Kein Mensch kann
eine Geschichte erfinden.

Alles, was in Geschichten erzählt wird,
ist schon einmal irgendwo
– zumindest in sehr ähnlicher Weise –
in der Wirklichkeit passiert
oder aber es wird in der
Zukunft irgendwo geschehen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Justen, Josef F.

Titelfoto: »Mood« © Hagertal (Foto von pixabay)

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783748125457

Inhaltsverzeichnis
Die merkwürdige Bettlerin

Andrea war an diesem Tage, der sich noch als äußerst denkwürdig erweisen sollte, spät dran. Sie musste etwas länger arbeiten als üblich.

Eilig räumte sie notdürftig ihren Schreibtisch auf und schaltete ihren Computer aus. Dann machte sie sich etwas schneller als sonst auf den Weg zum Bahnhof, wo sie noch den letzten Bahnbus erreichen musste, der sie in ihr acht Kilometer entferntes Heimatstädtchen bringen sollte.

Als sie endlich etwas außer Puste am Bahnhof angekommen war, sah sie auf der Treppe zur Eingangshalle eine alte Frau sitzen. Obwohl die Zeit schon sehr drängte, zog sie der Anblick der alten Frau in ihren Bann.

Die Alte war mit einem schäbigen Umhang bekleidet, der für die Jahreszeit viel zu warm war. Auf dem Kopf trug sie einen abgenutzten, völlig altmodischen Hut. Ihre rechte Hand streckte sie leicht nach oben geöffnet aus.

Andrea erkannte, dass die Frau offensichtlich um eine milde Gabe bat. Die anderen Passanten gingen an der Alten vorbei, als ob sie diese gar nicht bemerkt hätten. Obwohl Andrea in rechter Zeitnot war, brachte sie es nicht übers Herz, einfach an ihr vorüberzugehen. Sie schaute hektisch zur Bahnhofsuhr und kramte nach etwas Kleingeld in ihrer Geldbörse.

»Es ist noch zu früh für dich!«, sagte die Alte mit leiser und freundlicher Stimme. Andrea schaute etwas verwundert und dachte: »Woher will die wissen, welchen Bus ich nehmen möchte?« Dann legte sie ein paar Münzen in die Hand der Bettlerin und verabschiedete sich freundlich.

Als sie eiligst in Richtung Bahnsteig zu rennen begann, sah sie schon von weitem, dass der Bus losfuhr. Andrea war natürlich recht verärgert. Schließlich blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als den langen Weg zu Fuß zu gehen.

Als sie wenige Augenblicke später den Bahnhof wieder verließ, fiel ihr auf, dass die alte Frau nicht mehr dort saß. Andrea war ziemlich verdutzt. »Die kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, dachte sie. Ihre Verwunderung steigerte sich noch, als sie die Münzen, die sie ihr in die Hand gedrückt hatte, auf dem Boden liegen sah. »War ihr das nicht genug?«, fragte sie sich und hob die Münzen wieder auf.

Ohne noch lange über dieses seltsame Erlebnis nachzusinnen, machte sie sich auf den langen Heimweg. Zum Glück kannte sie einige Abkürzungen und Schleichwege, so dass sie nicht den langen Weg nehmen musste, den der Bus fuhr.

So waren es vielleicht nur gut sechs Kilometer, die sie zu bewältigen hatte. Unterwegs musste sie dann doch wieder an die merkwürdige Bettlerin denken. Je länger sie darüber nachsann, desto mehr fiel ihr auf, dass die Alte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer vor Jahren verstorbenen Großmutter, zu der sie stets ein sehr inniges Verhältnis gepflegt hatte, aufwies.

Am nächsten Tag erfuhr Andrea aus der Zeitung, dass der Bus, den sie am Vorabend verpasst hatte, einen schweren Unfall hatte.

Vermutlich durch eine Unachtsamkeit des Fahrers war er von der Fahrbahn abgekommen und eine Böschung hinuntergestürzt.

Elf der Fahrgäste erlitten lebensgefährliche Verletzungen, an denen fünf wenige Tage später starben!

Das Kind, das sein Schicksal nicht
leben durfte

Eine Menschenseele stand unweit des Himmelstores und schaute auf die Erde herab. Die Seele wusste, dass es bald wieder an der Zeit sein wird, als Menschenkind auf der Erde geboren zu werden.

In der langen Zeit, die sie in den himmlischen Gefilden verbracht hatte, ist ihr vieles von dem, was sie im letzten Erdenleben an nützlichen und weniger nützlichen Taten vollbracht hatte, klar vors Seelenauge getreten.

