Manteuffels
Murmeln
Roman
ISBN 978-3-8412-0739-5
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2014
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2014 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Foto auf der Rückseite © Martin Huch
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Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg
unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/Oliver Rüther
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
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In seinem Herzen verleugnet sich das Nicht-Sein.
(Jean-Paul Sartre)
Immer den Klodeckel schließen.
Sonst fliegt das Geld aus dem Haus.
(Altes chinesisches Sprichwort)
Am Anfang war alles weiß.
Manteuffel öffnet die Augen. Oder: Die Augenlider Manteuffels heben sich. Ja, sie öffnen sich, Manteuffels Augen, wie von selbst. Eher wie von selbst. Manteuffel tut gar nichts. Jedenfalls: nicht daß er wüßte. Er weiß auch nicht, wie lange es dunkel war. Für ihn. Wie lange er geschlafen hat. Oder bewußtlos war. Er weiß in diesem Augenblick, in dem er wieder etwas sieht, gar nichts. »Abgesehen« davon (und über diesen Ausdruck kichert er leise, das wird ihm bewußt), daß er eine weiße Zimmerdecke sieht. Strahlend, gellend, brüllend weiß. So weiß, daß er seine Augen beinahe gleich wieder schließen möchte. Aber das kann er nicht. Er ist wach. Außerordentlich wach. Und er weiß: Das muß lange ganz anders gewesen sein.
Langsam dreht Manteuffel seinen Kopf nach links. Das fällt ihm schwer. Die Plastikschlauchvorrichtung in seiner Nase behindert ihn. Ein Verband behindert ihn. Sein Schädel muß einen schweren weißen Turban tragen. Schließlich sieht er aus dem Augenwinkel: Links neben ihm steht noch ein Bett. In dem jemand liegt. Er hört schweres Atmen, gelegentlich ein leises Stöhnen, eher ein Röcheln. Mann oder Frau? Kaum zu sagen. Eher ein Mann. Aber es könnte auch eine Frau sein. Derartig tiefe, kehlige Geräusche hat Manteuffel auch schon einmal von einer Frau gehört. Von seiner Großmutter. Sie starb vor langer Zeit, als er noch ein Junge und mit ihr allein zu Hause war. Siebzehn Jahre alt war er damals. Dieses Geräusch hatte ihn fast um den Verstand gebracht.
Stirbt der Mensch neben ihm? Wenn der Piepton, den Manteuffel hört, seinen Herzschlag anzeigt, wohl kaum. Ruhig und gleichmäßig. Nicht alarmierend. Allmählich kehren bei Manteuffel Schlieren von Erinnerung zurück. Gruber, denkt er. Das könnte Gruber sein. Andererseits …
»In my white room/with black curtains/near the station …« – Jack hat das damals so wunderbar deklamierend gesungen, wie ein Brechtlied. Und Eric spielte eine Elefantentrompetengitarre, sehr ungewöhnlich für ihn, sehr ungewöhnlich überhaupt für die damalige Zeit. Ein Klang, den später Robert Fripp perfektionierte, mit King Crimson, von denen Jimi sagte, die hätten das Zeug zur besten Band der Welt. Sogar Townshend sagte das. Und der hatte immerhin die beste Band der Welt. Mein Name ist Pete Brown, ich bin Jacks Texter. Eric mag mich nicht. Besser gesagt, er mag UNS nicht. Weil wir schnell sind. Weil wir ein phantastisches Lied nach dem anderen raushauen. Eric ist eifersüchtig, denn er ist langsam. Er hat die Fähigkeit, ein guter Songschreiber zu werden, aber es ist eine Schinderei für ihn. Er möchte mehr eigene Songs auf den Alben haben, aber woher nehmen, wenn nicht stehlen, also: alte Bluesnummern kopieren. Ginger hält sich da raus. Er ist zufrieden, wenn er ab und zu eine kuriose exzentrische Schote beisteuern kann. Oder er verprügelt Jack und Eric. Aus Langeweile.
Ich bin ein kleiner dicklicher Londoner Junge mit Piratenbart und Afro-Frisur. Ich bin ein guter Texter, zusammen mit Keith Reid von Procol Harum der beste in England.
Und ich werde noch Jahrzehnte später meine Miete von den Einnahmen aus den Liedern von Jack und mir bezahlen können. Das weiß ich aber heute noch nicht.
Ich glaube, es geht nicht mehr lange gut mit Cream.
Die Wirkung der Betäubung läßt nach. Manteuffel wird lebhafter. Er möchte sich in seinem Bett bewegen, aber das ist leichter gesagt als getan, festgezurrt liegt er da wie ein Gulliver. Der Mensch neben ihm scheint nicht ansprechbar zu sein. Ob es Gruber ist? Oder hat sich die Sache mit Gruber erledigt? Und: Wenn er es ist – ob sie dann wohl in diesem Krankenzimmer Besuch von Minze bekommen? Diese Fragen spielen Manteuffel schwindlig wie ein Tennislehrer einen blutigen Anfänger. Was ist eigentlich genau passiert in Manteuffels Küche? Und wie lange ist das her? Und wo befinden sie sich jetzt? Es ist auf alle Fälle weit von dort, wo Manteuffel wohnt, bis zum nächsten Krankenhaus.
Manteuffels Kopf kann diese Fragen nicht festhalten, andere Gedanken schlingern und taumeln in seinem Gehirn herum. Einer davon meldet sich ganz besonders oft und lautstark zu Wort: Ich muß aufhören zu schreiben, wenn ich hier herausgekommen bin. Unbedingt muß ich aufhören zu schreiben. Ich muß versuchen, einen Damm zu errichten gegen diese unentwegte Sucht, zu formulieren. Das ist doch sinnlos. Ich blute ja aus wie ein Schwein. Wer soll denn diese Textberge jemals sichten, geschweige denn lesen? Es ist einfach furchtbar, daß mir zu allem und jedem etwas einfällt. Nicht nur eine Sucht, ein Fluch ist das, jawohl. Vielleicht gibt es hier irgendeinen verständnisvollen Arzt, der ein Mittel dagegen weiß. Eine Verhaltensweise. Eine Dekonzentrationsmethode. Ich darf auf keinen Fall vergessen, danach zu fragen, wenn es mir wieder besser geht. Sonst, kaum bin ich draußen, geht es weiter wie gehabt. Ich kenne mich doch, insoweit.
