Matthias Finger
SBB – was nun?
Szenarien für die Organisation der Mobilität in der Schweiz
NZZ Libro
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Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2019 (ISBN 978-3-03810-405-6)
Lektorat: Simon Wernly, Langenthal
Gestaltung und Satz: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen
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ISBN E-Book 978-3-03810-426-1
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«Systeme müssen nicht unbedingt bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.»
«Die Antwort auf die Bahn ist wiederum die Bahn; die Frage ist allerdings, in welcher Form, in welchem Zustand und zu welchem Preis.»
Inhalt
1 Einleitung
2 Die Schweiz und die SBB
2.1 Erste Etappe: 1848 – 1901 – die Frage des Eigentums, oder: Wem gehört die SBB?
2.2 Zweite Etappe: 1902 – 1982 – die Frage der gemeinwirtschaftlichen Leistungen, oder: Wofür bezahlt man denn die SBB?
2.3 Dritte Etappe: 1983 – 1999 – die Frage der Governance, oder: Wie viel Autonomie für die SBB?
2.4 Vierte Etappe: ab 2000 – die Frage der Unternehmensautonomie, oder: Was nun mit der SBB?
2.5 Fazit
3 Nörgeleien
3.1 «Die SBB ist zu teuer»
3.2 «Die SBB investiert am falschen Ort»
3.3 «Es gibt nicht genug Wettbewerb im Bahnsektor»
3.4 «Der SBB geht es nur ums Geld»
3.5 «Die SBB reformiert sich auf dem Buckel des Personals»
3.6 «Die SBB baut den Service public ab»
3.7 «Die SBB handelt über unsere Köpfe hinweg»
4 Die wirklichen Herausforderungen
4.1 10-Millionen-Schweiz, Verstädterung
4.2 Multimodalität
4.3 Von der Digitalisierung zu Mobility as a Service
4.4 Ökologie
4.5 Was bedeutet das alles für die SBB?
5 Policy-Szenarien
5.1 «Market is king»
5.2 Tod durch Mikromanagement
5.3 Bilanz
6 Systemführer-Szenario
6.1 Von welchen Systemführer-Funktionensprechen wir?
6.2 Die SBB als Systemführerin?
6.3 Institutionelle Ausgestaltung der Systemführerrolle der SBB
6.4 New Public Management oder die saubere Beziehung der SBB zum Staat als Eigner
6.5 Welcher strategische Freiraum für die SBB?
7 SBB – was nun?
7.1 Wettbewerb? Ja, bitte!
7.2 Vision und Empfehlungen
Anhang
Bibliografie
Abkürzungsverzeichnis
Der Autor
1 Einleitung
Die Politik soll auf Bundesbetriebe wie Post, SBB oder Swisscom wieder mehr Einfluss nehmen, findet der Zürcher SP-Nationalrat Thomas Hardegger. Das Parlament soll künftig deren Verwaltungsräte bestimmen, fordert er. Die Ausgestaltung der Grundversorgung sei Sache der Politik und nicht von Managern, sagt Hardegger. Die Bevölkerung sei zunehmend frustriert über verwaiste Bahnhöfe und Poststellen, moniert er. Bei bürgerlichen Parlamentariern stösst die Idee auf Ablehnung. Damit drehe man das Rad um 20 Jahre zurück. (Ostschweiz am Sonntag, 30. 9. 2018)
In diesem parlamentarischen Vorstoss kommt Unmut über die aktuelle Entwicklung bei den grossen Schweizer Staatsunternehmen zum Ausdruck. Es ist nur eine von vielen parlamentarischen Unmutsäusserungen, die die SBB, die Post und die Swisscom zum Gegenstand haben. Weitere werden zweifelsohne folgen. Und die Kritik, dass die Manager zu viel Freiraum hätten, ist nur eine von vielen Kritiken – oder, wie ich meine, Nörgeleien –, die in den letzten Jahren an den Staatsbetrieben geübt wurden.
