Frank Herberts große WÜSTENPLANET-Saga in sechs Bänden:

Der Wüstenplanet

Der Herr des Wüstenplaneten

Die Kinder des Wüstenplaneten

Der Gottkaiser des Wüstenplaneten

Die Ketzer des Wüstenplaneten

Die Ordensburg des Wüstenplaneten

FRANK HERBERT

DER GOTTKAISER DES

WÜSTEN

PLANETEN

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Jakob Schmidt

Titel der Originalausgabe:

GOD EMPEROR OF DUNE

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Neuausgabe 12/2021

Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 1981 by Herbert Properties LLC

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von iStockphoto (Sylphe_7, dottedhippo)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25205-2
V001

www.diezukunft.de

Auszug aus der Rede von Hadi Benotto, in der die Entdeckungen bei Dar-es-Balat auf dem Planeten Rakis verkündet wurden:

Es ist mir nicht nur ein Vergnügen, Ihnen heute Morgen die Entdeckung dieses erstaunlichen Lagerraums bekannt zu geben, der unter anderem eine riesige Sammlung von Manuskripten auf ridulianischem Kristallpapier enthält. Ich bin auch stolz, Ihnen schon jetzt darlegen zu können, warum wir diese Funde für authentisch halten und davon überzeugt sind, auf die ursprünglichen Tagebücher von Leto II., dem Gottkaiser, gestoßen zu sein.

Gestatten Sie mir als Erstes, Ihnen den historischen Schatz in Erinnerung zu rufen, der unter der Bezeichnung »Die gestohlenen Tagebücher« bekannt ist, jene uralten Bände, die uns viele Jahrhunderte lang dabei geholfen haben, unsere Vorfahren zu verstehen. Wie Sie alle wissen, wurden die gestohlenen Tagebücher von der Raumgilde entziffert, und derselbe Gildenschlüssel wurde nun auch für die Übersetzung der neu entdeckten Manuskripte verwendet. Nur mit ihm lassen sich diese Texte übersetzen – es ist also anzunehmen, dass die Manuskripte genauso alt sind wie die gestohlenen Tagebücher.

Zweitens: Das ixianische Diktakel, mit dem die Manuskripte erstellt wurden, ist sogar noch älter als der Schlüssel. Dank der gestohlenen Tagebücher wissen wir zweifelsfrei, dass es sich hierbei um die Methode handelte, mit der Leto II. seine historischen Betrachtungen festhielt.

Und drittens: Der Lagerraum selbst hat unserer Überzeugung nach eine ähnlich große Bedeutung wie die entdeckten Manuskripte. Es handelt sich um ein ixianisches Artefakt von so urtümlicher und doch so erstaunlicher Bauweise, dass es die als »Die Zerstreuung« bekannte Epoche in einem neuen Licht erscheinen lassen wird. Erwartungsgemäß war dieser Raum unsichtbar. Er war weit tiefer vergraben, als uns die Mythen und mündlichen Überlieferungen vermuten ließen, und er ahmte durch die Aufnahme und Abgabe von Strahlung die Eigenschaften seiner Umgebung nach, eine mechanische Mimesis, die uns an und für sich nicht überraschte. Überraschend für unsere Techniker war allerdings, dass man diese Mimesis mit den rudimentärsten und primitivsten mechanischen Mitteln bewerkstelligt hat.

Wie ich sehe, sind viele von Ihnen darüber nicht weniger begeistert als wir.

Wir glauben, dass wir es hier mit dem ersten ixianischen Globus zu tun haben, dem Nicht-Raum, aus dem sich alle weiteren Artefakte dieser Art entwickelt haben. Und selbst wenn es sich nicht um das erste Exemplar handelt, dann ist es zumindest eines der ersten, das diesen Prinzipien folgt.

Wir werden Ihre offenkundige Neugier mit einem Rundgang durch den Lagerraum befriedigen, der in Kürze beginnen wird. Ich möchte Sie jetzt schon darum bitten, sich dabei so ruhig wie möglich zu verhalten, da unsere Techniker und andere Spezialisten nach wie vor damit befasst sind, den Geheimnissen des Artefakts auf die Spur zu kommen.

Was mich zu meinem vierten Punkt bringt, bei dem es sich womöglich um die Krönung unserer Entdeckung handelt. Mit Gefühlen, die ich kaum beschreiben kann, präsentiere ich Ihnen einen weiteren Fund, den wir an diesem Ort gemacht haben: eine mündliche Aufzeichnung, die Leto II. mit der Stimme seines Vaters Paul Muad’Dib angefertigt hat. Da sich in den Archiven der Bene Gesserit authentifizierte Sprachaufnahmen des Gottkaisers befinden, haben wir eine Probe unserer Aufzeichnung, die mittels eines uralten Mikroblasensystems erstellt wurde, an die Schwesternschaft übermittelt und sie um einen Abgleich ersucht. Wir hegen keine Zweifel daran, dass sich die Aufzeichnung als echt erweisen wird.

Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nun also bitte den übersetzten Auszügen zuwenden wollen, die wir zu Beginn verteilt haben. Ich entschuldige mich bei dieser Gelegenheit für ihr enormes Gewicht. Einige von Ihnen habe ich schon darüber scherzen gehört. Wir haben aus einem ganz praktischen Grund gewöhnliches Papier verwendet – aus Sparsamkeit. Die Schriftzeichen in den Originalmanuskripten sind so klein, dass man sie stark vergrößern muss, um sie lesen zu können. Tatsächlich braucht man mehr als vierzig gewöhnliche Bände, um den Inhalt auch nur eines ridulianischen Kristalls wiederzugeben.