Ihr Engel trat an die Seele heran und sprach: »Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, bis du wieder auf die Erde geschickt wirst.«

Die Seele hüpfte voller Vorfreude. Der Engel sagte: »Es ist schön, dass du dich freust, wieder als Menschenkind geboren zu werden. Aber dein nächstes Leben wird nicht ganz einfach werden.«

»Das ist mir ganz egal!«, entgegnete die Seele. »Hauptsache ich kann wieder auf die Erde, um mich weiterzuentwickeln.«

Der Engel fuhr fort: »Es ist gut, dass du das so siehst! Aber dein neues Erdenleben wird wirklich sehr, sehr hart werden. Um einen wirklich großen Schritt in deiner Entwicklung machen zu können, musst du ein Leben führen, das dich in vielerlei Hinsicht stark einschränken, das dir etwas sehr Schweres auferlegen wird.«

»Was habe ich zu tun?«, fragte die Seele neugierig und voller Tatendrang.

»Nun, du musst ganz radikale Erfahrungen machen. Du musst mit einer schweren Behinderung zur Welt kommen. In einem solchen Leben wirst du vieles erfahren und lernen, was du bisher noch nicht kennengelernt hast und was dein Erdenleben sehr beeinträchtigen wird«, sprach der Engel ein wenig mitleidig.

»Was sind das für Beeinträchtigungen?«, wollte die Seele wissen. »Nun, du wirst in der Schule nicht gut vorankommen. Vielleicht kannst du auch gar nicht zur Schule gehen. Einen Beruf wirst du wohl auch nicht ausüben können. Dann musst du gewiss häufig mitleidige Blicke oder gar Spott deiner Mitmenschen ertragen. Und du wirst dein ganzes Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Aber ein solches Leben ist für dich eine Notwendigkeit, um dich höher entwickeln zu können«, antwortete der Engel.

»Das ist doch alles nicht schlimm! Das ist doch der Sinn unserer gesamten Existenz, dass wir Menschenseelen uns weiterentwickeln«, platzte es aus der Menschenseele heraus.

»Also gut!«, sagte der Engel. »Dann komme einmal ganz nah ans Himmelstor und schaue auf die Erdenmenschen herunter! Vielleicht sehen wir ein Menschenpaar, das für dich als Eltern in Frage kommen könnte.«

Die Menschenseele schaute voller Neugier und ganz aufgeregt auf etliche Paare. Doch schon erstaunlich schnell schien sie ihre Entscheidung getroffen zu haben. »Die beiden da unten, die gerade daheim beim Abendessen sitzen, die sollen meine Eltern werden! Schicke mich bitte sofort zu ihnen!«

Der Engel zögerte ein Weilchen und meinte dann: »Ich glaube, das könnte schwierig werden! Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die beiden wirklich für deine große Mission die richtigen Eltern sind.«

»Ach bitte!«, flehte die Menschenseele, die jetzt schon eine tiefe Liebe zu der als Mutter erkorenen Frau empfand und fuhr fort: »Genau die beiden möchte ich als meine Eltern! Bitte, lieber Engel, erfülle mir diesen Wunsch!«

Der Engel blieb eine ganze Weile still. Er zweifelte daran, dass die gewählten Menschen für das Vorhaben geeignet seien. Er beriet sich noch kurz mit einem Engel höherer Ordnung. Der Engel zögerte immer noch. Doch dann sprach er: »Nun gut, geliebte Seele, so soll es denn geschehen!«

Er nahm seinen Schützling noch einmal behutsam und liebevoll in seine Flügelarme und entließ ihn auf die Erde.

Die von der Seele als neue Eltern erwählten Menschen waren Werner und Karin Prigge. Das Ehepaar wünschte sich schon seit ein paar Jahren nichts sehnlicher als ein Kind. Herr Prigge wollte unbedingt einen Sohn, der später einmal die Leitung seiner Firma von ihm übernehmen könnte.

Die beiden hatten die Hoffnung, Eltern zu werden, fast schon ein wenig aufgegeben, als Frau Prigge plötzlich das Gefühl hatte, schwanger zu sein. Sie eilte zur Apotheke und besorgte sich einen Schwangerschaftstest, den sie noch am gleichen Tage machte. Das Ergebnis war eindeutig: Frau Prigge war schwanger. Die Freude des Paares war riesengroß. Sie konnten ihr Glück kaum fassen.