Wir wollen uns in diesem Buch mit der SBB auseinandersetzen. Nicht alle kritischen Äusserungen, die das Schweizer Bahnunternehmen betreffen, gehen in die gleiche Richtung, oft sind sie widersprüchlich: Die Privatisierung der SBB wagt zwar heute niemand mehr zu fordern. Vor 20 Jahren war diese Forderung aber durchaus salonfähig. Heute spricht man eher davon, die SBB dem Wettbewerb auszusetzen. Sie soll effizient, pünktlich, billig und innovativ sein und dem neuesten Stand der digitalen Technologie entsprechen. Gleichzeitig soll sie aber auch den Service public (was immer das ist) erbringen oder sogar verkörpern, unrentable Linien und Bahnhöfe bedienen, Züge in Randzeiten halbleer fahren lassen, in Stosszeiten wiederum mehr Züge anbieten und Bahnhöfe und Bahnlinien so ausbauen, dass sie kein Land verbrauchen und den normalen Verkehr nicht beeinträchtigen. Zudem soll die SBB dem Privatsektor keine Konkurrenz machen, zum Beispiel bei den Ladenöffnungszeiten an den Bahnhöfen. Die Ladenlokale soll sie gefälligst günstig vermieten, wie der Gewerbeverband für seine Mitglieder fordert. Aber sie soll auch Konkurrenten zulassen auf ihren eigenen Infrastrukturen, Freude haben, wenn Flix- und andere Busse ihr die Kunden wegnehmen, und sich bitte nicht benehmen wie ein fetter Monopolist, dem ein bisschen Wettbewerb nur gut tut. Das Problem ist, dass nicht alles gleichzeitig zu haben ist, oder vielleicht doch? Die SBB als eierlegende Wollmilchsau?
Nirgends in Europa – und wahrscheinlich sogar weltweit – fährt man häufiger mit der Bahn als in der Schweiz. Durchschnittlich 72-mal pro Jahr fuhr 2016 jede Person in der Schweiz damit. Dabei wurden 2463 Kilometer zurückgelegt. Dementsprechend ist auch die SBB gut unterwegs: Im ersten Halbjahr 2018 hat die SBB täglich 1,25 Millionen Passagiere befördert (Vorjahresperiode 1,24 Mio.). Die Anzahl Generalabonnemente ist im Vergleich zur Vorjahresperiode um 2,5 Prozent, diejenige der Halbtaxabonnemente um 4,8 Prozent gestiegen. Mehr als drei Millionen Reisende haben ein Halbtax- oder Generalabonnement; das sind rund 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die Schweizer scheinen die Bahn und damit auch die SBB zu brauchen … und zu mögen; und gerade deshalb nörgeln sie vielleicht an ihr herum. Und dies sowohl als Kunden wie auch als Bürger und Steuerzahler. Nur so ist es zu erklären, dass Bahn- und ÖV-Vorlagen seit über 30 Jahren konsistent vom Volk unterstützt werden. Zur Erinnerung: 1987 stimmten 57 Prozent der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger der Vorlage «Bahn und Bus 2000» zu, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) bejahten im Jahr 1992 satte 62 Prozent, zur Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe LSVA sagten im gleichen Jahr 67,1 Prozent Ja, den Fonds zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs FinöV nahm das Stimmvolk im Jahr 1998 mit 63,5 Prozent an und die richtungsweisende FABI-Vorlage fand 2014 den Zuspruch von 62,0 Prozent der Schweizer Bevölkerung; einzig im Kanton Schwyz wurde FABI verworfen.
Aber für gewisse Bundes-, Kantons- und Lokalpolitiker, aber auch für Vertreter der Verwaltung, insbesondere des BAV, genügt das nicht: Sie hören, sagen sie, dass die Bevölkerung mit gewissen Entscheidungen – oder Nicht-Entscheidungen – der SBB unglücklich sei, und wollen die SBB deshalb zwingen, auf deren Anliegen einzugehen. Schliesslich sei die SBB ein Staatsunternehmen und als solches gehöre es eben der Bevölkerung, deren selbsternanntes Sprachrohr wiederum die Politiker, von national bis lokal, die Verwaltung, die Gewerkschaften usw. sind. In diesem Wunschkonzert geht meiner Meinung nach die wichtigste Frage vergessen: Wozu braucht es in der Schweiz eine SBB? Und falls man sich einig ist, dass die SBB für die Bahn und die Schweiz eine systemrelevante Funktion verkörpert: Wie müssen dann deren institutionelle Rahmenbedingungen ausgestaltet sein, dass die SBB diese Funktion auch effizient erfüllen kann? Darum geht es in diesem Buch.
