Julian Bruns, Kathrin Glösel
& Natascha Strobl

Die Identitären

Handbuch zur Jugendbewegung
der Neuen Rechten in Europa

 

 

 

 

 

 

 

U N R A S T

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Julian Bruns, Kathrin Glösel & Natascha Strobl

Die Identitären

3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Juli 2017

ebook UNRAST Verlag, Januar 2018

ISBN 978-3-95405-026-0

© UNRAST-Verlag, Münster

Postfach 8020, 48043 Münster - Tel. (0251) 66 62 93

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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

nach einer Vorlage von Julia Spacil

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Julian Bruns (*1982) studiert in Wien Skandinavistik und schreibt an seiner Dissertation zu ›faschistischer Literatur in Nordeuropa‹. Er war bei der Österreichischen Hochschüler_innenschaft der Universität Wien im Referat für antirassistische Arbeit tätig.

Kathrin Glösel (*1989) hat Politikwissenschaft sowie Europäische Frauen- und Geschlechtergeschichte in Wien studiert und macht historisch-politische Bildungsarbeit im ›Mauthausen Komitee Österreich‹ sowie im Verein ›Gedenkdienst‹.

Natascha Strobl (*1985) hat in Wien Politikwissenschaft und Skandinavistik studiert und mit einer Arbeit zur Neuen Rechten abgeschlossen. Sie hat sich als Sachbearbeiterin an der ÖH Uni Wien intensiv um die antifaschistische Schulungsarbeit im Verband gekümmert und betreibt den Blog Schmetterlingssammlung.

Widmung und Danksagung

Wir möchten uns bei allen Menschen bedanken, die uns während des Schreibens mit Rat und Tat zur Seite standen. Dazu gehören unsere Eltern und Großeltern, die uns immer unterstützt haben, sowie unseren Freund_innen.

Außerdem geht ein großes Dankeschön an den Unrast Verlag und all die netten Mitarbeiter_innen, speziell das Lektorat für die Möglichkeiten und die wunderbare Betreuung.

Dieses Buch ist allen Antifaschist_innen gewidmet, die sich jeden Tag auf vielen Ebenen gegen Faschismus und alle Formen von Ausgrenzung engagieren! Es ist notwendig, aber keinesfalls selbstverständlich, darum: Danke!

In Erinnerung an Wolfgang Purtscheller

Vorwort zur dritten Auflage

Die ›Neue Rechte‹ – konkret ihr studentischer Auswuchs in Wien – hat uns schon länger beschäftigt, genau genommen seit dem Sommersemester 2011. Begonnen hat es mit Plakaten und Stickern, die Aktivist_innen zunächst ohne Logo am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien verteilt haben. Ebenso haben sie ihre Publikationen an den Türen von Lehrenden, Studienassistent_innen und der Studienvertretung hinterlassen, deren linker Aktivismus bekannt war. Statt platte Parolen oder deutschtümelnde Burschenschafter-Sprüche von sich zu geben, inszenierten sie sich intellektuell, umhüllten sich mit Zitaten von Oswald Spengler und Carl Schmitt, zierten ihre Flyer mit Bildern aus bekannten dystopischen Filmen oder stilisierten sich selbst als Wanderer über ein städtisch-modernes Nebelmeer. Die dazugehörigen Personen haben wir zum ersten Mal am 15. April 2011 ›kennengelernt‹, als sie eine Filmvorführung von Fahrenheit 451 störten, die vom VSStÖ Wien (Verband Sozialistischer Student_innen in Österreich) organisiert worden war. Dieser Auftritt der Gruppe Der Funke, einer Vorgängerorganisation der Identitären, hat uns nicht nur dazu bewogen, uns als politische Aktivist_innen mit der Organisation und ihrem politischen Umfeld zu befassen, sondern auch dazu, die ›Neue Rechte‹ wissenschaftlich zu beleuchten. Entstanden ist daraus Natascha Strobls Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft, die sie Anfang 2012 fertiggestellt hat und auf deren theoretische Vorarbeit wir hier gerne und mit Dank als Autor_innenkollektiv zurückgegriffen haben. Im Herbst 2012 formierte sich eine weitere identitäre Wiener Gruppe, die im deutschsprachigen Raum zu den ersten gehörte, die diese Bezeichnung für sich beanspruchte. Erneut war das Institut für Politikwissenschaft eine Schnittstelle: Im Zuge der zweiten Antifaschistischen Aktionswoche der Studienvertretung Politikwissenschaft, in der Natascha Strobl und Kathrin Glösel aktiv waren, ließen es sich die bekannten Gesichter der Wiener Identitären nicht nehmen, bei einem Vortrag von Julian Bruns und Natascha Strobl im Mai 2013 vorbeizuschauen. Diesmal hatten sie sich Verstärkung geholt: Martin Lichtmesz (eigentlich Semlitsch)[1], der es jedoch vorzog, stumm in der ersten Reihe zu verharren und während der Abschlussrunde aus dem Raum zu schleichen.

Nach diesem Abend war uns klar, dass die Identitären nicht ignoriert werden durften, zu oft hatten sie bereits linke Räume gestört. Vieles bis dato zu den Identitären Veröffentlichte hatte nach unserer Einschätzung einiges ausgeklammert und war auf tagespolitische Zusammenhänge konzentriert. Wir haben aber gerne auf viele sehr gute Artikel zurückgegriffen und hoffen, mit diesem Buch eine ausführliche Darstellung liefern zu können.

