtslosen Unverschämtheiten und Begehrlichkeiten der Soldaten brachten immer mehr Leid und Kummer über die Bevölkerung.
Zu den schlimmsten Peinigern gehörte der französische General Fischer, der mit seinem Korps nahe Duisburg Station machte. Von seinen Truppen fielen oft mehrere tausend Mann in die Stadt ein und bemächtigten sich allem, was sie ergreifen konnten. Sämtliche Küchen und Kammern in der Stadt wurden leergegessen. Das Einzige, was sie zurück ließen, war Jammer und Elend.
Eines Tages hielt der Pfarrer Henke von der Johanniskirche einen Gottesdienst ab. In seiner Predigt klagte er vor Gott die große Not seiner Gemeinde. Er betete zusammen mit den Gläubigen zu Gott, damit ihnen in ihrem Elend bald geholfen werde. Während der Predigt des Pfarrers Henke betrat ein Mann das Gotteshaus. Es war der französische General Fischer. Als der Gottesdienst beendet war, begab sich der General zum Pfarrer und stellte ihn wegen der anprangernden Andacht zur Rede. Der Pfarrer zeigte keine Furcht vor dem General, sondern erzählte von den Abscheulichkeiten der Soldaten. Dann fragte er den General, ob der Anführer solcher Truppen nicht den Namen eines Teufels verdiene. General Fischer bewunderte den Mut des Kirchenmannes. Bisher hatte es keiner gewagt, ihn mit einem Teufel zu vergleichen und hätte es jemand getan, dann wäre er dafür sofort hingerichtet worden. Doch irgendwie nahm der General es dem Pfarrer nicht übel. Er wurde sogar sehr nachdenklich, denn irgendetwas musste an den Worten des Kirchenmannes wohl dran sein. Als der Pfarrer die Nachdenklichkeit seines Gegenübers bemerkte, handelte er sofort. Er lud den General zum Essen ein. Dieser war überrascht und sagte sofort zu. Als sie sich an den gedeckten Tisch setzten, war der General sehr verwundert, denn alles, was der Pfarrer ihm anbot, war Brot, Salz und Wasser.
„Wollt ihr mich etwa mit so einem kärglichen Essen beleidigen?“, fragte der General den Pastor Henke.
„Nein, mein Herr“, antwortete der Pfarrer. „Das, was hier auf dem Tisch steht, ist alles, was eure Soldaten übrig gelassen haben. Möge Gott mich bestrafen, wenn ich nicht die Wahrheit sage.“
Als der General später zu seinen Truppen zurück kehrte, war es schon sehr spät. Dennoch ließ er noch am gleichen Abend reichlich Lebensmittel aller Art in das Pfarrhaus bringen. Dann erließ er den Befehl, die Plünderungen zu unterlassen und die Bürger nicht mehr so abscheulich zu bedrücken.
Von diesem Tage an hatte die Bevölkerung ein etwas besseres Leben, soweit man in Kriegsjahren von einem besseren Leben reden kann. Das alles hatten sie dem Mut ihres Pfarrers zu verdanken.
* * *