Mittlerweile war Frau Prigge schon in der zehnten Schwangerschaftswoche. Die Seele fühlte sich im Leib ihrer Mutter pudelwohl und konnte ihre Geburt kaum erwarten. Bei einer Vorsorgeuntersuchung sagte der Arzt Frau Prigge, dass sie einen Jungen bekommen werde. Das beglückte insbesondere Herrn Prigge, der sich ja so sehr einen Sohn wünschte.

Immer wieder malten sich die angehenden Eltern aus, wie schön es wohl sein würde, ein Kind haben und aufwachsen sehen zu dürfen. Schon recht bald richteten sie für ihr Kind ein Zimmer ein, in dem es an nichts fehlte.

Eines Abends meinte Herr Prigge zu seiner Frau: »Du Liebling, irgendwie habe ich Angst, dass unser Kind krank oder mit einer Behinderung zur Welt kommen könnte. Vielleicht solltest du noch einmal deinen Arzt aufsuchen und von meiner Sorge berichten. Es gibt doch heute schon so viele Möglichkeiten, das im Vorfeld zu diagnostizieren.«

Frau Prigge konnte diese Befürchtung eigentlich nicht so ganz teilen, befolgte aber dann doch den Rat ihres Mannes.

Nachdem sie ihrem Arzt von ihrer Besorgnis, die ja im Grunde nur eine Besorgnis ihres Mannes war, berichtet hatte, sprach er: »Ja, es gibt heute in der Tat Methoden, um herausfinden zu können, ob ein Kind mit einer Krankheit oder mit einer Behinderung zur Welt kommen wird. Diese Verfahren sind sehr zuverlässig.«

So entschloss man sich zu einer pränatalen Diagnostik.

Das Ergebnis, dass der Arzt den Eheleuten Prigge kurze Zeit später mitteilte, war niederschmetternd: Bei dem Embryo wurde ein genetischer Defekt, eine Chromosomenstörung festgestellt. Der Arzt meinte: »Ihr Ungeborenes hat einen schweren Gendefekt. Es tut mir sehr leid! Es ist Ihre Entscheidung, ob sie das Kind zur Welt bringen wollen!«

Das Ehepaar war entsetzt und todtraurig. Sie konnten es einfach nicht fassen, dass ausgerechnet sie so viel Pech hatten. Ein paar Tage waren sie wie paralysiert. Auch die kleine Seele merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Eines Abends, als die beiden in der Stube beieinander saßen, versuchten sie, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen und in Worte zu fassen.

Herr Prigge begann: »Es ist für mich immer noch wie ein Alptraum. Ich kann es nicht verstehen, dass ausgerechnet unser Kind nicht gesund sein soll! Keiner von uns, unseren Eltern und Geschwistern hat so einen Gendefekt! Warum trifft es ausgerechnet unser Kind? Es gibt so viele Paare, die kerngesunde Kinder bekommen haben und sich anschließend gar nicht um sie kümmern. Wir könnten einem Kind alles bieten.« Frau Prigge entgegenete: »Ja, es ist ganz furchtbar. Ich kann es auch nicht verstehen. Aber wir können doch auch ein behindertes Kind lieb haben und alles für es tun!«

Ihr Mann schwieg eine Weile. »Das ist sicher richtig, aber es sagt sich auch sehr leicht! Weißt du eigentlich, was dieser genetische Defekt bedeutet?«, sagte er dann. »Ja, ich glaube schon«, meinte sie. Herr Prigge fuhr fort: »In den ersten Jahren mag das alles noch gar nicht einmal so dramatisch sein. Aber das Kind wird ja auch älter. Es wird wohl nie eine normale Schule besuchen können. Es wird nie ein eigenständiges Leben führen können. Und ich hätte, wie du weißt, so gerne einen Sohn gehabt, der später einmal die Leitung meiner Firma übernehmen könnte.«

Dann schwieg er eine Weile, um schließlich fortzufahren: »Du darfst es auf gar keinen Fall zur Welt bringen!«

Seine Frau war schockiert. »Wie könnte ich ein Kind abtreiben lassen, das ich schon seit Wochen unter meinem Herzen trage und bereits sehr liebgewonnen habe«, dachte sie und verließ wortlos die Stube.

An den folgenden Tagen musste sie sehr häufig an das Gespräch mit ihrem Mann denken. »Vielleicht hat er ja doch nicht ganz unrecht. Aber ich könnte eine Abtreibung niemals mit meinem Gewissen vereinbaren«, dachte sie manchmal.

Dann beschloss sie, sich noch von einigen anderen Menschen Rat zu holen.