Leise wird die Tür des Zimmers geöffnet. Manteuffel hört das Geräusch und dreht seinen Kopf vorsichtig von links nach rechts. Ein weißgekleideter Mann tritt ein, nähert sich langsam Manteuffels Bett und setzt sich auf einen daneben stehenden Stuhl. Schweigend sieht er Manteuffel an. Minuten vergehen. Manteuffel sagt auch nichts. Er ist vollauf damit beschäftigt, seine Gedanken hinter die Kulissen seines Schauens zu schieben und den Kopf freizubekommen. Er mustert den weißgekleideten Mann mit all der Aufmerksamkeit, die er in seinem Zustand aufbringen kann. Mittellanges Haar. Schmales, leicht asiatisch wirkendes Gesicht. Leicht amüsiertes, aber nicht spöttisches Lächeln. Nickelbrille. Das kann doch nicht sein, denkt Manteuffel. Aber kein Zweifel: Der Mann sieht aus wie John Lennon. Aber nicht so wie John Lennon heute vielleicht aussehen würde, sondern wie im Jahr 1980. Kurz bevor er erschossen wurde.
Ich kenne Ihr Problem, und ich verstehe es, sagt der Mann nach einer langen Weile. Ich hatte es auch. Und ich habe es für mich gelöst. Nicht von heute auf morgen, so etwas dauert seine Zeit. Aber ich habe es geschafft. Jedenfalls fast. Damals, als Paul seinen Ausstieg aus der Band bekanntgab, ging es mir genau so wie Ihnen. Ich schrieb wie ein Wahnsinniger, und ich litt darunter. Im Jahr 1970 hatte ich derartig viel Material angehäuft, daß mir völlig klar war, daß ich es nie und nimmer in diesem Leben würde abarbeiten, veröffentlichen, verwirklichen können. Weder innerhalb der Beatles noch außerhalb mit noch so vielen Soloalben. Es waren ja nicht nur Kompositionen und Songtexte, ich schrieb, und ich zeichnete weit darüber hinaus, wie ein Besessener. Und da ließ Paul die Bombe platzen, er stieg aus, die Beatles waren am Ende. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Schlimmer als der Weggang meiner Mutter. Ich dachte, mein Schädel explodiert. Ich raste vor Wut. Ich hätte Paul umbringen können. Denn er hatte mir wieder mal die Show gestohlen, wie so oft. Denn ich, ich wollte es sein, unbedingt, der zuerst geht. Es war meine Band, ich hatte das erste Recht, sie zu verlassen und sie damit zum Erliegen zu bringen. Paul wußte das. Er wollte mich verletzen.
Aber wissen Sie was? Die Tobsuchtsanfälle gingen vorbei, und plötzlich hatte ich den Schlüssel zu meinem Problem in der Hand. I found out. Ich machte mein erstes Soloalbum, nur mit Ringo, Klaus und Billy Preston. Ich spielte alle E-Gitarren alleine, weg mit Georgies Schmelz und Schmalz. Das klang, wie E-Gitarren noch nie geklungen hatten. Ich erfand praktisch Punk. Die Platte war nackt und kahl. Und ich denke, sie war genial. Mein Kollege, Doktor Roger Waters, hat mir das neulich bestätigt.
Danach ging ich nach New York mit der festen Absicht, den Faden zu verlieren. Und das ist mir gelungen. Es bereitete mir eine unbeschreibliche Lust, vom richtigen Weg abzukommen! He lost the plot! Wissen Sie, was »Imagine« für mich war, diese peinliche Hymne aller Friedensbewegten, die das seit Jahrzehnten am Ende ihrer Kundgebungen weltweit trällern? Eine Beatles-Parodie! Eine köstliche Selbstverarschung! »Imagine no posessions«, ich kann heute noch darüber wiehern! Auf meinem Konto waren damals schon mehr als hundert Millionen. Als das Lied frisch fertig war, habe ich es bei einer guten Portion Heroin Keith und Bob vorgespielt. Wir haben eine ganze Nacht lang gekichert. Eine augenzwinkernde Lächerlichkeit, so ähnlich wie Stevie Wonders »I Just Called To Say I Love You«, mit dem er sich über alle schmierigen Tanzmusiker dieser Welt lustig macht. Und danach wurde ich immer schlechter, absichtlich! Wirklich, meine weiteren Platten waren reiner Mist, herrlich! Pauls Platten wurden übrigens immer besser. Na und? Ich hatte ihm verziehen. Ich hatte meinen Frieden gefunden. Und jetzt schweige ich. Beinahe.
Manteuffel murmelt: Wolfgang Neuss lebte die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens nach der Konzeption: Wie werde ich unbekannt.
Exakt, Lennon nickt. Nobody’s got something to hide. Not even me and my monkey.
Und ehe Sie fragen: Der Patient neben Ihnen ist Gruber.
Ohne Wenn und Abel: Halb so schlimm, Bruderherz. Schwamm drüber. Einmal ist Kainmal.
Manche haben es, manche haben es nicht. Manche wollen es gar nicht haben, andere unbedingt. Sicher ist nur: Wer es nicht hat, wird es auch nicht bekommen, egal, ob er es haben will oder nicht. Volle Deckung, Iwan von rechts. Manche, die es haben, wissen nichts damit anzufangen, möchten es am liebsten wieder los sein, aber das ist nicht möglich. Wer es hat, der hat es, ein für alle Mal. Daran ist nichts zu ändern. Damit muß man sich abfinden. Feuer frei, Wasser marsch. Wer es hat und wem es nichts bedeutet, der sollte an diejenigen denken, die es unbedingt haben wollen und es nie bekommen werden (und nicht an diejenigen, die es nicht haben wollen, die sind unerheblich). Ausschwärmen, Tempo, Tempo. Wer es hat, hat es gut. Ob er es weiß oder nicht. Wer es haben will, bekommt es nicht. Wer es nicht haben will, bekommt es auch nicht. Das ist nicht gerecht. Wer es nicht haben will, sollte es bekommen. Gerade der. Ausschwärmen, ausschwärmen.
Gib mir zu trinken aus deinem Bewußtseinsballon, dann schabe ich dir eine Küche in den Karst. Streichle mir über den sich unablässig verbreiternden Scheitel mit der Gelassenheit einer alternden Schlagersängerin. Lärm ist nicht Lärm, und Irrtum ist nicht Irrtum. Lärm ist ein Irrtum, aber so ist es nicht und anders auch nicht. Jede Zeile ein neuer Gedanke. Jede Zeile ein neuer Gedanke ein neuer Gedanke ein neuer. In deinem Bewußtseinsballon hängt eine Hyäne, an den Beinen gefesselt. Deine Gelassenheit ist nur gespielt, und einen Scheitel trage ich nicht. Du bist ein unbestimmter Artikel, eine Dunstabzugshaube, ein Radiergummibärchen. Ja, genau das bist du, ein Radiergummibärchen, jede Zeile ein neuer ein neuer ein.
