Kathy Reichs
Knochen zu Asche
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr
Wie immer war dieser Roman eine Teamarbeit. Das Team möchte ich gern vorstellen.
Ein riesiges Dankeschön schulde ich Andrea und Cléola Leger, ohne die diese Geschichte vielleicht niemals geschrieben worden wäre. Andrea und Cléola zeigten mir die warmherzige, großzügige und temperamentvolle Welt des akadischen Volkes. Merci. Merci. Mille merci.
Ich stehe tief in der Schuld all derer, die mich während meines Besuchs in New Brunswick aufgenommen haben. Auf diese Liste – keinesfalls eine erschöpfende – gehören Claude Williams, MLA, Maurice Cormier, Jean – Paul und Dorice Bourque, Estelle Boudreau, Maria Doiron, Laurie Gallant, Aldie und Doris Le Blanc, Paula LeBlanc, Bernadette Leger, Gerard Leger, Normand und Pauline Leger, Darrell und Lynn Marchand, Fernand und Lisa Gaudet, Constable Kevin Demeau (RCMP), und Joan MacKenzie von Beaverbrook House. Ein besonderer Dank an euch in Tracadie, vor allem Claude Landry, MLA, Père Zoël Saulnier sowie Raynald Basque und den Mitarbeitern bei Cojak Productions. Sœur Dorina Frigault, R. H.S.J., und Sœur Zelica Daigle, R.H.S.J. (Les Hospitalières de St. Joseph), gewährten mir großzügigerweise Zugang zu ihren Archiven und führten mich durch das Museum und den Friedhof des historischen Lazaretts.
Robert A. Leonard, Ph.D., Professor für Linguistik und Leiter des Forensic Linguistic Project and der Hofstra University, fand trotz seines vollen Terminkalenders die Zeit, mich zur forensischen Linguistik zu beraten (Und Sie waren wirklich ein Gründungsmitglied von Sha Na Na? Ja, Kathy. Im Ernst? Ja, Kathy. Großartig!)
Ron Harrison, Service de Police de la Ville de Montreal, lieferte mir Informationen über Waffen, Sirenen und jede Menge Cop – Kolorit. Normand Proulx, Directeur general, Sûreté du Québec, und L’inspecteur-chef Gilles Martin, adjoint au Directeur general, adjoint à la Grande fonction des enquêtes criminelles, Sûreté du Québec, versorgten mich mit Statistiken über Morde und Altfallermittlungen in Quebec.
Mike Warns, Entwicklungsingenieur bei ISR Inc., beantwortete endlose Fragen und brachte mir Technikkram bei. Als echter Mann der Renaissance gab Mike auch den Großteil der Poesie zum Besten.
Dr. William A. Rodriguez, Office of the Armed Forces Medical Examiner, und Dr. Peter Dean, H. M. Coroner for Greater Suffolk and South East Essex, halfen mir bei Detailfragen zu Skelett – und Gewebepathologie.
Paul Reichs lieferte mir wertvolle Beiträge zum Manuskript.
Nan Graham und meine Familie bei Scribner machten das Buch erheblich besser, als es ohne sie hätte werden können. Das gilt auch für Susan Sandon und alle bei Random House UK.
Jennifer Rudolph – Walsh war eine unschätzbare Hilfe und gab mir ihre wie immer unablässige Unterstützung.
Als nützliche Quelle stellte sich Children of Lazarus: The Story of the Lazaretto of Tracadie von M. J. Losier und C. Pinet heraus.
Autorin
Kathy Reichs ist Vizepräsidentin der American Academy of Forensic Sciences, forensische Anthropologin für die Provinz Quebec und Professorin für Anthropologie an der Universität von North Carolina-Charlotte. Ihre Romane mit Tempe Brennan werden in über dreißig Sprachen übersetzt und ihre Protagonistin ermittelt in der von Reichs produzierten Serie »Bones« auch im Fernsehen. »Knochen zu Asche« ist ihr zehnter Bestseller.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.kathy-reichs.de
Babys sterben. Menschen verschwinden. Menschen sterben. Babys verschwinden.
Diese Erkenntnisse prasselten schon sehr früh auf mich ein. Natürlich hatte ich ein kindliches Verständnis dafür, dass alles sterbliche Leben endet. In der Schule redeten die Nonnen von Himmel, Fegefeuer, Vorhölle und Hölle. Ich wusste, dass die älteren Leute irgendwann »dahinscheiden«. Mit diesem Begriff umschrieb meine Familie das Thema. Die Leute schieden dahin. Gingen, um bei Gott zu sein. Ruhten in Frieden. So akzeptierte ich auf etwas verquere Art, dass das irdische Leben nur ein vorübergehendes ist. Dennoch trafen mich der Tod meines Vaters und der meines kleinen Bruders hart.
Und für Évangéline Landrys Verschwinden gab es einfach keine Erklärung.
Aber ich greife vor.
So ist es passiert.
Als kleines Mädchen lebte ich an der Südseite von Chicago, in dem weniger vornehmen Ausläufer eines Viertels mit dem Namen Beverly. Ursprünglich erbaut als ländliches Rückzugsgebiet für die Elite der Stadt nach dem Großen Feuer von 1871, präsentiert sich das Viertel heute mit weiten Rasenflächen und großen Ulmen und irisch-katholischen Clans mit Stammbäumen, die verzweigter sind als die Ulmen. War Beverly damals schon ein bisschen heruntergekommen, wurde es später wieder aufgemotzt von Boomgewinnlern, die im Grünen und doch zentrumsnah wohnen wollten.