Die ganze Debatte rund um die SBB ist leider in letzter Zeit zu einer grossen Kakofonie verkommen. Es herrscht Konfusion gerade bei den Politikern und, so fürchte ich, immer mehr auch bei der Bevölkerung. Man verliert das Mass der Dinge und weiss nicht mehr, was wichtig und was eigentlich nur Nebengeräusch (oder Nörgelei) ist. Ich habe dieses Buch geschrieben, um die einzelnen Aspekte der Debatte in die richtige Relation zu setzen und den Blick wieder auf die wichtigen Dinge zu lenken: Die SBB ist nicht irgendein Unternehmen, an dem man politisch beliebig herumexperimentieren kann, als ob es nur ein Luxus wäre für die Schweiz, die ja ohne SBB ebsenso gut, wenn nicht besser und vor allem billiger leben würde. Vielmehr hat die SBB zumindest bis zum Autoboom der 1960er-Jahre eine zentrale Rolle bei der Erschliessung und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gespielt. Auch wenn sich der Anteil der Bahn am gesamten Transportaufkommen seit den 1990er-Jahren bei etwa 40 Prozent für den Güterverkehr und rund 20 Prozent für den Personenverkehr eingependelt hat, sind Bahn und SBB ein Grundpfeiler einer mobilen Schweiz … und werden immer wichtiger, denn die Schweiz wird immer mobiler. Ich bin der festen Überzeugung, und werde in diesem Buch entsprechend argumentieren, dass eine 10-Millionen-Schweiz ohne SBB als Rückgrat des «Bahnsystems Schweiz» – und, wie ich zeigen werde, als «Systemführerin» – nicht funktionieren kann. All die seit einiger Zeit ins Feld geführten «Nörgeleien» an der SBB verfehlen deshalb nicht nur das Ziel, sie vernebeln auch die Debatte, die man eigentlich führen sollte, denn es geht im Grunde genommen um die Frage, wie die SBB institutionell aufgestellt sein müsste, damit sie auf die Herausforderungen einer mobilen 10-Millionen-Schweiz so antworten kann, dass das Land auch in Zukunft für dessen Bewohnerinnen und Bewohner attraktiv und als Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig bleibt. Wie ich zeigen werde, wurden die Herausforderungen für die SBB schon früh erkannt und es wurde seit den 1980er-Jahren daraufhin gearbeitet, die SBB entsprechend fit zu machen. Zu Beginn ging es ja auch flott vorwärts, dann aber ist der Reformeifer erlahmt. Erlahmt ist insbesondere das Interesse der Politik und der Verwaltung an einer konsequenten und vollständigen Umsetzung der Ziele, die mit der Bahnreform I in den Blick genommen worden sind. Zur Erinnerung: Mit der Bahnreform I wurde die SBB 1999 als spezialrechtliche AG aus der Bundesverwaltung ausgegliedert, das Besteller-Ersteller-Prinzip im Regionalverkehr eingeführt und der grenzüberschreitende Güterverkehr in den freien Wettbewerb gestellt. Seither geht es aber nur noch harzig vorwärts, wenn überhaupt. Ich meine, dass es heute darum geht, die 1999 begonnene Bahnreform konsequent zu Ende zu führen, sodass die SBB ihre «Systemführerrolle» im Dienst einer mobilen, attraktiven und wettbewersbfähigen Schweiz auch in Zukunft wahrnehmen kann.