Freiwillige Selbstkontrolle. Zeigen Sie mir bitte meinen Ausweis.
Gott läßt alle Fragen unbeantwortet.
Vielleicht ist das die größte denkbare Würdigung der Fragen.
Wer noch nicht fragt, muß das Fragen lernen.
Wer fragt, muß das Aufgeben des Fragens lernen.
Wer nicht mehr fragt, bekommt Antwort.
Der Arzt namens Lennon erhebt sich vom Stuhl neben Manteuffels Bett und geht hinüber zum anderen Patienten. Vor dessen Bett bleibt er am Fußende stehen und mustert den regungslos darin Liegenden.
Gruber also, denkt Manteuffel. Er hat es überlebt. Genau wie ich. Aber was eigentlich? Was ist vorgefallen? Was haben wir getan?
Eine Stimme fängt leise an zu sprechen. Grubers Stimme. So also klang die. Auch an diesen Klang kann sich Manteuffel nicht mehr erinnern. Oder noch nicht wieder.
Ich war auf dem Weg zu Minze, sagt Gruber. Ich hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Seit so vielen Jahren, daß ich mir gar nicht sicher war, ob ich sie wiedererkennen würde. Trotz oder wegen all der Bilder von ihr in meinem Kopf. Als ich Minze kennenlernte, waren wir fast noch Kinder. Jahrzehntelang waren wir zusammen. Niemanden sonst auf der Welt kannte ich so gut wie sie. Glaubte ich jedenfalls lange. Irgendwann trennten wir uns, aber das ist eine unübersichtliche Geschichte. Jedenfalls war ich auf dem Weg zu ihr.
Und ich hatte einen Revolver dabei.
Minze wohnte jetzt irgendwo im Nordosten. Wo genau, wußte ich nicht, nicht mal ungenau. Aber ich war entschlossen, sie zu finden. Ich hatte alles stehen- und liegenlassen und war einfach losgefahren. Mitten in der Nacht. Alles andere war mir plötzlich egal gewesen, vor meinem inneren Auge schwarz geworden. Irgendwelche Verabredungen standen in meinem Terminkalender, nichts Dringendes, sagte ich mir, ich strich sie durch und machte mich auf den Weg. Er führte mich an der kleinen Stadt im Nordwesten vorbei, in der ich aufgewachsen war, ich erreichte sie im Morgengrauen. Einer Eingebung folgend, verließ ich die Autobahn und fuhr zu meinem Elternhaus. Mein Vater und meine Mutter waren vor längerer Zeit gestorben, auch sonst wohnte in dem Vierparteienhaus niemand mehr, den ich kannte, das wußte ich. Aber ich wollte es sehen. Auf dem Weg durch die noch schlaftrunkenen Straßen kam mir in den Sinn, daß in der Nachbarwohnung gegenüber im Parterre ein Mädchen gelebt hatte, das ein paar Jahre älter als ich und sehr schön gewesen war, die Adoptivtochter eines kinderlosen Sportprofessorehepaars. Ich hatte sie immer sehr bewundert, obwohl oder gerade weil sie wegen des Altersunterschieds für mich außerhalb jeder Reichweite gelegen hatte, eine attraktive, hochgewachsene junge Frau mit nußbraunen Haaren, verglichen mit mir triebzerrissenem Knaben geradezu eine Mondgöttin wie Nico von The Velvet Underground, so faszinierend, daß ich nicht einmal wagte, sie mir nackt vorzustellen. Viele Jahre später erfuhr ich, daß sie einen berühmten Fernsehmoderator geheiratet hatte, einen sehr lustigen und klugen Mann,von dem sie sich aber nach ganz kurzer Zeit wieder scheiden ließ. Danach heiratete sie einen zwei Meter großen Handballspieler. Nach wenigen Jahren ging auch diese Ehe auseinander, worauf sie den Fernsehmoderator ein zweites Mal heiratete, ohne aber wieder mit ihm zusammenzuziehen. Diese Geschichte hatte mich tief beeindruckt und oft beschäftigt. All das geschah in der Zeit, als ich bereits mit Minze zusammen war.
Der Anblick des Hauses, in dem ich so lange gelebt hatte, versetzte mir einen Schlag vor den Kopf, einen Schock. Eigentlich sogar der Anblick der ganzen Straße.
Hattest du als Kind auch immer so ein schlechtes Gewissen wegen der Wasserverschwendung, wenn du auf die Toilette mußtest? fragt Manteuffel dazwischen. Ich habe oftmals nicht gespült, mit der sparsamen Absicht, es erst beim nächsten Mal zu tun, wenn ich sie wieder aufsuchen müßte. Benutzte freilich zwischendurch jemand anders von der Familie die Toilette, wurde ich jedes Mal entsetzlich ausgeschimpft, demütigend, niederschmetternd, vernichtend. Manchmal hat nicht viel gefehlt, und sie hätten mich mit der Nase in meine Hinterlassenschaft getunkt wie einen jungen Hund.
Wer ist das, wer spricht da, sagt Gruber.
Herr Manteuffel, sagt Doktor Lennon. Erzählen Sie weiter.
Auf den Namen Manteuffel reagiert Gruber gar nicht. Er scheint mit dessen Anwesenheit gerechnet zu haben und fährt fort.
In meiner Kindheit und Jugend war diese Straße am Südrand der kleinen Stadt eine schöne, leicht langweilige Vorstadtstraße gewesen. Schnurgerade und lang. Ein paar Kramläden, ein Mädchengymnasium, Kleinbürgerwohnhäuser mit schmalen Vorgärten. Wenig Durchgangsverkehr. Samstagnachmittags, vor der Sportschau, wurden in den Garageneinfahrten die Autos gewaschen, das schaumige Wasser floß in Strömen in die Gullys, die nicht allzu aufnahmefähig waren – im Sommer regnete es oft sturzflutartig, die Stadt liegt zwischen zwei Mittelgebirgen und gilt als die zweitverregnetste im ganzen Land, man hatte es dann mit lästiger Regelmäßigkeit mit vollgelaufenen Kellern zu tun, stinkende braune Brühe, bis zu anderthalb Metern hoch.
Am frühen Samstagabend zogen die Katholiken von links nach rechts, von Osten nach Westen, an unseren Fenstern vorbei, Richtung Kirche. Fromm sind sie ja, die Schwarzen, pflegte mein Vater zu sagen. Wir waren Protestanten und eher beiläufige Kirchgänger. Aber damals machte die Konfession noch einen beträchtlichen Unterschied, Mitte der 60er Jahre, in der westdeutschen Provinz. Mein erster Sandkastenfreund stammte aus einer katholischen Familie, die schräg gegenüber wohnte. Nicht daß meine Eltern direkt etwas dagegen gehabt hätten, aber an irritiert gehobene Augenbrauen erinnere ich mich deutlich. Seine Eltern und meine Eltern grüßten einander höflich, hielten auch gelegentlich ein Schwätzchen auf der Straße miteinander, aber zu weiterer Annäherung kam es nie, keine einzige Abendeinladung oder gemeinsame Unternehmung im Laufe von Jahrzehnten.