Wenn der Projektor dann … ja. Auf dem Schirm zu Ihrer Linken sehen Sie einen Teil einer Originalseite, genauer gesagt der ersten Seite des ersten Bandes. Auf dem Schirm zu Ihrer Rechten sehen Sie unsere Übersetzung. Beachten Sie die textimmanenten Hinweise, die poetische Eitelkeit der Wortwahl und die Bedeutung, die wir aus der Übersetzung ableiten können. Der Stil weist auf eine identifizierbare und konsistente Persönlichkeit hin. Wir sind der Überzeugung, dass dieser Text nur von jemand geschrieben werden konnte, der die Erweiterte Erinnerung unmittelbar erlebt hat. Jemand, der sich bemühte, diese außergewöhnliche Erfahrung früherer Leben so zu vermitteln, dass auch diejenigen sie nachvollziehen können, die nicht über diese Gabe verfügen.

Betrachten Sie nun den eigentlichen Inhalt. Alle internen Bezüge passen zu dem, was über jene Person überliefert ist, die unserer Meinung nach als einzige einen solchen Bericht hätte verfassen können.

An dieser Stelle haben wir noch eine weitere Überraschung für Sie. Ich habe mir erlaubt, den bekannten Dichter Rebeth Vreeb einzuladen, damit er eine kurze Passage aus unserer Übersetzung vorliest. Wir haben nämlich festgestellt, dass die Worte einen anderen Charakter gewinnen, wenn man sie laut liest. Wir möchten diese außergewöhnliche Eigenschaft des Textes nun mit Ihnen teilen.

Begrüßen Sie bitte Rebeth Vreeb!

Aus der Lesung von Rebeth Vreeb:

Ich versichere euch, dass ich das Buch des Schicksals bin.

Fragen sind meine Feinde. Denn meine Fragen explodieren. Antworten flattern empor wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm und verdunkeln den Himmel meiner unentrinnbaren Erinnerungen. Eine Antwort ist nie genug.

Welches Farbenspiel aufblitzt, wenn ich das furchtbare Feld meiner Vergangenheit betrete! Ich bin ein Feuersteinsplitter in einer Schachtel. Die Schachtel dreht sich und erzittert. Ich werde im Sturm der Geheimnisse umhergeworfen. Und wenn sich die Schachtel wieder öffnet, kehre ich in dieses Dasein zurück wie ein Fremder in ein urtümliches Land.

Langsam (langsam, sage ich) erinnere ich mich wieder an meinen Namen.

Aber das heißt nicht, dass ich mich selbst kenne.

Die Person meines Namens, dieser Leto, der als Zweiter so genannt wurde, findet andere Stimmen in seinem Kopf, andere Namen, andere Orte. Oh, ich verspreche euch (wie man es mir versprochen hat), dass ich nur auf einen Namen hören werde. Wenn ihr »Leto« sagt, antworte ich. Weil man es duldet, wird es wahr. Und noch aus einem anderen Grund: Ich halte die Fäden in der Hand!

Sie alle gehören mir. Ich muss mir nur ein Thema vorstellen, zum Beispiel »Männer, die durch das Schwert den Tod fanden«, und schon habe ich sie in allen blutigen Einzelheiten vor mir, höre jedes Stöhnen, sehe jedes schmerzverzerrte Gesicht.

Wenn ich »Freuden der Mutterschaft« denke, sind die Wochenbetten mein. Ich sehe ein Babylächeln nach dem anderen, höre das süße Gurren neuer Generationen. Ich erlebe die ersten Schritte der Kleinkinder und habe an den ersten Siegen der Jungen teil. Sie alle purzeln in mir übereinander, bis ich kaum noch etwas anderes wahrnehme als Gleichförmigkeit und Wiederholung.

»Bewahre das alles gut«, ermahne ich mich.

Wer kann den Wert solcher Erfahrungen bestreiten, den Wert des Lernens, dem ich jedem neuen Augenblick beimesse?

Ah, aber das ist die Vergangenheit.

Versteht ihr nicht?

Es ist nur die Vergangenheit!

Heute Morgen wurde ich in einer Jurte am Rande einer Reiterebene geboren, in einem Land auf einem Planeten, der nicht mehr existiert. Morgen werde ich als jemand anderer an einem anderen Ort geboren werden. Wo und als wer habe ich noch nicht entschieden. Aber heute Morgen – ah, dieses Leben! Nachdem meine Augen zu sehen gelernt hatten, blickte ich hinaus in den Sonnenschein und über das niedergetrampelte Gras und sah Menschen, die eifrig ihrem süßen Tagewerk nachgingen. Wo … wo ist nur all dieser Tatendrang hin?

– Die gestohlenen Tagebücher

Die drei Menschen, die im Verbotenen Wald durch die Mondschatten Richtung Norden rannten, waren über beinahe einen halben Kilometer verteilt. Der letzte von ihnen hatte weniger als hundert Meter Vorsprung vor den D-Wölfen, die sie verfolgten. Sie hörten das gierige Kläffen und Japsen, das diese Tiere von sich geben, wenn ihre Beute in Sicht ist.