2016 hat mein französischer Kollege Pierre Messulam ein Buch mit dem provokativen Titel Que faire de la SNCF? publiziert. Der Titel hat mich inspiriert und sein Buch hat mich angeregt, etwas Vergleichbares über die SBB zu schreiben. Aber hier muss man gleich anmerken, dass man eigentlich die SNCF und die SBB sowie Frankreich und die Schweiz nicht vergleichen kann: In Frankreich geht es nun wirklich um das Überleben der SNCF. Das Unternehmen hat heute 55 Milliarden Euro Schulden und der Staat hat sich endlich durchgerungen, 20 Milliarden davon zu übernehmen, denn mehr kann er sich nicht leisten. Die französische Eisenbahninfrastruktur ist in einem desolaten Zustand, insbesondere in den Regionen, und das Geld für deren Reparatur fehlt. Es bleiben eigentlich nur Schliessungen von Linien. Der Staat will, dass der Regionalverkehr von den Regionen selbst finanziert wird, aber die Regionen sind wegen der schlechten Leistungen nicht gut auf die SNCF zu sprechen und werden bei der erstbesten Ausschreibungsgelegenheit die SNCF abstrafen. Beim einzigen lukrativen Geschäft der SNCF, nämlich bei gewissen (nicht allen) Hochgeschwindigkeitslinien, will der Staat – teilweise auf Druck der EU – Wettbewerb einführen, was dazu führen wird, dass gerade die lukrativsten Linien der SNCF verloren gehen. Was nun mit der SNCF? Aber noch wichtiger: Welche Zukunft hat die Mobilität auf der Schiene in Frankreich?
Die Lage der SBB in der Schweiz ist nicht mit der SNCF vergleichbar. Aber ich habe trotzdem einen ähnlichen Titel gewählt, denn ich möchte nicht, dass es dereinst so herauskommt wie mit der SNCF in Frankreich. Auch will ich zeigen, was wir haben – und erreicht haben – im schweizerischen Bahnsystem, zu einem grossen Teil dank der SBB und der Unterstützung der SBB durch Staat und Bevölkerung. Und genau dies geht in letzter Zeit in der allgemeinen Kakofonie dieser Nörgeleien vergessen. Ich versuche in diesem Buch, die aus meiner Sicht wichtigen Fragen aufzuwerfen. Es sind dies Fragen zur Governance, und nicht nur zur Corporate Governance der SBB: In welchem institutionellen Rahmen soll sich die SBB als Staatsunternehmen in Zukunft bewegen? Welche Rahmenbedingungen wirken lähmend? Politik und Verwaltung legen den Rahmen fest. Meine Lösungsansätze sind als Vorschläge gedacht, als Vorschläge für eine politische und gesellschaftliche Debatte rund um die SBB und deren Rolle für die Schweiz.
Dementsprechend ist das Buch strukturiert: In einem ersten Kapitel werde ich die untrennbare Geschichte zwischen der Schweiz und der SBB in Erinnerung rufen. Ich habe diese gemeinsame Geschichte in vier Etappen aufgeteilt: Die erste Etappe deckt die Zeit von den Anfängen der Schweizer Eisenbahn bis zur Gründung der SBB ab. Die zweite Etappe umfasst die Zeit zwischen 1902 und 1982, dem Jahr, in dem ein Leistungsauftrag an die SBB definiert wurde. Dieser Leistungsauftrag reflektiert die Erkenntnis, dass man das Verhältnis zwischen Staat und SBB klären muss und die SBB-Führung einen (gewissen, noch nicht sehr grossen) Spielraum braucht, damit das Unternehmen im Dienst der Schweiz operieren kann. Die dritte Etappe beginnt 1982 und dauert bis 1999, bis zur sogenannten Bahnreform I. Während dieser Zeit wurden die wichtigsten institutionellen Rahmenbedingungen dieses Freiraums definiert und teilweise implementiert. In der vierten Etappe, der Zeit nach 1999, gerät die Entwicklung der SBB ins Stocken, obwohl die Herausforderungen immer grösser und dringender werden. In einem zweiten Kapitel diskutiere ich dann all die Nörgeleien, die seit 1999 an der SBB abgearbeitet werden und zeige, dass es sich dabei eigentlich um Nebenkriegsschauplätze handelt. Kapitel 3 präsentiert die aus meiner Sicht wichtigsten Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht, nämlich die Mobilität in einer 10-Millionen-Schweiz, die Multimodalität, die Digitalisierung der Mobilität und die ökologischen Herausforderungen des Verkehrs. In diesem Kapitel argumentiere ich zudem, dass die SBB bei diesen Herausforderungen eine wichtige, wenn nicht sogar eine zentrale Rolle zu spielen hat. Kapitel 4 zeigt deshalb drei heute mögliche Szenarien der institutionellen Rahmenbedingungen für die SBB auf, nämlich den freien Markt («Market is king»), die zu enge Führung der SBB durch Verwaltung und Politik («Tod durch Mikromanagement») und das dritte, aus meiner Sicht wünschbare Szenario mit der «SBB als Systemführerin». Dieses dritte Szenario wird in Kapitel 6 im Detail beschrieben. Kapitel 7 zeigt schliesslich auf, wie man dieses Systemführer-Szenario konkret umsetzen könnte … und eigentlich müsste. In diesem Schlusskapitel finden sich denn auch die Vorschläge, von denen ich mir erhoffe, dass sie aufgenommen und diskutiert werden.