Nun sah ich also meine Straße wieder und erkannte sie kaum. Früher hatten die Häuser eher unauffällige Farben gehabt, mein Elternhaus zum Beispiel war dunkelgrau gewesen, mit einer rauhen Oberfläche, in der winzige Steinsplitter bei Sonnenlicht funkelten, andere waren in gedeckten Weißtönen oder ocker gehalten. Jetzt aber schrillte mir überall leuchtendes Hellgelb, Hellblau oder Hellrot entgegen, das mich immer unerträglicher blendete, je mehr sich die Morgensonne zeigte. Ich rieb mir die Augen. War ich wirklich so lange nicht mehr hier gewesen? Das war doch kein Straßenbild mehr, das war Entenhausen. Verkehrsberuhigende, nein, verkehrunmöglichmachensollende Buckel gaben der Fahrbahn das Aussehen eines langgestreckten Echsenrückens. Ich parkte auf der meinem Elternhaus (Vaterhaus, hätte man früher gesagt) gegenüberliegenden Straßenseite und starrte ungläubig auf die Hausnummer, ohne die ich das Gebäude nicht wiedererkannt hätte. Da war hinter dem Bürgersteig (sagt man heute Gehweg, wo es doch keine Bürger mehr gibt?) eine Hecke gewesen. Sie war verschwunden. Den kleinen Vorrasen bis zur Hauswand gab es noch. Aber auch der wirkte unkenntlich, denn man hatte die beiden Bäume abgehackt, die auf ihm links und rechts von der Eingangstür gestanden hatten. Unten rechts war unsere Wohnung gewesen. Die Äste und Blätter des rechten Baumes hatten nie oder selten viel Licht in mein Kinderzimmer gelassen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, das jemals als störend empfunden zu haben. Entblößt und klotzig stand das Haus jetzt da herum. Zunächst spürte ich so etwas wie Mitleid mit den heutigen Bewohnern, dann Wut. Warum hatten die das getan? Oder geschehen lassen? Oder hatte man sie gar nicht gefragt? Ich wurde immer fassungsloser und bereute meinen Abstecher von der Autobahn. Aber es kam noch schlimmer. Als ich meinen Blick nach rechts wandte und durch das Fenster der Beifahrertür schaute, ohrfeigte mich geradezu der Anblick eines, wie mir vorkam, nicht todschicken, sondern vom Tod geschickten niet- und nagelneuen Achtparteienmonstrums. Auf so etwas müßte ich jetzt jeden Tag blicken, wenn ich noch immer hier wohnen würde.
Maulaffen feilhalten, schoß mir durch den Kopf. In dieser Straße kann man heute mit offenen Augen nur noch Maulaffen feilhalten. Dort, wo sich jetzt das Monstrum breitmachte, war früher ein großes, würfelförmiges, dunkles Einfamilienhaus gewesen. Obwohl ich mit dem Jungen, der dort lebte, befreundet war, habe ich es merkwürdigerweise niemals betreten, vielleicht weil auch seine Eltern katholisch waren, ich weiß es nicht mehr. Ich habe ein paarmal hineingespäht, wenn er aus der Tür kam, es machte einen üppigen, weiträumigen, großbürgerlichen Eindruck, aber ich wurde nie hineingebeten, nicht ein einziges Mal. Wir haben immer nur draußen gespielt, in ihrem Garten. Doch was war das auch für ein Garten! Nicht so eine klägliche Schreberparzelle wie bei uns. Ein riesiger Rasen, in meinem Gedächtnis beinahe ein Fußballfeld, ging nach hinten über in Gemüsebeete, die für mich als Kind fast das Ausmaß einer Plantage besaßen. Paradiesisch. Als Krönung des Ganzen lag rechts hinter dem Haus neben dem schier endlosen Rasen ein alter verfallener Bunker, der uns mehr Geschichten erzählte, als wir selber erfinden konnten. Er war der Lebensmittelpunkt unserer acht- bis zehnköpfigen Clique und sorgte dafür, daß ich einen durchaus großen Teil meiner Kindheit an der frischen Luft verbrachte. So ein ausgeprägter Stubenhocker, wie es mir zuweilen im Rückblick vorkommt, war ich gar nicht. Der Nachbarsjunge war übrigens eine ziemliche Heulsuse. Aber wir anderen nahmen das in Kauf, angesichts dessen, was er zu bieten hatte. Später ist er dann ein regional nicht ganz unbekannter Bluessänger geworden. Ich sage ja: Heulsuse.
Und das alles war weg, futsch, unwiederbringlich verloren. Schockiert und erschüttert ließ ich den Wagen wieder an und fuhr los, mit dem festen Vorsatz, nie wiederzukommen. Mein letzter Gedanke in dieser Straße war: Nicht meine Eltern haben mir das Leben gegeben. Minze hat es mir gegeben, hier, als wir jung waren und uns hier liebten. Nur um es mir später zu nehmen. Und nun haben sie mir auch noch meine Straße genommen.
Jetzt habe ich gar nichts mehr.
Ich mußte Minze finden. Minze und einen Schlußstrich.
Nur wer imstande ist, auch die Schönheit eines Bombergeschwaders über sich am Himmel wahrzunehmen, ist überhaupt im mindesten vom Schönheitssinn affiziert, sagt Manteuffel.
Besser sie sagen dich tot, als sie lachen sich tot, über dich. Man kann ganz ordentlich leben, unterhalb des Radars. Ich kenne vielleicht nicht die Menschen, aber bestimmt das Beste an ihnen: ihre Freude, ihren Beifall, das Teilzeitweihnachten von etwas gemeinsam Gelungenem. Was anderes sind wir doch nicht bei einem Konzert als eine freie Assoziation (hallo Bakunin!) von miteinander Gelungernden. Ob ich ihnen freilich geben kann, was sie selbst nicht wissen, weiß ich auch nicht. Aber mein deprimiertes Minus und ihr erwartungsfrohes Plus ergibt in beinah jedem Fall entgegen der Mathematik ein Plus. Ich habe schon immer geahnt, daß mein strenggütiger, früh an Krebs verstorbener Mathelehrer Herr Kämmerer mit allem, was er konnte, und in bester Absicht nicht recht behalten würde. Keiner hat mich so gedemütigt wie er. So produktiv.