Unser Haus, ursprünglich ein Farmhaus, war älter als alle seine Nachbarn. Es war ein weiß gestrichenes Holzhaus mit grünen Fensterläden, hatte eine umlaufende Veranda und im Hinterhof eine Wasserpumpe sowie eine Garage, die einmal Pferde und Kühe beherbergt hatte.
Ich habe glückliche Erinnerungen an diese Zeit und diesen Ort. Wenn es kalt war, liefen die Nachbarschaftskinder Schlittschuh auf einer Eisfläche, die man mithilfe von Wasserschläuchen auf einer unbebauten Fläche geschaffen hatte. Daddy stützte mich dann immer auf meinen Doppelkufen und wischte mir Matsch von meinem Schneeanzug, wenn ich einmal hinfiel. Im Sommer spielten wir auf der Straße Fußball, Fangen oder Himmel und Hölle. Meine Schwester Harry und ich fingen Glühwürmchen in Gläsern mit durchlöcherten Schraubverschlüssen.
In den endlosen Wintern des Mittleren Westens versammelten sich zahllose Brennan-Tanten und -Onkel zum Kartenspielen in unserem ausgesucht schäbigen Wohnzimmer. Der Ablauf war immer derselbe. Nach dem Abendessen holte Mama Tischchen aus einem Schrank in der Diele, wischte die Platten ab und klappte die Beine aus. Harry breitete ein weißes Leinentuch darüber, und ich postierte Spielkarten, Servietten und Schüsselchen mit Erdnüssen in der Mitte.
Wenn der Frühling kam, ersetzten die Schaukelstühle auf der Veranda die Kartentische, und statt Canasta und Bridge gab es lange Gespräche. Ich verstand nicht viel davon. Die WarrenKommission. Der Golf von Tonkin. Chruschtschow. Kossygin. Es machte mir nichts aus. Das Zusammenkommen der Leute, die meine eigene Doppelhelix trugen, bestätigte mir, dass es mir gut ging, wie das Klappern der Münzen in der Beverly-Hillbillies -Spardose auf meinem Nachtkästchen. Die Welt war berechenbar, bevölkert mit Verwandten, Lehrern und Kindern wie ich aus Haushalten wie dem meinen. Das Leben bestand aus der St.-Margaret’s-Schule, den Pfadfinder-Wölflingen, der Messe am Sonntag und den Tagescamps im Sommer.
Dann starb Kevin, und mein sechs Jahre altes Universum zerbrach in Splitter des Zweifels und der Ungewissheit. Nach meinem Verständnis der Weltordnung holte der Tod die alten Großtanten mit mäandernden blauen Äderchen und durchscheinender Haut. Keine kleinen Jungs mit dicken, roten Wangen.
An Kevins Krankheit erinnere ich mich kaum noch. An sein Begräbnis noch weniger. Dass Harry neben mir in der Kirchenbank zappelte. Ein Fleck auf meinen schwarzen Lacklederschuhen. Woher? Das schien mir damals sehr wichtig zu sein. Ich starrte den kleinen, grauen Tropfen an. Starrte weg von der Wirklichkeit, die sich um mich herum offenbarte.
Natürlich kam die ganze Familie zusammen, die Stimmen gedämpft, die Gesichter versteinert. Mamas Zweig kam aus North Carolina. Nachbarn. Gemeindemitglieder. Männer aus Daddys Anwaltskanzlei. Fremde. Sie strichen mir über den Kopf. Murmelten irgendwas vom Himmel und den Engeln.
Das Haus quoll über vor Kasserollen und Kuchen und Gebäck in Plastik- und Alufolie. Normalerweise liebte ich Sandwiches mit abgeschnittener Rinde. Nicht wegen des Thunfisch- oder Eiersalats zwischen den Scheiben. Sondern wegen der reinen Dekadenz dieser leichtfertigen Verschwendung. An diesem Tag nicht. Und seitdem nie mehr. Schon merkwürdig, wie gewisse Dinge einen beeinflussen.
Kevins Tod veränderte bei mir mehr als nur meine Meinung zu Sandwiches. Er änderte das ganze Fundament, auf dem sich bisher mein Leben abgespielt hatte. Die Augen meiner Mutter, die immer freundlich und oft fröhlich geblickt hatten, sahen nie mehr so aus, wie sie sollten. Mit dunklen Ringen und tief in den Höhlen. Mein kindliches Gehirn konnte ihren Ausdruck nicht interpretieren, ich spürte nur Traurigkeit. Jahre später sah ich das Foto einer Frau aus dem Kosovo, wie sie zwischen zwei schnell zusammengezimmerten Särgen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn stand. Irgendetwas kam mir daran vertraut vor. Konnte ich sie kennen? Unmöglich. Dann die Erkenntnis. Ich sah dasselbe Zerstörtsein und dieselbe Hoffnungslosigkeit, die ich in Mamas Blick gesehen hatte.