Dieses Buch ist ein «end-of-career book». Darum ist es auch in der Ich-Form geschrieben, ohne akademischen Schnickschnack und ohne Referenzen. Es geht um meine persönlichen Ideen, Überlegungen und Argumente, die ich über die Zeit entwickelt und präzisiert habe. Argumente brauchen keine Referenzen, aber sie sollten überzeugen … hoffentlich. Ich bin seit 2002 Professor für Management von Infrastrukturen an der EPFL. Vorher war ich während acht Jahren Professor für Management öffentlicher Unternehmen. In dieser Zeit habe ich mich in erster Linie mit der Governance, der Deregulierung, der Reregulierung, der Privatisierung und dem Service public in den verschiedenen Infrastrukturen – Post und Telekom, Transport und Energie – befasst. Seit 2010 habe ich die Transportabteilung der Florence School of Regulation aufgebaut. Dort geht es in erster Linie um die Diskussion mit der EU-Kommission zum Thema Liberalisierung und Regulierung im Transport (Eisenbahn, Luftfahrt, lokaler öffentlicher Verkehr). Zwischen 2004 und 2015 war ich Mitglied der Schiedskommission im Eisenbahnverkehr (SKE), die nun endlich in RailCom umbenannt wurde. Ich war auch Mitglied der Expertenkommission Organisation Bahninfrastruktur (EOBI) (2010 – 2013). In meiner Zeit an der EPFL habe ich viele Doktoranden betreut, die an verschiedenen Verkehrsthemen geforscht haben und ihrerseits mehrheitlich in Unternehmen (aber nicht der SBB) und in der Bundesverwaltung gearbeitet haben. Von ihnen und während meiner regulatorischen Tätigkeiten habe ich viel gelernt, und ich versuche nun, das, was mir zum Thema SBB relevant scheint, auf den Punkt zu bringen. Für dieses Buch habe ich mit ausgewählten Experten, inklusive Management der SBB, informative Gespräche geführt. Speziell danken möchte ich Max Friedli, Mathias Gsponer, Ueli Stückelberger und Hans Werder. Aber für das hier Geschriebene bin natürlich nur ich allein verantwortlich.
2 Die Schweiz und die SBB
Die SBB wurde am 1. Januar 2019 117 Jahre alt, die Schweiz als Staat ist über 50 Jahre älter und die Eisenbahn als Verkehrsmittel ebenfalls. Ein kurzer historischer Rückblick lohnt sich, um die interdependente Entwicklung der Schweiz, der Bahn und der SBB der letzten 170 Jahre zu verstehen. Denn einige der Probleme, die wir heute (noch) haben, stammen schon aus dieser Zeit. In diesem Kapitel werde ich aufzeigen, wie sich das schweizerische Bahnsystem seit der Gründung der Eidgenossenschaft 1848 entwickelt hat und wie diese Entwicklung mit der Entwicklung der Schweiz verbunden ist. Wie erwähnt, unterteile ich diese Entwicklung in vier Etappen, nämlich die Zeit vor der Gründung der SBB, die Zeit zwischen 1902 und 1982 – die ersten 80 Jahre –, die Zeit zwischen 1982 und der Bahnreform I (1999, 18 Jahre) und die Zeit seit der Bahnreform I (2000 – 2018, 19 Jahre). Über diese Zeit kristallisieren sich allmählich drei Ebenen heraus, auf denen man die Entwicklung der Beziehung zwischen der Schweiz und der SBB analysieren kann, nämlich die Ebene der Verkehrspolitik (von Beginn an), die Ebene der Finanzierung der SBB und des Bahnsystems (zusätzlich ab der zweiten Etappe), die Beziehungen Schweiz–EU sowie die Organisation und Governance der SBB (zusätzlich ab der dritten Etappe).