Gedanken schießen mir durch den Kopf. Entwaffnet die Gedanken, sonst schießen die Tränen zurück. Und so lange man beim Lachen sagt: »Das ist ja zum Schießen«, ist auch nichts gewonnen. Kein friedlicher Gedanke. Keine Freudenträne.
Nichts Nennenswertes habe ich getan gegen all das, wogegen man etwas tun müßte. Und ihr? Was habt ihr getan? Einfach so vor mich hingelebt habe ich. Und versucht, mir einen schmutzarmen Weg zu bahnen durch das große Schlamassel. Und ihr? Habt ihr anders gelebt? So machen wir es doch alle. Wir wissen doch alle Bescheid. Aber merkwürdig, dieses Wissen bedeutet nichts für unser Verhalten. Als beherrschte man eine tote Sprache. Wir ducken uns weg, wir wenden uns ab, betäuben uns, wir sind beschäftigt, unendlich beschäftigt. Ehe wir was machen, machen wir lieber nichts. Da ist eine unerklärliche Scham, ein Zögern, schwerer als Blei, aber federleicht ist das schlechte Gewissen. Die Zerstreuungen funktionieren nicht mehr, die Aufputschberuhigungsmittel werden härter, Chorsänger wirken wie Pappkameraden zum Scheibenschießen, der Wind hängt schief, die Sonne strauchelt. Wie gerne würden wir zurücktreten wie erwischte Politiker, in irgendeinen vorzeitigen Ruhestand. Aber hinter uns ist nichts.
Was macht er? Nichts. Das ist nicht viel. Hat er Spaß daran? Ja. Das ist nicht genug.
Feuer und Flamme muß er sein dafür. Schild und Schwert sein des Nein, des Nein zum So, des Nein zum Anders, des Nein zu allem. Sonst taugt er nicht zum Nicht-taugen. Sonst taugt er nichts, denn sonst macht er doch irgendwas, irgendwie und unterscheidet sich viel weniger von denen, die richtig was machen, als er glaubt. Und sein Wissen, oder seine Ahnung, daß die, die richtig was machen, nichts richtig machen, ist nichts wert, gar nichts. Ein Drückeberger. Ein Kaugummi-unter-den-Schultisch-Kleber, ein Schlechterwisser, dem nicht dämmert, daß nur ein Entweder – Oder zählt. Entweder Alleswisser oder besser noch Nichtswisser. Das Wissen schlechthin muß verweigert werden. Das Können, das Tun, die Theorie, die Praxis.
Erst wenn sich nichts mehr ändert, ändert sich was. Ändert sich alles.
Am Ende der Sätze kann Sex weiterhelfen.
Was für ein schöner Satz! Der dann einfach weitergeht, ohne Punkt und Komma, ja überhaupt ohne Schrift. Was dann noch groß geschrieben wird, braucht keine Buchstaben mehr außer unseren vier Buchstaben. Ein wirklich schöner Satz, früher oder später.
Wir, die wir nicht wissen, wovon wir leben sollen, wenn nicht vom Brot allein. Wir, die wir uns nie sicher sein können, woran wir einander erkennen. Wir, die wir, wo immer wir auch sind, an dem wichtigen Haus bauen, mit unseren bloßen Händen. An dem wichtigen Haus, mit unserem notwendigerweise begrenzten Verstand und unserer grenzenlosen Hoffnung. Wohl wahr, die Hoffnung ist grenzenlos, aber dann und wann zeigen sich Grenzen, die das nicht kümmert. Wir, die wir in einer Sternenblase schweben, in der es windstill ist, egal wie es draußen weht. Wir, die wir einem Wahn anhängen von der Verschönerung, von der Entwaltung der Welt. Die wir weder frei entscheiden können noch wollen, weil wir einem Ruf zu folgen haben, den die anderen nicht hören, der aber für uns alles übertönt, was denen, die nicht lauschen, die Ohren verstopft, womit keineswegs gesagt sein soll, daß wir taub sind für das Geschwätz, das die meisten bewegt und hin und her wirft wie Dünengras im Gefauch der Stürme, von denen wir uns nicht abhalten lassen, das wichtige Haus zu bauen aus Worten und Tönen. Dieser Text enthält 47 Ws.
Alle Männer sehen gleich aus. Alle Frauen sehen gleich aus. Alle Männer sehen wie Frauen aus, alle Frauen sehen wie Männer aus. Für einen Hammerhai. Denn er lernt sie ja nur im Taucheranzug kennen. Alle Männer, alle Frauen, alle gleich, Meer oder weniger.
Norbert, um Himmels willen, ruf mich zurück. Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann. Norbert, ich stehe unter Mordverdacht. Es ist ein Albtraum, ich habe überhaupt nichts getan, ich bin unschuldig, Norbert, ich kenne den Toten überhaupt nicht, was wird hier gespielt, Norbert, hol mich hier raus.
Das stimmt überhaupt nicht. Warum sage ich so was? Ich will mich doch wieder nur wichtig machen. Ich kenne nicht mal einen Norbert. Picassos Gemälde »Die Därme im Sessel« heißt in Wahrheit »Die Dame im Sessel«. Na und. Belanglos sind die Unterschiede. So belanglos.
Ich wär so gern einmal ein Vater gewesen. Oder ein Sohn. Oder so was in der Art. Und was bin ich gewesen? Nix. Das Leben ist wirklich nicht ungemein. Es ist sogar sehr gemein. Ungemein gemein. Zwei Buchdeckel, Geburt und Tod, und dazwischen: nix. Ich meine, ich habe mich immer wie ein Bruder gefühlt von einer Schwester, oder andersherum, geschwisterlos wie ich war. Nix. Und dann schaut man in den Himmel: Nix. Und dann läßt man Wasser in die Wanne und hält das Gesicht hinein: nix. Es gibt da so einen ollen Gottesbeweis, der mich beeindruckt: Gott muß existieren, existierte er nicht, widerspräche das seinem Begriff! Von wegen nix! Andererseits habe ich ein hauchzartes Rauschen in den Ohren, ein sehr weit entferntes Meer, und mein Arzt erklärt mir, ich hätte nix mit den Ohren, ich sei eine Art Hyperakustiker und hörte ungeborene Flöhe husten. Ich kann sozusagen die Stille hören.
Aber hallo. Und was hat das mit dem Gottesbeweis zu tun?
Das »Unterschichtenfernsehen« (Zitat Harald Schmidt) RTL zeigte neulich einen Zweiteiler über das Luftschiff HINDEN-BURG, sein Todeskampf in Lakehurst USA kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist als Covermotiv des ersten Albums von Led Zeppelin unsterblich geworden. Der Film beginnt in Deutschland, Mitte der 30er Jahre. Und als Hintergrundmusik läuft: englischsprachiger Rock.