Da der Erste Mond fast genau über ihnen stand, war es ziemlich hell im Wald, und obwohl sie sich in den höheren Breitengraden von Arrakis befanden, war es nach wie vor warm von der Hitze des Sommertags. Der nächtliche Lufthauch, der aus der Sareer, der Letzten Wüste, herüberwehte, trug den Geruch von Harz und die feuchten Ausdünstungen des Mulchs unter den Füßen der Laufenden mit sich, und ab und an streifte sie eine Brise vom Kynes-Meer jenseits der Sareer und ließ sie Salz- und Fischgerüche erahnen.

Es war eine Laune des Schicksals, dass der letzte der Laufenden Ulot hieß – »Geliebter Nachzügler« in der Sprache der Fremen. Ulot war gedrungen und neigte zur Dickleibigkeit, weshalb er bei der Vorbereitung für ihr Unterfangen besonders auf seine Ernährung geachtet hatte. Aber obwohl er für ihren verzweifelten Lauf abgenommen hatte, war sein Gesicht noch rund, und seine großen braunen Augen wirkten verwundbar.

Ulot war sich darüber im Klaren, dass er nicht mehr sehr lange rennen konnte. Er keuchte und schnaufte, hin und wieder stolperte er. Aber er rief nicht nach seinen Gefährten. Er wusste, dass sie ihm nicht helfen konnten. Sie hatten alle den gleichen Eid geschworen, im Wissen, dass sie nichts zu ihrer Verteidigung besaßen außer den alten Tugenden und die Frementreue. Das war immer noch eine Wahrheit, auch wenn alles, was die Fremen betraf, inzwischen Museumscharakter hatte – die Museumsfremen lernten es auswendig und ahmten es nach.

Es war die Frementreue, die Ulot schweigen ließ, obwohl er wusste, dass er verloren war. Er war eine beispielhafte Verkörperung dieser uralten Eigenschaft, aber auch eine tragische, denn die Läufer hatten dieses Wissen nur aus Büchern und mündlich überlieferten Legenden über die Tugenden ihrer Vorfahren.

Die D-Wölfe liefen dicht hinter Ulot, riesige graue Gestalten, deren Schulterpartien mannshoch über dem Boden aufragten. Voller Jagdeifer sprangen sie in weiten Sätzen dahin und jaulten, die Köpfe erhoben und die Blicke fest auf ihre Beute gerichtet, die ihnen das Mondlicht preisgab.

Ulots linker Fuß verfing sich in einer Wurzel, und er wäre beinahe gestürzt. Das verlieh ihm neue Energie. Er rannte schneller und gewann so etwa eine Wolfslänge Vorsprung, die Fäuste geballt und laut durch den offenen Mund atmend.

Die D-Wölfe liefen nicht schneller. Sie waren silberne Schatten, die durch die lauten grünen Gerüche des Waldes huschten. Sie wussten um ihren Sieg. Es war ein ihnen vertrautes Gefühl.

Wieder strauchelte Ulot. Er fing sich an einem Schössling ab und setzte seinen Lauf keuchend fort. Zitternd begehrten seine Beine gegen die ihnen zugemuteten Anstrengungen auf. Ihm fehlte einfach die Kraft, um erneut zu beschleunigen.

Einer der D-Wölfe, ein großes Weibchen, überholte ihn links und schnitt ihm mit einem Satz den Weg ab. Riesige Fänge rissen an Ulots Schulter und ließen ihn taumeln, aber er fiel nicht. Der durchdringende Geruch von Blut gesellte sich zu den Gerüchen des Waldes. Dann, als ihn ein kleineres Männchen an der rechten Hüfte erwischte, ging Ulot schreiend zu Boden. Das Rudel stürzte sich auf ihn, und seine Schreie verstummten abrupt.

Die D-Wölfe fraßen nicht, sondern nahmen die Jagd gleich wieder auf, suchten den Waldboden mit ihren Nasen ab, witterten in die Luftströmungen und fanden die warmen Spuren der beiden anderen rennenden Menschen.

Der nächste Läufer vor ihnen hieß Kwuteg, ein alter und ehrenhafter Name auf Arrakis aus der Zeit, als man diese Welt noch Wüstenplanet genannt hatte. Einer seiner Vorfahren hatte in Sietch Tabr als Meister der Todesdestillen gedient, aber das war vor über dreitausend Jahren gewesen, eine Vergangenheit, an die nur noch wenige glaubten. Kwuteg, dessen hochgewachsener, schlanker Körper wie geschaffen für das Laufen war, rannte mit weiten Schritten. Sein langes schwarzes Haar flatterte hinter dem Falkengesicht. Wie seine Gefährten trug er einen schwarzen Laufanzug aus fest gewebter Baumwolle, unter dem sich die Bewegung der Pobacken und der sehnigen Schenkel so deutlich abzeichnete wie sein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Nur seine für Kwutegs Verhältnisse geringe Geschwindigkeit verriet, dass er sich am rechten Knie verletzt hatte, als er von den menschengemachten Felswänden herabgesprungen war, die die Zitadelle des Gottkaisers in der Sareer umgaben.