2.1. Erste Etappe: 1848 – 1901 – die Frage des Eigentums, oder: Wem gehört die SBB?
Der Ursprung der Eisenbahn in der Schweiz geht auf den Privatsektor zurück, das heisst auf Kaufleute, die sich von der Bahn tiefere Transportkosten und wirtschaftliches Wachstum erhofften, aber auch nicht den «Anschluss an Europa» verpassen wollten. Frankreich, Deutschland und Österreich hatten in der Tat schon ab 1830 mit dem Bau von Bahnlinien begonnen. Eigentlich wollten die Zürcher Kaufleute eine Linie nach Basel bauen, um Zürich ans französische Netz anzukoppeln, aber dieses Anliegen scheiterte einerseits am Kantönligeist – die beiden Basel waren dagegen – sowie an den Finanzen. Es sind dies zwei Hindernisse, die heute immer noch existieren. Schliesslich wurde 1847 die Linie Zürich–Baden – die sogenannte Spanisch-Brötli-Bahn – eingeweiht.
Und so ging es auch weiter: Es entstand ein Patchwork von (privaten) Bahnlinien, die meist nicht untereinander verbunden waren und mit Ausnahme der Spanisch-Brötli-Bahn die jeweiligen Kantonsgrenzen nicht überschritten. Die Bundesverfassung von 1848 erlaubte es ab diesem Zeitpunkt, zumindest von einem integrierten Bahnsystem zu träumen. Als erster Schritt verabschiedete das Parlament 1852 ein (erstes) Eisenbahngesetz, das die Planungshoheit des Bundes in Sachen Eisenbahnbau festlegte, jedoch weiterhin auf private Finanzierung und somit auf private Eisenbahngesellschaften setzte. Die Kantone durften die Konzessionen an die privaten Investoren-Unternehmen vergeben und der Bund durfte die entsprechenden Projekte genehmigen. Die «Staatsbahn» musste jedoch noch weitere 50 Jahre warten. Es ist dies ein typisch föderal-liberales Modell, das, wenn auch nicht mehr in der Eisenbahn, jedoch in vielen anderen Bereichen in der Schweiz bis heute weiterbesteht. Zum Vergleich, im Postsektor ging es schneller, denn die Schweizerische Post wurde bereits 1848 mit der Gründung des Bundesstaats aus der Taufe gehoben: Man musste dem Bund «etwas» geben und die Kantone waren grosszügigerweise bereit, ihre kantonalen und teilweise privaten Postunternehmen zu verstaatlichen. Umgekehrt dauerte es bis 2005, bis Swissgrid, das Äquivalent der «Staatsbahn» im Elektrizitätssektor, gegründet wurde. Ich werde in der Tat auf den Vergleich zwischen SBB und Swissgrid in diesem Buch noch mehrmals zurückkommen, denn sowohl die Bahn als auch die Elektrizität sind stark vom Föderalismus geprägt.