Aber nicht nur Mamas Aussehen veränderte sich. Sie und Daddy genehmigten sich nun keinen Cocktail vor dem Abendessen mehr, und sie blieben auch nicht beim Kaffee am Tisch sitzen und redeten. Sie schauten auch nicht mehr gemeinsam fern, wenn das Geschirr abgeräumt war und Harry und ich in unseren Pyjamas steckten. Sie hatten die Comedyshows immer sehr genossen, hatten einander angesehen, wenn Lucy oder Gomer etwas Albernes taten. Daddy hatte dann immer Mamas Hand genommen, und sie hatten beide gelacht.
Alles Lachen floh, als die Leukämie Kevin besiegte.
Auch mein Vater suchte sein Heil in der Flucht. In stillem Selbstmitleid wie Mama letztendlich auch. Michael Terrence Brennan, Anwalt, Connaisseur und unbezähmbarer Bonvivant, zog sich auf direktem Weg zurück in eine Flasche guten, irischen Whiskeys. In viele Flaschen, um genau zu sein.
Anfangs fiel mir die häufige Abwesenheit meines Vaters gar nicht auf.Wie ein Schmerz, der sich so allmählich aufbaut, dass sein Ursprung nicht bestimmbar ist, fiel mir eines Tages auf, dass Daddy nicht mehr so oft bei uns war. Immer öfter gab es Abendessen ohne ihn. Er kam abends immer später nach Hause, bis er in meinem Leben nicht viel mehr war als ein Phantom. In einigen Nächten hörte ich schwankende Schritte auf der Treppe, eine Tür, die fest gegen eine Wand geschlagen wurde. Die Toilettenspülung. Dann Stille. Oder gedämpfte Stimmen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, deren Tonfall mir Vorwürfe und Groll vermittelte.
Bis heute jagt mir ein Telefon, das nach Mitternacht klingelt, einen Schauer über den Rücken. Vielleicht bin ich eine Panikmacherin. Oder einfach nur Realistin. Meiner Erfahrung nach bringen nächtliche Anrufe nie gute Nachrichten. Es hat einen Unfall gegeben. Eine Verhaftung. Einen Kampf.
Mamas Anruf kam lange achtzehn Monate nach Kevins Tod. Damals klingelten Telefone noch anständig. Keine polyfonen Songfetzen von Grillz oder Sukie in the Graveyard. Ich wachte beim ersten vollklingenden Ton auf. Hörte einen zweiten. Das Bruchstück eines dritten. Dann ein leises Geräusch, halb Schreien, halb Stöhnen, dann das Klappern eines Hörers gegen Holz.Verängstigt zog ich mir die Decke bis zu den Augen hoch. Niemand kam zu mir ans Bett.
Es habe einen Unfall gegeben, sagte Mama am nächsten Tag. Daddys Auto war von der Straße abgedrängt worden. Über den Polizeibericht oder den Blutalkoholpegel von 2,7 Promille verlor sie nie ein Wort. Diese Details schnappte ich so nebenbei auf. Lauschen ist für eine Achtjährige ein Instinkt.
An Daddys Beerdigung erinnere ich mich noch weniger als an Kevins. Ein Bronzesarg, bedeckt mit weißen Blumen. Endlose Lobreden. Gedämpftes Schluchzen. Mama, gestützt von zwei der Tanten. Psychotisch grünes Friedhofsgras.
Diesmal kamen Mamas Verwandte in noch größerer Zahl. Daessees. Lees. Cousins und Cousinen, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Noch mehr heimliches Mithören enthüllte Brocken ihres Plans. Mama müsse mit ihren Kindern nach Hause zurückkommen.
Der Sommer nach Daddys Tod war einer der heißesten in der Geschichte von Illinois, mit Temperaturen, die wochenlang nicht unter dreißig Grad sanken. Der Wetterbericht sprach zwar immer von der kühlenden Wirkung des Lake Michigan, aber wir waren weit vom Wasser entfernt, abgeschnitten von zu vielen Gebäuden und zu viel Beton. Wir hatten keine Seebrise. In Beverly schalteten wir Ventilatoren ein, rissen Fenster auf – und schwitzten. Harry und ich schliefen in Feldbetten auf der überdachten Veranda.
Den ganzen Juni und bis weit in den Juli hinein hielt Grandma Lee ihre Telefonkampagne mit dem Motto »Rückkehr nach Dixie« aufrecht. Immer wieder tauchten auch Brennan-Verwandte bei uns auf, jetzt allerdings allein oder nur zu zweit, Männer mit schweißnassen Achseln, Frauen in feucht-schlaffen Baumwollkleidern. Die Gespräche waren eher zurückhaltend, Mama war nervös und immer den Tränen nahe. Ein Onkel oder eine Tante tätschelte ihr die Hand. Mach, was das Beste ist für dich und die Kinder, Daisy.
Auf meine kindliche Art spürte ich eine neue Rastlosigkeit in diesen Familienbesuchen. Eine Ungeduld, dass das Trauern endlich aufhören und das Leben neu beginnen möge. Die Besuche wurden zu Patrouillengängen, unangenehm, aber unabdingbar, weil Michael Terrence einer der Ihren gewesen war und die Sache mit der Witwe und den Kindern in anständiger Manier gelöst werden musste.
Der Tod brachte auch Veränderungen in meinem eigenen sozialen Umfeld.
Kinder, die ich schon mein Leben lang kannte, mieden mich jetzt. Wenn wir uns zufällig trafen, starrten sie auf ihre Füße. Verlegen? Verwirrt? Angst vor Ansteckung? Die meisten fanden es einfacher, wegzubleiben.