Hallo?
So wird die Geschichte nachträglich peppig aufgehübscht, denn früher war ja bekanntlich alles in Wirklichkeit schwarzweiß. Was kommt als nächstes? Wie wäre es mit einer Neuverfilmung von Stalingrad – mit AC/DC als Soundtrack?
Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Es geht alles mit rechten Dingen zu. Jedes Todesurteil muß vom Minister bestätigt werden. Sonntags finden keine Hinrichtungen statt. Die Hinrichtungen werden mit dem Fallbeil vorgenommen. Dies ist nach übereinstimmender Auffassung aller Experten die mit Abstand humanste Methode. Sonntags finden keine Hinrichtungen statt. Werden zwei oder mehrere Gefangene auf einmal exekutiert, wird zuerst der am wenigsten Schuldige hingerichtet, um ihm die unnötige Härte zu ersparen, seine Kameraden sterben zu sehen. Sonntags finden keine Hinrichtungen statt. Erst wenn der Wärter mit den Worten »Fassen Sie Mut« in die Zelle tritt, erfährt der Häftling, daß er hingerichtet werden soll. Den abgetrennten Kopf hält der Scharfrichter an den Ohren hoch, zeigt ihn den Zuschauern und sagt: »Im Namen des Volkes ist Recht geschehen.« Sonntags finden keine Hinrichtungen statt. Neben dem Fallbeil steht ein großer schwarzer Korb für den Körper. Das Beil fällt mit höchster Geschwindigkeit und Präzision. Das Blut bespritzt den Scharfrichter. Nach jeder Amtshandlung wird er auf Staatskosten neu eingekleidet. Es besteht also kein Grund zur Beunruhigung. Die Verfahrensweise entspricht in vollem Umfang den Vorschriften. Jedwede Willkür ist ausgeschlossen. Die Hinrichtungen finden sonntags statt.
Ich habe geträumt, daß ich dich töte. Die Tat war das perfekte Kunstwerk. Seitdem rauche ich nicht mehr. Ich habe alles erreicht. Bruckner ist schuld am Zweiten Weltkrieg. Ich bin ein schwacher, niedriger Feigling. Ein ausgesprochen schlechter Charakter. Aufgeblasen, wankelmütig und heimtückisch. Es ist eine Schande mit mir. Bruckner ist schuld an der Judenvernichtung. Die einzigen Einfälle, die mir immer in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen, sind Ausreden. Was für ein Verbrecher, dieser Bruckner. Es ist nichts Heldenhaftes dabei, von der Wahnvorstellung gequält zu werden, ausgerechnet in den Menschen unsterblich verliebt zu sein, der mein ganzes Unglück ist. Es ist einfach nur erbärmlich. Bruckner ist schuld am Untergang Deutschlands, da beißt die Maus keinen Faden ab. Denn Bruckner war der Lieblingskomponist des Führers. Und nicht Wagner.
Wenn ich mir vorstelle, daß das Verhältnis zwischen einem Romancier und seinen Figuren sozusagen eine Taschenbuchausgabe des Verhältnisses von Gott zu seinen Kreaturen darstellt, schaudert mir vor dem Schöpfer.
Kirche und Theater heutzutage: Diejenigen, die die Angelegenheit am meisten lieben, gehen nicht hin.
Statt »Okay« sagen viele junge Frauen heutzutage am Telefon »Okiech«. Wie ein Baby, das man am Bauchnabel kitzelt.
Ich höre immer Bob Dylan. Auch wenn ich nicht Bob Dylan höre, höre ich Bob Dylan. Dann höre ich nämlich, wie er es gemacht oder nicht gemacht hätte. Und warum das, was ich gerade höre, auch von Bob Dylan sein könnte oder eben gerade nicht. Es ist dann eigentlich nur das Bob-Dylan-Artige oder das Überhaupt-nicht-Bob-Dylan-Artige, was mich am Gehörten interessiert. Im Grunde ist das so ähnlich wie bei einem Hund, der mit seiner Nase seine Welt sortiert. Riecht das nun nach Essen oder nicht? Wenn ja, prima. Wenn nein, tja, Pech gehabt. Ein Hund stellt sich den lieben Gott vermutlich als einen Hund vor, mit einer riesigen Knackwurst in den Pfoten, auf der er Musik macht. Bei mir käme da wahrscheinlich eine Art Bob Dylan heraus, mit einer Gitarre quer im Maul, die man essen kann. Aber ohne Mundharmonika! So was kommt dabei heraus, wenn man immer nur Bob Dylan hört. Man entwickelt dann schon einen Hang zu recht ausgefallenen Vergleichen.
Der junge Mann sagt: Ich war im Internet. Der alte Mann sagt: Ich war im Internat, da hab ich was gelernt. Der junge Mann sagt: Durch mein Facebook habe ich 5000 Freunde. Der alte Mann sagt: Freunde hatte ich wohl nur einen oder zwei, aber in deren Gesichtern konnte ich lesen wie in einem offenen Buch. Der junge Mann sagt: Ich will was vom Leben haben. Der alte Mann sagt: Bist du sicher? Oder willst du nicht eher vom Haben leben? Der junge Mann sagt: Ich werde alles anders machen als du. Der alte Mann sagt: Ich weiß, und deswegen wird es genauso sein wie bei mir. Der junge Mann sagt: Das glaube ich dir nicht. Der alte Mann sagt: Das glaube ich dir gern, aber ich weiß es. Der junge Mann sagt: Pah, ich habe noch so viel Zeit. Der alte Mann sagt: Da irrst du dich.