Es wurden nun mutig Strecken gebaut, teilweise sogar zusammenhängende. Aber die verschiedenen Privatunternehmen konkurrierten bei diesem Streckenausbau und betrieben oft einen ruinösen Wettbewerb. Die Unternehmen mussten teilweise von den Städten und den Kantonen unterstützt oder sogar aufgekauft werden, sodass sich die Kantone ihrerseits verschuldeten. Andere Privatunternehmen gingen bankrott und wurden von grösseren und solventeren aufgekauft. Und so kristallisierten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts fünf grosse Bahnunternehmen heraus, nämlich die Schweizerische Centralbahn, die Schweizerische Nordostbahn, die Vereinigten Schweizerbahnen, die Jura-Simplon-Bahn und die Gotthardbahn-Gesellschaft, die 1882 den 15 Kilometer langen Gotthard-Scheiteltunnel in Betrieb nahm. Diese fünf Privatbahnen wurden zwischen 1901 und 1909 sukzessive verstaatlicht respektive in die Schweizerischen Bundesbahnen eingegliedert. Aus ihnen wurde in diesem neuen Konstrukt SBB fünf Kreisdirektionen, die dann 1923 in drei Kreisdirektionenen zusammengefasst wurden und bis 1999 Bestand hatten.
In der Tat hatte die Idee einer Staatsbahn gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Unterstützer gewonnen: Die Privatbahnen, die in diesem Investitionswettbewerb überlebten, waren generell hochverschuldet oder wurden teilweise schon vor ihrer Verstaatlichung von den Kantonen übernommen. Politiker waren ebenfalls beunruhigt, weil immer mehr ausländisches Kapital in die Unternehmen floss. Sie hatten Angst, die Kontrolle über das Schweizerische Bahnsystem zu verlieren. Vorerst wurde 1882 die Konzessionserteilung von den Kantonen an den Bund übertragen. 1898 stimmten die Schweizer Stimmberechtigten mit 386 634 Ja gegen 182 718 Nein dem «Bundesgesetz betreffend Erwerbung und Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes und die Organisation der Verwaltung der Schweizerischen Bundesbahnen» zu. Das bisher kaum regulierte Schweizer Bahnsystem wurde in eine dominante Staatsbahn überführt. Bis 1998, also während 100 Jahren, wurde so die SBB Teil der Bundesverwaltung mit eigener Rechnungslegung. Vier weitere, kleinere Bahnen wurden in den Folgejahren ebenfalls noch in die SBB integriert. Damit erreichte die SBB in den 1920er-Jahren das Streckennetz, das sie noch heute hat.
Viele sogenannte Privatbahnen – aber in Tat und Wahrheit kantonale Bahnen – bestanden aber weiter. Die Grösste unter ihnen, an ihrer Streckenlänge gemessen, war und ist immer noch die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS). Deren Nichteingliederung in die SBB bereitet bis heute Probleme, insbesondere, wie wir später sehen werden, für die Systemintegrität und die Systemführerschaft des schweizerischen Eisenbahnsystems. Sie ist auch an ihrem Verkehrsaufkommen gemessen die grösste kantonale Bahn. Der Lötschbergtunnel (und die Lötschbergstrecke), den sie 1913 in Betrieb nahm, bedeutet gleichzeitig den Beginn der BLS. Aber die BLS ist selbst ein historisch gewachsenes Patchwork von fünf kantonalen Bahnen, alle im Mehrheitsbesitz des Kantons Bern und unter der Betriebsführung der damaligen Thunerseebahn, genannt «BLS-Gruppe». Erst 2006 wurden diese verschiedenen kantonalen Unternehmen, plus die Regionalverkehr Mittelland AG, zur BLS Lötschbergbahn fusioniert. Mehrheitsaktionär ist der Kanton Bern. Eine halbbatzige Integration ins schweizerische Eisenbahnsystem fand offiziell erst im Jahr 2001 per Basisvereinbarung zwischen der SBB und der BLS statt. Darin übertrug die BLS, unter anderem, den Fernverkehr (über den Lötschberg) an die SBB und erhielt im Gegenzug den S-Bahn-Verkehr in Bern und den Regioexpress Bern–Luzern. Eine aus meiner Sicht unbefriedigende Lösung, die sich aber aus der Eisenbahngeschichte der Schweiz erklären lässt.
2.2. Zweite Etappe: 1902 – 1982 – die Frage der gemeinwirtschaftlichen Leistungen, oder: Wofür bezahlt man denn die SBB?