Mama hatte uns nicht für die Tagescamps eingeschrieben, deshalb verbrachten Harry und ich die langen, schwülen Tage allein. Ich las ihr Geschichten vor. Wir spielten Brettspiele, inszenierten Puppentheater und gingen zu Woolworths an der 95th Street, um Comics oder Limonade zu kaufen.
Im Verlauf dieser Wochen wuchs auf Mamas Nachtkästchen eine kleine Apotheke. Wenn sie unten war, untersuchten wir die kleinen Fläschchen mit ihren steifen, weißen Kappen und den ordentlich beschrifteten Etiketten.Wir schüttelten sie. Spähten durch das gelbe oder braune Plastik. Die winzigen Kapseln verursachten bei mir ein Flattern in der Brust.
Mitte Juli traf Mama ihre Entscheidung. Vielleicht traf aber auch Grandma Lee sie für sie. Ich hörte zu, wie sie es Daddys Brüdern und Schwestern erzählte. Sie tätschelten ihr die Hand. Vielleicht ist es das Beste, sagten sie und klangen dabei – wie? Erleichtert? Was weiß eine Achtjährige von Nuancen?
Grandma kam an dem Tag an, als in unserem Garten ein Schild aufgestellt wurde. Im Kaleidoskop meiner Erinnerungen sehe ich sie aus einem Taxi aussteigen, eine alte Frau, dünn wie eine Vogelscheuche, die Hände knotig und trocken wie Eidechsenhaut. In diesem Sommer wurde sie sechsundfünfzig.
Binnen einer Woche saßen wir alle in dem Chrysler Newport, den Daddy vor Kevins Diagnose gekauft hatte. Grandma fuhr. Mama saß auf dem Beifahrersitz. Harry und ich saßen hinten, mit einer Barriere aus Malkreiden und Spielen zwischen uns, die unsere Territorien abgrenzte.
Zwei Tage später waren wir in Grandmas Haus in Charlotte. Harry und ich bekamen das Schlafzimmer im Obergeschoss mit der grün gestreiften Tapete. Der Wandschrank roch nach Mottenkugeln und Lavendel. Harry und ich sahen zu, wie Mama unsere Kleider auf Bügel hängte. Winterkleider für Partys und die Kirche.
Wie lange bleiben wir, Mama?
Mal sehen. Die Bügel klapperten leise.
Gehen wir hier zur Schule?
Mal sehen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen fragte uns Grandma, ob wir den Rest des Sommers gern am Strand verbringen würden. Harry und ich schauten sie nur über unsere Rice Crispies hinweg an, schockiert von den donnernden Veränderungen, die über unser Leben hereinbrachen.
Natürlich wollt ihr das, sagte sie.
Woher weißt du, was ich will oder nicht?, dachte ich. Du bist nicht ich. Sie hatte natürlich recht. Das hatte Grandma meistens. Aber darum ging es nicht.Wieder war eine Entscheidung getroffen worden, und ich konnte nichts daran ändern.
Zwei Tage nach unserer Ankunft in Charlotte saß unsere kleine Truppe wieder im Chrysler, Grandma hinterm Lenkrad. Mama schlief und wachte nur auf, als das Wimmern der Reifen verkündete, dass wir über den Damm fuhren.
Mama hob den Kopf von der Rückenlehne. Sie drehte sich nicht zu uns um. Sie lächelte nicht, und sie trällerte auch nicht: »Pawleys Island, hier sind wir!«, wie sie es in glücklicheren Zeiten getan hatte. Sie ließ sich einfach nur wieder in den Sitz sinken.
Grandma tätschelte Mama die Hand, eine exakte Kopie der Geste, die auch die Brennans benutzt hatten. »Jetzt wird alles wieder gut«, gurrte sie in einem Singsang, der genauso klang wie der ihrer Tochter. »Vertrau mir, Daisy, Darling. Jetzt wird alles wieder gut.«
Bei mir wurde alles gut, als ich Évangéline Landry kennenlernte.
Und so blieb es die nächsten vier Jahre.
Bis Évangéline verschwand.
Ich wurde im Juli geboren. Für ein Kind ist das gleichermaßen gut und schlecht.
Da ich alle meine Sommer im Strandhaus der Lee-Familie auf Pawleys Island verbrachte, wurden meine Geburtstage immer mit einem Picknick und einem Ausflug in den Gay-Dolphin-Park an der Myrtle-Beach-Promenade gefeiert. Ich liebte diese Stunden im Vergnügungspark, vor allem die Fahrten mit der Wild Mouse, auf der ich – mit klopfendem Herzen, die Hände um die Haltestange gekrallt, dass die Knöchel weiß wurden – in die Höhe sauste und in die Tiefe stürzte, bis mir die Zuckerwatte hochkam.
Wirklich klasse. Aber so konnte ich nie Geburtstagstörtchen in die Schule mitnehmen.
Ich wurde acht in dem Sommer nach Daddys Tod. Mama schenkte mir ein pinkfarbenes Schmuckkästchen mit einer Spieluhr und einer tanzenden Ballerina. Harry malte ein Familienporträt, zwei große und zwei kleine Strichmännchen, die Finger ausgestreckt und sich überkreuzend, auf keinem Gesicht ein Lächeln. Grans Geschenk war ein Exemplar von Lucy Maud Montgomerys Anne auf Green Gables.