Was Kleidung betrifft, hatte mein Vater immer einen Geschmack, der mich als Kind erröten und wünschen ließ, in der Öffentlichkeit nicht mit ihm in Verbindung gebracht zu werden, sagt Gruber zur Zimmerdecke. Er war Beamter. Will sagen: Große Sprünge machen konnte er nicht, aber er hatte sein Auskommen, wie es so hieß. Durch die Erfahrungen von Krieg, Gefangenschaft und Nachkriegszeit war ihm die Sparsamkeit, ja Knickerigkeit jedoch dermaßen wie ein Nagel ins Fleisch eingewachsen, daß er sein äußeres Erscheinungsbild auf für mich unerträgliche Weise vernachlässigte. Nur das Billigste war gut genug. Nur die allerletzte Joppe von der Stange wurde genommen. Verglichen mit ihm sahen die peinlichen Stasi-Mitarbeiter, die man ab und zu im Fernsehen unzufriedene DDR-Bürger prügeln und abführen sah, noch richtig schick aus. Am schlimmsten war es im Sommer, den wir jedes Jahr auf derselben Nordseeinsel verbringen mußten, in einer düsteren, muffigen Pension, die bei dem häufigen Regenwetter so anheimelnd wie ein Untersuchungsgefängnis war und einem uralten litauischen Grantler gehörte, dessen einer Sohn als Arzt bei der 6. Armee in Stalingrad gefallen war, während es der andere bis zum sozialdemokratischen Landesregierungsmitglied in Nordrhein-Westfalen brachte. Dort trug Vater kurzärmelige Hemden wie aus der Altkleidersammlung, die viel zu eng seinen praller werdenden Bauch umspannten, kurze Hosen, Pepita-Hosen nannte man sie wohl, die seine trotz starker Behaarung kalkweißen Beine unschön zur Geltung kommen ließen, und natürlich karierte Socken in hellbraunen Sandalen, ein Anblick, der mich vor lauter entsetzter Scham gelegentlich in meine rechte Hand beißen ließ. Ich konnte mir nicht erklären, wieso nicht jeder, der ihn dergestalt sah, gepeinigt aufschrie. Vermutlich lag es daran, daß damals viele seines Alters so aussahen. Es war Sommer 1968, August. Natürlich regnete es wieder, schon seit einer Woche. In den Wäldern rund um das Hermsdorfer Kreuz verfaulten alarmbereite Verbände der Nationalen Volksarmee vor Langeweile, zum Sprung in die Tschechoslowakei ansetzend, der für sie nie stattfinden sollte, wie wir heute wissen. Ich betrat den Aufenthaltsraum der Pension, weil ich mir eines der verstaubten, vergilbten Bücher über deutsche Kriegsheldentaten ausleihen wollte, die dort die Regale zum Biegen brachten, irgendwas über das Husarenstück der Marine bei Scapa Flow. In der halb geöffneten Tür blieb ich stehen und belauschte ein hitziges Gespräch zwischen meinem Vater und seinem Freund Gustav, einem alten Kameraden aus der Gefangenschaft. Gustav war Professor an irgendeiner pädagogischen Hochschule in Hessen, mein Vater fühlte sich ihm, nicht ganz zu Unrecht, unterlegen. Unsere Familien verbrachten die Sommerurlaube grundsätzlich gemeinsam. Im Fernsehen sah man Bilder von russischen Panzern in Prag, die von verzweifelten jungen Leuten mit Steinen beworfen wurden, der Ton war abgedreht. Die jungen Leute sahen so ähnlich aus wie ich, nur waren sie vielleicht fünf, sechs Jahre älter. Ich beobachtete, wie mein Vater andauernd aufmerksam nickte, mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck. Gustav zischte gerade aufs äußerste erregt: Stell dir das mal vor. Stell dir das mal vor, was man sich heute bieten lassen muß von diesen roten vergammelten Horden. Neulich bei der Vorlesung steht da plötzlich so eine junge Schickse auf, zwanzig höchstens, trägt so ein dünnes Hemdchen ohne BH drunter und schreit mich durch den ganzen Raum an: Sie sind doch nur frustriert, weil Ihre Alte Sie nicht mehr drüberläßt!
In diesem Moment glitt mir die Türklinke aus der Hand, es gab ein Geräusch.
Still, flüsterte Vater, der Junge.
Die Alte, von der die Rede war, Gustavs Frau, war übrigens sehr nett. Und, wie ich mit meinen zwölf Jahren fand, auch sehr sexy. Ich glaube, sie hieß tatsächlich Kriemhild oder so ähnlich. Aber der Orgasmus dürfte ihr nicht fremd gewesen sein. Und ich habe nie vergessen, daß sie mir zwei Jahre später am Strand sagte: Vorsicht, Junge. Die Minze hat den Teufel im Leib.
Dabei zog sie ganz selbstverständlich ihren Badeanzug aus.
Ich konnte ihr dichtes Schamhaar sehen.
Man ist das, wofür man gehalten wird. Und nur wenn man selber glaubt, daß man das ist, wofür man gehalten wird, ist man mit sich im reinen. Einigermaßen. Denn vielleicht wünscht man sich ja insgeheim, für etwas anderes gehalten zu werden, und ist gar nicht so begeistert von dem, wofür man gehalten wird. Man hält es für ein Mißverständnis oder schlimmerenfalls sogar für eine Zumutung. Und da atmet, da röchelt andauernd, da stöhnt immer jemand ganz anderes im eigenen Schlaf, und da schabt ständig ein viel bunterer Hund an der Haustür. Man kann also durchaus selber glauben, das zu sein, wofür man gehalten wird, und dennoch darunter leiden. Dann lebt man in einem Zwiespalt, in einer Gletscherspalte, in der sich überwintern läßt, möglicherweise. Wenn man aber selber nicht glaubt, daß man das ist, wofür man gehalten wird, dann kann man nicht mehr schlafen. Dann heult der bunte Hund den Mond an. Dann hat man ein richtiges Problem. Dann ist man ein Künstler.
Hallo, sagte sie. Ich bin die Frau, die du nicht kennst. Und von der du nicht mal weißt, daß du sie nicht kennst. Ich bin die Frau, an die du nie gedacht hast. Die du aber liebst wie nichts sonst auf der Welt. Du weißt es nur nicht. Du hast eine andere Frau. Und du bist sogar glücklich mit ihr. Nur in den tiefsten Tiefen deines Hinterkopfes gibt es jemand, von dem du nichts weißt. Gibt es jemand, den es nicht gibt. Mich. Und mich liebst du. Mehr als du überhaupt lieben kannst. Mehr als Gott den Urknall liebte. Aber du mußt dich nicht schämen. Es besteht kein Grund zur Panik. Du hast dir nichts zuschulden kommen lassen. Du bist nicht untreu, nicht einmal in Gedanken. Du weißt ja nichts von mir. So geheim ist diese Sehnsucht. Du wirst auch nie von mir erfahren, dies hier träumst du nur, und du wirst es so gründlich vergessen, wie man nur Träume vergessen kann. Und ehe du mich fragst: Ja, ich liebe dich auch. Ebenso sehr wie du mich.
Und was soll ich jetzt tun? fragte ich. Soll ich versuchen, dich kennenzulernen? Nein, nein, sie lächelte. Das ist völlig unmöglich. Das wäre wie der Versuch, jemanden kennenzulernen, der nie gelebt hat, aber lebendiger ist als alle jemals Lebenden, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich glaube, ja, sagte ich. Und weißt du was? So was gelingt manchmal.
Ja, sie lächelte, manchmal. Aber nicht in Wirklichkeit. Und wozu sollte das auch gut sein? Ich bin ja schließlich in festen Händen. Ich habe einen Freund. Das ist der Mann, von dem deine Frau nichts weiß.