Kwuteg hörte Ulots Schreie, die plötzliche Stille, dann das erneute Jagdkläffen der D-Wölfe. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, wie ein weiterer seiner Freunde von Letos monströsen Wächtern getötet worden war, aber er konnte seiner Fantasie nicht entrinnen. In Gedanken stieß er einen Fluch auf den Tyrannen aus, er verschwendete jedoch keinen Atem darauf, ihn laut auszusprechen. Er hatte noch die Chance, die Zuflucht am Idaho-Fluss zu erreichen. Kwuteg wusste, was seine Freunde über ihn dachten – sogar Siona. Er war immer als konservativ bekannt gewesen. Schon als Kind hatte er sich seine Kräfte aufgespart, sich seine Reserven eingeteilt, bis es wirklich darauf ankam.

Trotz des verletzten Knies lief er nun schneller. Er wusste, dass der Fluss nahe war. Der Schmerz, ein ununterbrochenes Brennen, hatte mittlerweile sein ganzes Bein und seine Hüfte erfasst. Er kannte die Grenzen seiner Ausdauer. Er wusste auch, dass Siona schon fast am Wasser war. Als schnellste Läuferin trug sie das versiegelte Bündel bei sich, das Bündel mit den Dingen, die sie aus der Festung in der Sareer gestohlen hatten. Während er weiterrannte, fokussierte Kwuteg seine Gedanken darauf.

Rette es, Siona! Verwende es, um ihn zu vernichten!

Dann schoben sich wieder die Geräusche der D-Wölfe in sein Bewusstsein. Sie waren zu nahe. Kwuteg wurde bewusst, dass er ihnen nicht entkommen würde.

Aber Siona muss entkommen!

Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass einer der Wölfe gerade dazu ansetzte, ihm von der Seite den Weg abzuschneiden. Er erkannte das Muster ihrer Attacke. Im selben Moment, in dem der Wolf sprang, sprang auch Kwuteg. So brachte er einen Baum zwischen sich und das Rudel. Dann duckte er sich hinter den Wolf, der von der Seite kam, packte mit beiden Händen eines der Hinterbeine und schwang das Tier wie einen Dreschflegel, sodass die anderen Wölfe auseinanderstoben. Als Kwuteg feststellte, dass die Kreatur nicht so schwer war wie erwartet, wirbelte er – fast froh darüber, dass nun etwas Neues geschah – wie ein Derwisch herum und schlug mit seiner lebenden Keule nach den Angreifern, von denen zwei zu Boden gingen, als die Schädel aufeinander krachten. Aber er konnte sich nicht nach allen Seiten absichern. Ein drahtiges Männchen sprang ihm in den Rücken und schleuderte ihn gegen einen Baum, sodass er den Wolf loslassen musste.

»Lauf!«, schrie er.

Das Rudel stürzte sich auf ihn, und Kwutegs Zähne erwischten die Kehle des drahtigen Wolfs. Mit verzweifelter Kraft biss er zu. Wolfsblut spritzte ihm ins Gesicht und in die Augen. Blind rollte er herum und packte dabei einen weiteren Wolf. In diesem wirbelnden, kläffenden Durcheinander wandten sich einige der Tiere gegen ihre verletzten Artgenossen. Doch der Großteil ließ sich nicht von der eigentlichen Beute ablenken. Von beiden Seiten zerrissen Wolfszähne Kwutegs Hals.

Auch Siona hatte Ulots Schrei und die Stille danach wahrgenommen, sowie das Kläffen des Rudels, als es die Verfolgung wieder aufgenommen hatte. Sie hätte explodieren können vor Zorn. Sie hatten Ulot wegen seiner analytischen Fähigkeiten mitgenommen. Anhand nur weniger Teile konnte er ein Ganzes erkennen. Es war Ulot gewesen, der mit gezücktem Vergrößerungsglas die beiden sonderbaren Bände untersucht hatte, die sie zusammen mit den Lageplänen der Zitadelle gefunden hatten.

»Ich glaube, sie sind verschlüsselt«, hatte er gesagt.

Und Radi, armer Radi, der erste von ihnen, der gestorben war … Radi hatte gesagt: »Wir können uns das zusätzliche Gewicht nicht erlauben. Wirf sie weg.«

»Etwas Unwichtiges verbirgt man nicht so gut«, hatte Ulot widersprochen.

»Wir sind wegen der Lagepläne gekommen, und die haben wir«, hatte Kwuteg Radi beigepflichtet. »Diese Dinger sind zu schwer.«

Aber Siona war auf Ulots Seite gewesen. »Ich trage sie.«

Damit war der Streit beendet gewesen.

Armer Ulot.

Sie alle hatten gewusst, dass er der langsamste Läufer in ihrer Gruppe war. Ulot war in den meisten Dingen langsam, aber die Klarheit seines Verstands war unbestreitbar.

Er ist vertrauenswürdig.

Er war vertrauenswürdig.

Siona nutzte die Energie, die ihr der Zorn verlieh, um schneller zu laufen. Bäume peitschten im Mondlicht an ihr vorbei. Sie befand sich in der zeitlosen Leere des Rennens, in der es nichts gab außer den eigenen Bewegungen, außer ihrem Körper, der tat, worauf man ihn konditioniert hatte.

Männer fanden sie schön, wenn sie rannte. Siona wusste das. Ihr langes dunkles Haar war zu einem festen Knoten gebunden, sodass es nicht hinter ihr im Wind flatterte. Sie hatte Kwuteg Dummheit vorgeworfen, als er sich geweigert hatte, es ebenso zu machen.

Wo ist Kwuteg?