Zwar bereitete Grandma auch in diesem Jahr das traditionelle Picknick aus Schokoladenkuchen, Brathähnchen, gekochten Shrimps, Kartoffelsalat, gefüllten Eiern und Keksen vor, aber nach der Völlerei gab es keine Achterbahnfahrt. Harry bekam einen Sonnenbrand und meine Mama Migräne, und so blieb ich allein am Strand und vertiefte mich in Annes Abenteuer mit Marilla und Matthew.
Zuerst bemerkte ich sie gar nicht. Irgendwie ging sie im weißen Rauschen der Brandung und der Seevögel unter. Als ich den Kopf hob, stand sie weniger als zehn Meter von mir entfernt, die Hände an die Hüften gestemmt, die dünnen Arme abgespreizt.
Wortlos musterten wir einander. Ihrer Größe nach war sie ein oder zwei Jahre älter als ich, auch wenn ihre Taille noch babydick war und ihr Badeanzug sich flach um ihre Brust spannte.
Sie machte als Erste den Mund auf. Mit dem Daumen auf mein Buch zeigend, sagte sie: »Ich war da.«
»Warst du nicht«, sagte ich.
»Ich hab die Königin von England gesehen.« Der Wind fuhr ihr in das dunkle Gestrubbel auf ihrem Kopf, hob Strähnen an und ließ sie wieder fallen wie jemand, der sich in einem Geschäft bunte Bänder aussucht.
»Hast du nicht«, sagte ich und kam mir sofort blöd dabei vor. »Die Königin lebt in einem Palast in London.«
Das Mädchen wischte sich Locken von den Augen. »Ich war da. Mein grand-père hat mich hochgehoben, damit ich sie sehen konnte.«
Ihr Englisch hatte einen eigentümlichen Akzent, weder das flache Näseln des Mittleren Westens noch der rundvokalig gedehnte Singsang der südöstlichen Küste. Ich zögerte, war mir unsicher.
»Wie hat sie ausgesehen?«
»Sie hat Handschuhe getragen und einen lila Hut.«
»Wo war das?« Skeptisch.
»Tracadie.«
Das gutturale »r« klang für mein achtjähriges Ohr sehr aufregend.
»Wo ist das?«
»En Acadie.«
»Noch nie gehört.«
»Das ist der Urwald. Murmelnde Kiefern und Schierling.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und blinzelte nur zu ihr hoch.
»Das ist ein Gedicht.«
»Ich war im Art Institute in Chicago«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, Poesie mit etwas ähnlich Hochgestochenem kontern zu müssen. »Da gibt’s viele berühmte Bilder, wie das mit den Leuten im Park, die mit lauter Pünktchen gemalt sind.«
»Ich wohne bei meiner Tante und meinem Onkel«, sagte das Mädchen.
»Ich bin zu Besuch bei meiner Großmutter. «Von Harry oder Mama sagte ich nichts. Oder von Kevin. Oder Daddy.
Ein Frisbee segelte zwischen dem Mädchen und dem Ufer in den Sand. Ich sah zu, wie ein Junge es aufhob und zurückwarf.
»Green Gables kann man nicht in echt besuchen«, sagte ich.
»Doch, kann man schon.«
»Das gibt’s nicht in echt.«
»Gibt es schon.« Das Mädchen zog einen braunen Zeh durch den Sand.
»Ich hab heute Geburtstag«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Bonne fête.«
»Ist das Italienisch?«
»Französisch.«
Meine Schule in Beverly hatte Französisch angeboten, das Lieblingsprojekt einer frankophilen Nonne namens Schwester Mary Patrick. Auch wenn meine Kenntnisse damals kaum über »Bonjour« hinausreichten, merkte ich doch, dass dieses Mädchen ganz anders klang als die Französischlehrerin, die ich in der ersten und zweiten Klasse gehabt hatte.
Einsam? Neugierig? Bereit, mir alles anzuhören, was mich von der Trübsal in Grandmas großem Haus ablenkte? Wer weiß das schon. Ich biss auf jeden Fall an.
»War der Prinz bei ihr?«
Das Mädchen nickte.
»Wie ist dieses Tracadie denn so?« Bei mir klang es wie Track-a-day.
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Un beau petit village. Ein kleines Städtchen.«
»Ich bin Temperance Brennan. Du kannst mich Tempe nennen.«
»Évangéline Landry.«
»Ich bin acht.«
»Ich bin zehn.«
»Willst du meine Geschenke sehen?«
»Dein Buch mag ich sehr.«
Ich lehnte mich wieder zurück. Évangéline setzte sich im Schneidersitz neben meinen Stuhl in den Sand. Eine Stunde lang redeten wir über Anne und diese berühmte Farm auf Prince Edward Island.
So begann unsere Freundschaft.
Die achtundvierzig Stunden nach meinem Geburtstag waren stürmisch, der Himmel wechselte tagsüber zwischen Zinngrau und kränklichem Graugrün. Der Regen kam in windgepeitschten Güssen und spritzte salzige Tropfen auf die Fenster von Grandmas Haus.
Immer wenn es gerade einmal nicht regnete, bettelte ich, an den Strand gehen zu dürfen. Doch Grandma erlaubte es mir nicht, sie fürchtete die Unterströmungen in der Brandung, die in weißer Gischt über den Sand rollte. Frustriert starrte ich durch die Fenster hinaus, doch Évangéline Landry war nirgends zu sehen.