Du schlägst mich.
Ja, aber ich will Friedensgespräche.
Friedensgespräche?
Ja, selbstverständlich. Aber du sagst ja nichts. Ich höre jedenfalls nichts.
Weil du deine Hände um meinen Hals gelegt hast und mich würgst.
Das verstehst du falsch. Ich würge dich nicht. Ich schüttle dich nur. Du wirkst auf mich nicht wirklich wach.
Ich werde gleich ohnmächtig. Ich kriege keine Luft mehr. Du würgst mich.
Das ist übelste Propaganda. Du willst die Weltmeinung gegen mich aufhetzen. Du willst ja gar keinen Frieden. Du willst mich vernichten.
Das ist nicht wahr. Erst mal will ich wieder atmen können. Und dann will ich unbedingt Frieden.
Aber du sagst nichts. Ich höre nichts.
ATMEN. FRIEDEN.
Tut mir leid. Nichts zu hören. Ich bin doch nicht taub. Ich habe ausgezeichnete Ohren. Aber so lange ich nichts höre, muß ich annehmen, daß du Böses im Schilde führst. Also schlage ich dich wieder. Sicher ist sicher.
Na gut. Geschlagenwerden ist immer noch besser als Erwürgtwerden.
Na siehst du. So kommen wir zusammen. Du zeigst ja Einsicht.
Und du willst tatsächlich Friedensgespräche?
So wahr ich hier würge. So wahr ich hier schlage.
Aua.
Das habe ich verstanden. Das ist eine gute Antwort.
Aua.
Das ist sogar eine ausgezeichnete Antwort. So werden sie ein Riesenerfolg, unsere Friedensgespräche.
Stell dir mal vor, du bist Polizist. (Meinetwegen auch Polizistin, wir sind hier ja nicht auf der Gorch Fuck.) Und deine Vorgesetzten stecken dich in Zivilkleidung, verfrachten dich auf Lastwagen und drücken dir Molotowcocktails in die Hand, die du auf friedliche Demonstranten werfen sollst. Blut soll fließen, damit das Militär einen Vorwand hat, einzugreifen und alles niederzumachen, was nach Freiheit ruft. Dann weißt du plötzlich ganz genau: Die Lüge bricht zusammen. Die Maske der Verbrecher an der Macht ist endgültig zerbröselt. Jetzt stehen sie nackt da vor der Welt, mit puterrotem Kopf, wie ein verstopftes Frettchen beim Kacken. Jetzt wissen sie nicht mehr weiter. Jetzt werfen sie dich in den Kampf. Ihre lächerliche Verfassung haben sie immer schon mit Füßen getreten. Jetzt geben sie dir ihren letzten Fußtritt, nach vorn in die Schlacht. Jetzt bist du die letzte Linie der Verteidigung des Bösen. Es ist schön, wenn alte Lügen zusammenbrechen, stürzen, platzen. Wenn viele mutige Leute plötzlich die Wahrheit sagen. Aber jetzt kommt es an auf dich und deinesgleichen. Laßt euch nicht für dumm verkaufen. Gebt der Lüge auch wirklich den Todesstoß, bevor sie selber ihre Nachfolge regelt. Denn leider sind Lügen nicht so zeugungsfaul wie Deutsche. Lügen leben in äußerst kinderreichen Familien. Hinter den alten Lügen recken schon die neuen Lügen ihre frechen Visagen aus dem Nest. Also sorgt für Ordnung, aber nicht für die alte in neuer Verkleidung. Die Tür des Käfigs steht schon offen. Ihr müßt nur noch herauskommen. Das ist viel schwerer, als zwischen den Gitterstäben nur mal tief durchzuatmen. Aber nur wer herauskommt, kann sehen, daß die Gitterstäbe nicht die Säulen sind, auf denen der Himmel ruht.
Weiß Gott nicht.
Das Ski-As stand kurz vor der Goldmedaille. Nur einmal noch hochkonzentriert die Piste herunter, und alles war klar. Der Triumph war zum Greifen nah, der Lohn für jahrelanges eisenhartes entbehrungsreiches Training. Und los ging’s, in Schußfahrt. Bis zur Hälfte der Strecke lief alles gut. Plötzlich aber verknotete ihm ein Gedanke förmlich die Beine. Er dachte: KANDAHAR. Das klingt aber komisch. Bin ich nun eigentlich in Garmisch-Partenkirchen (jedenfalls ungefähr) oder in Afghanistan?
Sofort beim nächsten Tor fädelte er ein. Aus und vorbei der Traum, alles umsonst.
Und da geschah etwas Merkwürdiges mit ihm: Locker und entspannt und in aufrechter Haltung trödelte er den Rest der Strecke herab bis ins Ziel. Er hätte vielleicht noch Zweiter werden können, aber das interessierte ihn nicht mehr. Gemächlich wie ein Wintersporturlauber kam er unten an. Und dachte bei sich: Wie schön ist das. Wie herrlich geradezu. Ihr könnt mich alle mal.
Und daß ihn ein ohrenbetäubender Jubel empfing, wunderte ihn nicht im geringsten.
Heutzutage kann man sagen, was man will. Doch, doch, das kann man. Es darf nur nicht stimmen. Nein, die Wahrheit sein darf es nicht. Dann darf man vielleicht weiter die Lippen bewegen, aber die Stimme wird einem abgedreht. Und Musik wird eingeblendet. Volksmusik. Das ist nicht etwa die Musik des Volkes, das ist die Musik fürs Volk. Die tägliche Tracht Prügel. Und die kann ja heutzutage in praktisch jeder Tracht daherkommen, das weiß man vorher nie, DJ Ötzi oder Rammstein, Kurz Kurz oder Lang Lang, es bleibt spannend. In diesem Land weiß man vorne, was hinten rauskommt. Der Bundesinnenminister ruft auf zur Wachsamkeit gegen Terror, und dann wird eine Lehrerin gemobbt, die einen talibanverdächtigen Schüler meldet. Die blonde Dschungelcampdumpfbacke Sara Knapp-Ich würde wohl sagen: »Das hat er aber nicht gründlich überdenkt, auf so was achte ich genau, das hab ich meiner Mutter geschwört, hihi.«
Ja, ja, in manchen Fällen wäre das schon sehr segensreich, das mit dem Abdrehen der Stimme. Aber leider. Gerade in diesen Fällen passiert das nie.
Er muß weg. Er muß einfach weg. Denn er ist eine Lichtgestalt. Warum ist er eine Lichtgestalt? Weil wir ihn so hingestellt haben. Weil wir so viele Kerzen angezündet haben rings um ihn her. Nebelkerzen waren auch dabei und Musik von AC/DC.