Anders als Kwutegs Haar war ihres von jenem tiefen Braun, das zuweilen für Schwarz gehalten wird, aber nicht wirklich schwarz ist. Wie die Gene es manchmal wollten, glich ihr Gesicht dem einer lange toten Vorfahrin: oval, mit einem üppigen Mund und wachsam blickenden Augen über einer kleinen Nase. Ihr Körper war von den Jahren des Rennens hager und sehnig, trotzdem sandte er starke sexuelle Signale aus.

Wo ist Kwuteg?

Das Wolfsrudel war verstummt. Das beunruhigte sie. Die Tiere hatten das Gleiche getan, kurz bevor sie Radi zur Strecke gebracht hatten. Und ebenso bei Setuse.

Sie sagte sich, dass die Stille auch etwas anderes bedeuten konnte. Kwuteg war ebenfalls still … und stark. Seine Verletzung hatte ihm nicht besonders viel ausgemacht.

Jetzt spürte Siona erste Schmerzen in der Brust, die eine Atemnot ankündigten, wie sie bei ihren vielen Trainingsläufen gelernt hatte. Unter dem dünnen, schwarzen Laufanzug rann der Schweiß an ihr herab. Sie hatte sich das Bündel, das wasserdicht verpackt war, um den kostbaren Inhalt auf dem Weg durch den Fluss zu schützen, auf den Rücken geschnallt. Sie dachte an die Lagepläne der Zitadelle, die sich darin befanden.

Wo versteckt Leto nur sein Gewürz?

Es musste sich irgendwo in der Zitadelle befinden. Es gab keine andere Möglichkeit, und in den erbeuteten Lageplänen würden sie bestimmt einen Hinweis darauf finden, wo es gelagert war. Das Melange-Gewürz, nach dem die Bene Gesserit, die Gilde und alle anderen hungerten – das war der Preis, der all die Risiken wert war.

Und die beiden rätselhaften Bände … In einer Hinsicht hatte Kwuteg recht gehabt: Ridulianisches Kristallpapier war schwer. Aber sie teilte Ulots Meinung, dass in diesen verschlüsselten Zeilen etwas Wichtiges verborgen war.

Hinter ihr im Wald erklang das gierige Jagdkläffen der Wölfe.

Renn, Kwuteg! Renn!

Vor ihr zwischen den Bäumen konnte sie schon den breiten, gerodeten Uferstreifen entlang des Idaho-Flusses sehen und erhaschte einen Blick auf das mondbeschienene Wasser.

Renn, Kwuteg!

Sie sehnte sich nach einem Laut, nach irgendeinem Geräusch von ihm. Von den elf Menschen, die losgelaufen waren, waren nur sie beide übrig geblieben. Neun hatten ihr Unterfangen mit dem Leben bezahlt: Radi, Aline, Ulot, Setuse, Inineg, Onemao, Hutye, Memar und Oala. Siona sprach in Gedanken ihre Namen und sandte bei jedem ein stummes Gebet an die alten Götter, nicht an den Tyrannen Leto. Und vor allem betete sie zu Shai-Hulud.

Ich bete zu Shai-Hulud, der im Sand lebt.

Plötzlich war sie aus dem Wald heraus und auf dem Uferstreifen. Direkt vor ihr, hinter einem schmalen Saum aus grobem Kies, lockte das Wasser. Der Sand vor dem öligen Strom glitzerte silbrig im Mondlicht.

Ein lautes Jaulen aus den Bäumen hinter ihr ließ sie beinahe straucheln. Sie hörte Kwutegs Stimme inmitten der Geräusche der Wölfe. Er rief nach ihr, ohne ihren Namen auszusprechen, es war ein Schrei, der in einem Wort zahllose Gespräche umfasste, eine Nachricht von Tod und Leben.

»Lauf!«

Die Laute des Rudels verwandelten sich in ein entsetzliches Gewinsel und Gekläffe, aber von Kwuteg war nichts mehr zu hören. Da wusste sie, was er in den letzten Augenblicken seines Lebens tat.

Er hält sie auf, damit ich entkommen kann.

Ohne länger zu zögern, rannte sie ans Ufer und sprang kopfüber ins Wasser. Erhitzt, wie sie war, traf sie die Kälte des Flusses wie ein Schock, und für einen Moment trieb sie benommen stromabwärts. Dann bekam sie wieder Luft und begann zu schwimmen. Das kostbare Bündel stieß von hinten gegen ihren Kopf.

An diesem Abschnitt war der Idaho-Fluss nicht besonders breit, keine fünfzig Meter. Er beschrieb einen weiten Bogen mit sandigen Einbuchtungen und war von Wurzeln, Schilfdickicht und Gras gesäumt, wo sich das Wasser geweigert hatte, entlang der geraden Bahnen zu fließen, die Letos Baumeister geschaffen hatten. Siona wusste, dass man die D-Wölfe darauf abgerichtet hatte, am Wasser anzuhalten, und das gab ihr Kraft. Man hatte ihrem Revier klare Grenzen gesetzt – auf der einen Seite der Fluss, auf der anderen der Wüstenwall. Trotzdem schwamm Siona die letzten Meter unter Wasser und tauchte im Schatten einer steilen Böschung wieder auf, bevor sie sich umdrehte.

Die Wölfe standen in einer Reihe am Ufer, bis auf einen, der ganz nahe ans Wasser gekommen war. Er beugte sich vor, die Pfoten beinahe im Strom. Siona hörte ihn winseln.