Schließlich riss der Himmel auf, blaue Flecken verdrängten die Wolken. Die Schatten unter dem Strandhafer und den Plankenwegen über die Dünen wurden schärfer. Die Vögel trällerten wieder. Die Temperatur stieg, und die Luftfeuchtigkeit verkündete, dass sie im Gegensatz zum Regen nicht wieder verschwand.
Trotz des Sonnenscheins vergingen Tage, ohne dass ich von meiner Freundin etwas sah.
Ich fuhr gerade Rad, als ich sie die Myrtle Avenue entlangschlendern sah, den Kopf nach vorn gestreckt wie eine Schildkröte, einen Lutscher im Mund. Sie trug Flipflops und ein ausgewaschenes Beach-Boys-T-Shirt.
Sie blieb stehen, als ich neben ihr anhielt.
»Hey«, sagte ich und stellte einen Turnschuh vom Pedal auf den Asphalt.
»Hi«, sagte sie.
»Hab dich ’ne Weile nicht gesehen.«
»Musste arbeiten.« Sie wischte sich klebrig rote Finger an ihren Shorts ab.
»Du hast einen Job?« Ich staunte, dass man einem Kind eine so erwachsene Beschäftigung gestattete.
»Mein Onkel fischt vor Murrell’s Inlet. Manchmal helf ich ihm auf dem Boot.«
»Toll.«Visionen von Gilligan, Ginger und dem Captain.
»Pff.« Sie prustete die Luft durch die Lippen. »Ich kratz die Innereien aus den Fischen.«
Ich schob mein Fahrrad, und wir gingen nebeneinanderher.
»Manchmal muss ich auf meine kleine Schwester aufpassen«, sagte ich, um eine gewisse Gleichheit herzustellen. »Sie ist fünf.«
Évangéline drehte sich mir zu. »Hast du einen Bruder?«
»Nein.« Mit brennendem Gesicht.
»Ich auch nicht. Meine Schwester Obéline ist zwei.«
»Dann musst du also Fische putzen. Ist aber trotzdem toll, den Sommer am Strand zu verbringen. Wo du herkommst, ist es da ganz anders?«
Irgendetwas funkelte in Évangélines Augen und war wieder verschwunden, bevor ich es deuten konnte.
»Meine Mama ist dort. Im Krankenhaus hat man sie entlassen, deshalb hat sie jetzt zwei Jobs nebeneinander. Sie will, dass Obéline und ich gut Englisch lernen, deshalb bringt sie uns hierher. C’est bon. Meine Tante Euphémie und mein Onkel Fidèle sind nett.«
»Erzähl mir von diesem Urwald.« Ich wollte vom Thema Familie ablenken.
Évangélines Blick folgte einem vorbeifahrenden Auto und kehrte dann wieder zu mir zurück.
»L’Acadie ist der schönste Flecken Erde auf der ganzen Welt.«
Offensichtlich.
Den ganzen Sommer lang erzählte Évangéline Geschichten aus ihrer Heimat in New Brunswick. Ich hatte natürlich schon von Kanada gehört, aber meine kindliche Fantasie reichte kaum über Mounties und Iglus hinaus. Oder Hundeschlitten, die an Karibus und Eisbären vorbeisausten, oder Seehunde auf Eisschollen. Évangéline erzählte von dichten Wäldern, Steilklippen oder Orten mit Namen wie Miramichi, Kouchibouguac oder Bouctouche.
Sie erzählte außerdem von der akadischen Geschichte, von der Vertreibung ihrer Vorfahren aus ihrer Heimat. Wieder und wieder hörte ich ihr zu und stellte Fragen. Erstaunt. Entrüstet über die nordamerikanische Tragödie, die ihre Leute Le Grand Dérangement nannten. Dass die französischen Akadier durch einen britischen Deportationsbefehl ins Exil getrieben und ihres Landes und ihrer Rechte beraubt wurden.
Évangéline war es, die mir die Poesie näherbrachte. In diesem Sommer stolperten wir durch Longfellows großes Epos, der Inspiration für ihren Namen. Ihr Exemplar war auf Französisch, ihre Muttersprache. Sie übersetzte, so gut sie konnte.
Obwohl ich die Verse kaum begriff, verwandelte sie die Geschichte in ein Zaubermärchen. Unser kindlicher Verstand stellte sich das akadische Milchmädchen weit weg von ihrem Geburtsort in Nova Scotia vor. Wir improvisierten Kostüme und inszenierten das Drama dieser Diaspora und der glücklosen Liebenden.
Évangéline hatte vor, eines Tages Dichterin zu werden. Ihre Lieblingsgedichte hatte sie auswendig gelernt, die meisten auf Französisch, einige auf Englisch. Edward Blake, Elizabeth Barrett Browning, der Barde aus New Brunswick, Bliss Carman. Ich hörte zu. Und gemeinsam schrieben wir schlechte Gedichte.
Mir waren Geschichten mit einer Handlung lieber. Obwohl ihr das Englische schwerfiel, versuchte Évangéline sich an meinen Lieblingsautoren: Anne Sewell, Carolyn Keene, C. S. Lewis. Und endlos unterhielten wir uns über Anne Shirley und stellten uns ihr Leben auf der Green-Gables-Farm vor.
In dieser Zeit hoffte ich noch, Tierärztin zu werden. Auf meine Veranlassung hin führten wir Notizbücher über die Reiher in den Marschen und die Pelikane, die im Wind segelten. Wir errichteten Schutzwälle um Schildkrötennester. Wir fingen Frösche und Schlangen mit langstieligen Netzen.
An manchen Tagen veranstalteten wir raffinierte Teepartys für Harry und Obéline. Drehten ihnen Locken in die Haare. Zogen sie an wie Puppen.
Tante Euphémie kochte uns poutine râpée, fricot au poulet, tourtière. Ich sehe sie noch heute in ihrer Schürze mit den Rüschenträgern, wie sie uns in gebrochenem Englisch Geschichten über die Akadier erzählt. Geschichten, die sie von ihrem Vater und der von dem seinen gehört hatte. Das Jahr 1775. Zwölftausend Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Wohin sind sie gegangen?, fragte dann Harry manchmal. Europa, Karibik, Amerika. Die in Louisiana wurden zu den Cajuns.
Wie konnte so was passieren?, fragte ich. Die Briten wollten unsere Farmen und Deiche. Sie hatten Gewehre.
Aber die Akadier sind zurückgekehrt? Einige.
In diesem ersten Sommer impfte Évangéline mir eine lebenslange Gier nach Nachrichten ein. Vielleicht, weil sie aus einer so isolierten Ecke des Planeten kam.Vielleicht, weil sie ihr Englisch üben wollte.Vielleicht, weil sie einfach nur so war, wie sie war. Évangélines Durst nach jeder Art Wissen war unstillbar.
Radio, Fernsehen, Zeitungen. Wir verschlangen und verstanden alles auf unsere kindliche Art. Abends saßen wir auf ihrer Veranda oder meiner, und während Junikäfer gegen die Fliegengitter knallten und aus dem Transistorradio die Monkees, die Beatles, die Isley Brothers plärrten, sprachen wir über einen Mann mit einem Gewehr in einem Hochhaus in Texas. Über den Tod von Astronauten. Über den schwarzen Bürgerrechtler Stokely Carmichael und eine merkwürdige Gruppe namens SNCC.
Mit meinen acht Jahren hielt ich Évangéline Landry für das klügste und exotischste Wesen, das ich je kennenlernen würde. Sie war auf dunkel zigeunerhafte Weise wunderschön, sprach eine fremde Sprache und kannte Lieder und Gedichte, die ich noch nie gehört hatte. Aber obwohl wir uns gegenseitig Geheimnisse anvertrauten, spürte ich damals schon eine gewisse Reserviertheit in meiner Freundin, etwas Rätselhaftes. Und noch etwas. Eine verborgene Traurigkeit, von der sie nichts erzählte und die ich nicht benennen konnte.
Die heißen, schwülen Tage verstrichen, während wir unsere kleine Lowcountry-Insel erkundeten. Ich zeigte ihr Plätze, die ich von früheren Besuchen her kannte. Gemeinsam entdeckten wir neue.
Langsam verblasste mein Schmerz, wie er es unweigerlich tut. Meine Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Angenehmen Dingen.
Dann war es August und Zeit für die Abreise.
Mama kehrte nie nach Chicago zurück. In meinem Leben entwickelte sich eine neue Geborgenheit in Charlotte. Ich lernte, Grandmas altes Haus in Dilworth zu lieben, den Duft von Geißblatt, das den hinteren Zaun überwucherte, den dunklen Tunnel der Weideneichen, die unsere Straße überwölbten.
Natürlich fand ich Freundinnen, aber keine war so exotisch wie meine sommerliche Seelenschwester. Keine, die Gedichte schrieb, Französisch sprach und Green Gables und die Königin von England gesehen hatte.
Wenn Évangéline und ich getrennt waren, schrieben wir uns Briefe mit Nachrichten über unser Leben im Winter, unsere Poesie, unsere kindlichen Ansichten über das, was in den Nachrichten kam. Biafra. Warum schickten andere Länder diesen Leuten keine Lebensmittel? My Lai. Brachten Amerikaner wirklich unschuldige Frauen und Kinder um? Chappaquiddick. Haben auch Prominente solche Probleme? Wir machten uns Gedanken über Schuld oder Unschuld von Jeffrey MacDonald. Konnte ein Mann so schlecht sein, dass er seine eigenen Kinder umbrachte? Das Böse des Charlie Manson. War er der Teufel? Wir strichen die Tage bis zum Sommer auf unseren Kalendern aus.
Das Schuljahr endete in Charlotte früher als in Tracadie, so war ich immer die Erste auf Pawleys Island. Eine Woche später rollte Madame Landrys verrosteter Ford Fairlane über den Damm. Laurette verbrachte eine Woche bei ihrer Schwester und ihrem Schwager in deren kleinem Haus in den Marschen und kehrte dann zu ihren Jobs in einer Hummerkonservenfabrik und in einem Touristenmotel zurück. Im August wiederholte sie dann die lange Fahrt.
In der Zwischenzeit lebten Évangéline, Obéline, Harry und ich unsere Sommerabenteuer. Wir lasen, wir schrieben, wir redeten, wir erkundeten. Wir sammelten Muschelschalen. Ich lernte einiges über das Fischen als Lebensunterhalt. Ich lernte ein wenig schlechtes Französisch.