Sie wusste, dass der Wolf sie sah. D-Wölfe waren für ihre scharfen Augen bekannt, unter den Vorfahren von Letos Wächtern waren Spähhunde gewesen, und er züchtete sie aus genau diesem Grund. Siona fragte sich, ob die Wölfe ihre Konditionierung dieses eine Mal überwinden würden. Wenn der eine Wolf ins Wasser sprang, würden ihm die anderen womöglich folgen. Sie hielt den Atem an und spürte ihre tiefe Erschöpfung. Sie waren fast dreißig Kilometer gelaufen, und auf der zweiten Hälfte der Strecke waren die D-Wölfe dicht hinter ihnen gewesen.

Der Wolf am Flussufer jaulte kurz auf, dann sprang er zu seinem Rudel zurück. Auf ein lautloses Signal hin wandten sich die Wölfe ab und liefen in den Wald. Siona wusste, wohin sie unterwegs waren. D-Wölfe durften alles fressen, was sie im Verbotenen Wald zur Strecke brachten. Alle wussten das. Sie waren die Wächter der Sareer.

»Dafür wirst du bezahlen, Leto«, flüsterte sie. Der Klang ihrer Stimme glich dem stillen Rascheln des Wassers im Schilf hinter ihr. »Du wirst für Ulot bezahlen, für Kwuteg und für all die anderen. Du wirst bezahlen.«

Sie schob sich auf den Fluss hinaus und ließ sich von der Strömung treiben, bis ihre Füße den Grund vor einem schmalen Strand ertasteten. Langsam, gebeugt von ihrer Erschöpfung, stieg sie aus dem Wasser und hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass der Inhalt des Bündels trocken geblieben war. Die Versiegelung war unbeschädigt. Sie betrachtete das Bündel für einen Moment im Mondschein, dann hob sie den Blick zur finsteren Mauer des Waldes auf der anderen Seite des Flusses.

Der Preis wurde entrichtet. Zehn teure Freunde.

Tränen glitzerten in ihren Augen, aber sie war aus dem Holz der alten Fremen geschnitzt und neigte nicht zum Weinen. Ihr Vorstoß über den Fluss, durch den Wald, an dessen Nordrand die Wölfe patrouillierten, durch die Letzte Wüste und schließlich über die Wehranlagen der Zitadelle – all das hatte in ihrem Kopf bereits die Form eines Traums angenommen. Auch die Flucht vor den Wölfen, mit der Siona gerechnet hatte, weil der Weg des Rudels unvermeidlich die Spur der Eindringlinge hatte kreuzen müssen, sodass die Tiere auf der Lauer liegen und sie erwarten würden – auch das ein Traum. Es war Vergangenheit.

Ich bin entkommen.

Sie befestigte das versiegelte Bündel wieder an ihrem Rücken.

Ich habe deine Verteidigungsanlagen durchbrochen, Leto.

Sie musste wieder an die rätselhaften Bände denken. Sie spürte, dass sich in den verschlüsselten Zeilen etwas verbarg, was ihr die Möglichkeit zur Rache eröffnen würde.

Ich werde dich vernichten, Leto!

Nicht: Wir werden dich vernichten! Das war nicht Sionas Weg. Sie würde es selbst tun.

Sie wandte sich um und ging in Richtung der Obsthaine jenseits des Uferstreifens. Während sie ging, wiederholte sie ihren Schwur und ergänzte ihn um die laut ausgesprochene alte Fremenformel, die mit ihrem vollen Namen endete: »Siona Ibn Fuad al-Seyefa Atreides ist diejenige, die dich verflucht, Leto. Du wirst den vollen Preis entrichten!«

Aus der Hadi-Benotto-Übersetzung der Manuskripte, die in Dar-es-Balat gefunden wurden:

Ich wurde vor über dreitausend Standardjahren als Leto Atreides II. geboren – gerechnet von dem Moment an, in dem ich den Druck dieser Worte veranlasse. Mein Vater war Paul Muad’Dib. Meine Mutter war seine Fremengefährtin Chani. Meine Großmutter mütterlicherseits war Faroula, eine von den Fremen geschätzte Kräuterkundige. Meine Großmutter väterlicherseits war Jessica, ein Produkt des Bene-Gesserit-Zuchtprogramms, dessen Ziel es war, einen Mann in die Welt zu bringen, der an den Kräften der Ehrwürdigen Mütter der Schwesternschaft teilhaben konnte. Mein Großvater mütterlicherseits war Liet-Kynes, der Planetologe, der die ökologische Transformation von Arrakis in die Wege geleitet hat. Mein Großvater väterlicherseits war der Atreides, ein Abkömmling des Haus Atreus, dessen Geschlecht sich bis zu den griechischen Ursprüngen zurückverfolgen lässt.

Aber genug dieser Genealogien!

Mein Großvater väterlicherseits starb wie viele gute Griechen bei dem Versuch, seinen Todfeind zur Strecke zu bringen, Baron Vladimir Harkonnen. Sie beide schlafen nun unruhig in meinen Erinnerungen. Auch mein Vater ist unzufrieden. Ich habe getan, wovor er sich gefürchtet hat, und nun muss sein Schatten mit mir die Konsequenzen tragen.