Unser fünfter Sommer begann wie die vorangegangenen vier. Bis zum 26. Juli.
Psychologen sagen, dass sich einige Daten für immer ins Gedächtnis einprägen. 7. Dezember 1941. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor. 23. November 1963. Das Attentat auf Präsident Kennedy. 11. September 2001. Das World Trade Center in Flammen.
Auf meiner Liste steht auch der Tag, an dem Évangéline verschwand.
Es war ein Donnerstag. Die Landry-Kinder waren seit sechs Wochen auf der Insel und sollten noch einmal vier bleiben. Évangéline und ich hatten vor, schon früh an diesem Morgen zum Krabbenfangen zu gehen. Andere Details sind nur noch Fragmente.
Ich radelte, das Krabbennetz quer über der Lenkstange, durch eine neblige Morgendämmerung. Ein Auto auf der Gegenfahrbahn, die Silhouette eines Mannes hinter dem Steuer. Onkel Fidèle? Ein schneller Blick nach hinten. Auf dem Rücksitz noch eine Silhouette.
Das Tick-Tick-Tick von Kieseln, die ich an das Fliegengitter vor Évangelinés Fenster warf. Euphémies Gesicht in einem schmalen Türspalt, die Haare mit Klemmen festgesteckt, die Augen rot, die Lippen leichenblass.
Sie sind weg. Du darfst nicht mehr hierherkommen.
Wohin sind sie, ma tante?
Geh weg. Vergiss sie.
Aber warum?
Sie sind jetzt gefährlich.
Dann die Rückfahrt, kräftiges Strampeln, Tränen auf den Wangen, in einiger Entfernung ein Auto, das vom Nebel auf dem Damm verschluckt wurde. Weg? Ohne Ankündigung? Ohne Abschied? Kein »Ich schreibe dir«. Komm nicht mehr hierher? Vergiss sie?
Meine Freundin und ihre Schwester verbrachten nie mehr einen Sommer auf Pawleys Island.
Ich fuhr wieder und wieder zu dem kleinen Haus in den Marschen und bettelte um Nachrichten, doch immer wurde ich abgewiesen. Tante Euphémie und Onkel Fidèle sagten mir nichts, sondern wiederholten nur immer wieder: »Geh weg. Sie sind nicht hier.«
Ich schrieb einen Brief nach dem anderen. Einige kamen als unzustellbar zurück, andere nicht, aber nie kam eine Antwort von Évangéline. Ich fragte Grandma, was ich tun könnte. »Nichts«, sagte sie. »Gewisse Ereignisse können ein ganzes Leben verändern. Denk dran, du bist aus Chicago weggegangen.«
Voller Verzweiflung schwor ich mir, sie zu finden. Nancy Drew, die jugendliche Detektivheldin meiner Kindertage, hat es auch geschafft, dachte ich mir. Und ich versuchte es auch, so sehr, wie eine Zwölfjährige es konnte, als es noch kein Handy und kein Internet gab. Für den Rest dieses Sommers und einen Großteil des nächsten spähten Harry und ich Tante Euphémie und Onkel Fidèle aus. Wir erfuhren rein gar nichts.
Auch in Charlotte probierten wir es weiter. Die Büchereien in unserer Reichweite hatten zwar keine Telefonbücher für New Brunswick, Kanada, aber immerhin fanden wir die Vorwahl für Tracadie-Sheila heraus. In dieser Region gab es mehr Landrys, als die Vermittlung ohne Vornamen sortieren konnte.
Laurette.
Kein Eintrag. Zweiunddreißig L. Landrys.
Weder Harry und ich konnten uns erinnern, dass Évangéline je den Namen ihres Vaters erwähnt hätte.
Dann die Erkenntnis. Trotz all der langen Tage, die Évangéline und ich über Jungs, Sex, Longfellow, Green Gables oder Vietnam geredet hatten, hatten wir, wie in stillschweigender Übereinkunft, das Thema Väter nie angeschnitten.
Von einer Telefonzelle aus und mit Münzen aus unseren Sparbüchsen riefen Harry und ich jede und jeden L. Landry in Tracadie an. Dann auch in den Orten der näheren Umgebung. Keiner kannte Évangéline oder ihre Familie. Zumindest behaupteten das alle.
Meine Schwester verlor das Interesse am Detektivspielen lange bevor ich es tat. Évangéline war meine Freundin gewesen und fünf Jahre älter als sie. Und Obéline war noch so jung gewesen, nur halb so alt wie Harry.
Letztendlich gab dann auch ich die Suche auf. Aber die Fragen verschwanden nie aus meinem Kopf. Wohin? Warum? Wie konnte ein vierzehnjähriges Mädchen eine Bedrohung sein? Schließlich war ich so weit, dass ich an meiner Erinnerung an Tante Euphémies Worte zweifelte. Hatte sie wirklich »gefährlich« gesagt?
Die Leere, die Évangéline hinterlassen hatte, war ein dunkles Loch in meinem Leben, bis der Trubel der Highschool Nachdenken und Trauern verdrängte.
Kevin. Daddy. Évangéline. Der Schmerz dieses dreifachen Schlags ist verblasst, wurde gedämpft von der Zeit, die verging, und verlor sich im Stress des Alltags.
Aber hin und wieder lauert ein Auslöser. Und dann überfällt mich die Erinnerung.