Der Goldene Pfad erfordert es. Was ist der Goldene Pfad?, fragt ihr. Er ist das Überleben der Menschheit, nicht mehr und nicht weniger. Wir, die wir über die Gabe der Vorausschau verfügen, wir, die wir die Fallstricke der menschlichen Zukünfte kennen, tragen seit jeher diese Verantwortung.

Überleben.

Was ihr dabei empfindet, eure Nöte und Freuden, sogar eure Qualen und Verzückungen – darüber machen wir uns nur selten Gedanken. Mein Vater hatte diese Kraft. Bei mir ist sie noch stärker. Wir spähen durch die Schleier der Zeit.

Der Planet Arrakis, von dem aus ich mein viele Galaxien umfassendes Imperium lenke, ist nicht mehr, was er einst war, als man ihn noch den Wüstenplaneten nannte. In jenen Tagen war der ganze Planet eine Wüste. Davon ist nur dieser eine kleine Rest geblieben, meine Sareer. Die riesigen Sandwürmer, die die Gewürz-Melange produzierten, ziehen nicht mehr über den Planeten. Das Gewürz! Der Wüstenplanet war die einzige Quelle der Melange, das machte ihn überhaupt erst erwähnenswert. Was für eine außergewöhnliche Substanz! Keinem Labor ist es je gelungen, sie künstlich zu erzeugen. Es ist das Wertvollste, was die Menschheit jemals entdeckt hat.

Ohne die Melange als Auslöser der linearen Hellsicht der Gildennavigatoren könnten die Menschen die Parsecs des Alls nur im Schneckentempo durchqueren. Ohne die Trancezustände der Melange hätten die Bene Gesserit keine Wahrsagerinnen oder Ehrwürdigen Mütter. Ohne die geriatrischen Eigenschaften der Melange würden die Menschen nach altem Maß leben und sterben und nicht älter als etwa hundert Jahre werden. Jetzt existiert das Gewürz nur noch in den Lagerhäusern der Gilde und der Bene Gesserit – und in meinem gewaltigen Hort, den sie alle begehren. Wie gerne sie ihn plündern würden! Aber sie wagen es nicht. Sie wissen, dass ich alles vernichten würde, bevor ich es ihnen überlasse.

Nein, sie kommen, ihre Hüte in den Händen, und erbitten die Melange von mir. Ich verteile sie als Belohnung und enthalte sie ihnen als Bestrafung vor. Wie sie das hassen.

Das ist meine Macht, sage ich ihnen. Das ist meine Gabe.

Auf diese Weise erzeuge ich den Frieden, den sie über dreitausend Jahre lang genossen haben. Letos Frieden. Es ist eine erzwungene Ruhe, wie sie die Menschheit vor meinem Aufstieg zur Macht nur für jeweils sehr kurze Zeit kannte. Solltet ihr ihn vergessen haben, könnt ihr Letos Frieden nun in meinen Tagebüchern studieren.

Ich habe diesen Bericht im ersten Jahr meiner Zeit als Sachwalter der Menschheit begonnen, in den ersten Qualen meiner Metamorphose, als ich, auch äußerlich, noch zum größten Teil menschlich war. Die Sandforellenhaut, die ich angenommen habe (und der sich mein Vater verweigert hat), die meine Kraft vervielfacht und mich gegen konventionelle Attacken und gegen das Altern immun gemacht hat, diese Haut bedeckte damals noch eine erkennbar menschliche Gestalt: zwei Beine, zwei Arme, ein menschliches Gesicht umgeben von den Pergamentwülsten der Sandforellen.

Ah, dieses Gesicht! Ich habe es immer noch – das einzige Stück menschliche Haut, das ich dem Universum zeige. Mein restliches Fleisch ist von den miteinander verbundenen Körpern jener winzigen Tiefsandvektoren bedeckt, die sich zu großen Sandwürmern entwickeln können.

Und das werden sie … eines Tages.

Oft denke ich über meine letzte Metamorphose nach, die dem Tod gleichen wird. Ich weiß, wie es geschehen wird, aber weder weiß ich wann, noch wer außer mir daran beteiligt sein wird. Das ist das, was ich nicht wissen kann. Ich weiß nur, ob der Goldene Pfad sich fortsetzt oder ob er an ein Ende stößt. Während ich die Aufzeichnung dieser Worte veranlasse, setzt sich der Goldene Pfad fort, und wenigstens damit bin ich zufrieden.

Ich spüre nicht mehr, wie sich mir die Flimmerhärchen der Sandforellen ins Fleisch bohren und das Wasser meines Körpers mit ihren Plazentabarrieren einkapseln. Wir sind nun buchstäblich ein Körper, sie sind meine Haut, und ich bin die Kraft, die das Ganze bewegt – meistens jedenfalls.

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich das hier verfasse, könnte man mein Äußeres als abstoßend beschreiben. Man könnte mich als eine Art Vorwurm bezeichnen. Mein Körper ist etwa sieben Meter lang und hat einen Durchmesser von etwa zwei Metern. Er ist größtenteils geriffelt. Mein Atreides-Gesicht befindet sich an einem Ende auf etwa Mannshöhe, mit den Armen und Händen (die noch als menschlich zu erkennen sind) direkt darunter. Meine Beine und Füße haben sich weitgehend zurückgebildet, eigentlich sind es nur noch Flossen, die nach hinten gewandert sind. Insgesamt wiege ich etwa fünf Tonnen (nach alter Rechnung). Ich füge diese Informationen bei, weil ich weiß, dass sie von historischem Interesse sein werden.

Wie ich dieses Gewicht bewege? Meistens mittels des königlichen Wagens, den die Ixianer gefertigt haben. Das schockiert euch? Die Ixianer werden fast noch mehr gefürchtet und gehasst als ich. Dann doch lieber der Teufel, den man kennt. Denn wer weiß schon, was die Ixianer alles herstellen oder erfinden?

Ich weiß es jedenfalls nicht. Nicht alles.

Aber ich empfinde eine gewisse Sympathie für die Ixianer. Sie glauben so fest an ihre Technologie, ihre Wissenschaft, ihre Maschinen. Weil wir glauben (ganz egal, woran), verstehen wir einander, die Ixianer und ich. Sie stellen viele Geräte für mich her und meinen, dass sie sich dadurch meine Dankbarkeit erkaufen. Auch die Worte, die ihr gerade lest, wurden von einem ixianischen Gerät ausgedruckt, einem sogenannten Diktatel. Wenn ich meine Gedanken in einen bestimmten Modus versetze, aktiviert sich das Diktatel. Ich muss nur in diesem Modus denken, dann werden meine Worte auf ridulianisches Kristallpapier von nur einem Molekül Dicke gedruckt. Manchmal bestelle ich zusätzliche Kopien auf weniger haltbarem Material. Zwei Bände dieser Kopien hat mir Siona gestohlen.

Ist sie nicht faszinierend, meine Siona? Wenn ihr einmal versteht, warum sie so wichtig für mich ist, werdet ihr euch vielleicht fragen, ob ich sie wirklich dort im Wald hätte sterben lassen. Zweifelt nicht daran. Der Tod ist eine sehr persönliche Sache, ich stelle mich ihm nur selten in den Weg – und nie, wenn es um jemanden geht, der wie Siona auf die Probe gestellt werden muss. Ich könnte sie jederzeit sterben lassen. Schließlich kann ich innerhalb kurzer Zeit (kurz für meine Begriffe) eine neue Kandidatin produzieren.

Aber sie fasziniert sogar mich. Ich habe sie dort im Wald beobachtet. Mittels meiner ixianischen Geräte habe ich ihrer Flucht zugesehen und mich gefragt, warum ich diesen Vorstoß nicht antizipiert habe. Aber Siona ist … Siona. Deshalb habe ich die Wölfe nicht aufgehalten. Es wäre falsch gewesen. Die D-Wölfe sind die Verlängerung meiner Existenz, und der Zweck meiner Existenz ist es, das größte Raubtier aller Zeiten zu sein.

Der folgende kurze Dialog wird einem Manuskript zugeschrieben, das man als »Welbeck-Fragment« bezeichnet. Es wird vermutet, dass die Autorin Siona Atreides ist. Die beiden Teilnehmer des Dialogs sind Siona selbst sowie ihr Vater Moneo, der (wie uns die Quellen versichern) Haushofmeister und wichtiger Berater Letos II. war. Der Dialog ist auf eine Zeit datiert, als Siona noch jung war und ihr Vater sie in der Fischsprecherinnenschule der Zeremonienstadt Onn besuchte, einem der größten urbanen Zentren des Planeten, den man heute unter dem Namen Rakis kennt. Laut den Identifikationspapieren des Manuskripts besuchte Moneo seine Tochter im Geheimen, um sie davor zu warnen, dass sie ihre Vernichtung riskierte.

SIONA: Wie konntest du so lange in seiner Nähe überleben, Vater? Er tötet die, die ihm nahestehen. Das weiß jeder.

MONEO: Nein! Du irrst dich. Er tötet niemanden.

SIONA: Du musst nicht lügen.

MONEO: Ich meine es ernst. Er tötet niemanden.

SIONA: Und wie erklärst du dir dann all die Toten, von denen jeder weiß?

MONEO: Es ist der Wurm, der tötet. Der Wurm ist Gott. Leto lebt im Busen Gottes, aber er tötet niemanden.

SIONA: Und wie gelingt es dir zu überleben?

MONEO: Ich erkenne den Wurm. Ich sehe den Wurm in Letos Gesicht und in seinen Bewegungen. Ich weiß, wann Shai-Hulud naht.

SIONA: Er ist nicht Shai-Hulud!

MONEO: Nun, so hat man den Wurm zur Zeit der Fremen genannt.

SIONA: Davon habe ich gelesen. Aber er ist nicht der Gott der Wüste.

MONEO: Sei still, dummes Mädchen! Du weißt nichts von diesen Dingen.

SIONA: Ich weiß, dass du ein Feigling bist.

MONEO: Wie wenig du weißt. Du hast nie gestanden, wo ich gestanden habe, und ihm in die Augen gesehen, die Bewegungen seiner Hände beobachtet.

SIONA: Was tust du, wenn der Wurm naht?

MONEO: Dann gehe ich.

SIONA: Das ist klug. Wir wissen von neun Duncan Idahos, die er getötet hat.

MONEO: Ich habe dir doch gesagt, dass er niemanden tötet.

SIONA: Welchen Unterschied macht das? Ob Leto oder der Wurm, sie sind längst zu einem Körper geworden.

MONEO: Aber es sind zwei getrennte Wesenheiten – Leto, der Imperator, und der Wurm, der Gott ist.

SIONA: Du bist verrückt!

MONEO: Vielleicht. Aber ich diene Gott.