Wir verfolgen einen ideologiekritischen Ansatz und untersuchen – basierend auf Text-, Bild- und Videomaterial der Gruppen – Standpunkte, Gesellschaftsanalysen, Schlussfolgerungen, Aktionismus und Umfeld. Wir zeichnen nach, in welche politische Logik sich ihre Thesen einordnen lassen, welcher Mittel (rhetorisch, visuell, aktionistisch, medial) sie sich bedienen und auf welche Theorien und vorhandene Literatur sich die Identitären stützen.

Knapp ein Jahr nach der zweiten Auflage dürfen wir zur dritten Auflage aktualisieren. Wir sind überwältigt von dem ungebrochenen Interesse an unserer Arbeit. Seit vielen Jahren beobachten wir kontinuierlich die Szene und freuen uns, mittlerweile viele Kolleg_innen gefunden zu haben. Als wir anfangs allein auf weiter Flur dastanden, wurden wir vielerorts für den Themenschwerpunkt belächelt. Dass wir mit unserer Arbeit einen Beitrag zur Einordnung des Phänomens leisten konnten, macht uns stolz. Auch, dass wir unsere Einschätzung in vielen verschiedenen Kontexten vorstellen durften, zeigt, dass das Interesse wächst.

In dieser Auflage haben wir die Länderkapitel aktualisiert und weitere Verlage und neurechte Medienprojekte hinzugefügt. Nach den Erfahrungen unserer Vorträge haben wir uns außerdem dazu entschlossen, die häufigsten Fragen zu Identitären in einem FAQ-Kapitel zu beantworten.

Die politische Lage hat sich im letzten Jahr weiter zugespitzt und wir sehen immer stärkere Verbindungen zwischen Parteien, außerparlamentarischen Projekten und Medien, die diese begleiten. Als Bindeglied dienen oft Jugend- und Vorfeldorganisationen von Parteien. Das zeigt, dass Parteien längst ihren reinen Fokus auf Wahlkampf und Parlamente aufgegeben haben, so sie diese Strategie je hatten, und vielmehr einen Gesellschaftsumbau als solchen betreiben wollen. Sich diesem entgegenzustellen, bleibt die vorderdringlichste Aufgabe aller Antifaschist_innen.

Dieses Buch ist allerdings mehr als eine weitere deutschsprachige Publikation zur ›Neuen Rechten‹ – es soll zu politischer Intervention anregen. Wir wollen nicht nur dabei zusehen, wie Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹, darunter Identitäre, Universitätsinstitute für sich entdecken und ihr Material an Unis, Schulen und in Betrieben verteilen und wie sie gewalttätig gegen Antifaschist_innen vorgehen. Wir wollen Identitäre nicht als Kommiliton_innen, deren Wortmeldungen in Lehrveranstaltungen unwidersprochen bleiben. Wir wollen ihnen keine selbstverständliche Bewegungsfreiheit zugestehen – weder an Unis noch anderswo. Sondern wir wollen es ihnen so unbequem wie möglich machen!

Das erreichen wir am ehesten, indem wir ihre Ideologie offenlegen, ihre Strategien entzaubern, ihre Referenzen preisgeben, ihre Nahverhältnisse, ihre persönlichen Verstrickungen und grenzüberschreitenden Netzwerke nachzeichnen. Ihre Logik zu verstehen und ihre Symbole und Sprache zu identifizieren, sind die wichtigsten Voraussetzungen für Gegenmaßnahmen und Entkräftungsstrategien. Daher hoffen wir, mit diesem Buch ein nützliches tool für Schüler_innen, Studierende, Lehrende, Interessierte und vor allem antifaschistisch gesinnte Leser_innen zur Verfügung stellen zu können.

Julian Bruns, Kathrin Glösel, Natascha Strobl

Einleitung

Die Identitären sind den deutschsprachigen Medien seit etwa Ende 2012 als solche bekannt: Sind sie junge, gut gebildete Rechtsextremist_innen, konservative Aktivist_innen, sind sie ungefährlich oder eine ernst zu nehmende Erscheinung? Kategorisierungsversuche zeichnen oft kein einheitliches Bild von jenen jungen Erwachsenen, die es zunächst durch die Besteigung eines Moscheedachs in Poitiers, eine kurzfristige Kirchenbesetzung in Wien oder mit Tanzflashmobs in Deutschland in Zeitungen und Nachrichten geschafft haben. Mediale Berichterstattung und politische Kommentare, die dahin tendieren, Links und Rechts als gleich störend, als gleich gefährlich zu bezeichnen, erleichtern es den Identitären, zu agieren. Dieser Nährboden, der antifaschistische und rechtsextreme Positionen nivelliert, macht es den Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹ und den Identitären leicht, sich mit ihrer Ideologie in beispielsweise universitären Räumen zu bewegen, an Schulen Sympathisant_innen zu gewinnen und aus bürgerlichen Familien heraus Mitglieder zu werben.

Als digital natives, also einer Generation, die internetaffin ist und sich sicher in sozialen Netzwerken, Foren von Online-Zeitungen und Video-Channels bewegt, können sie sich Öffentlichkeit schaffen, ohne auf formale Pressearbeit oder eine hohe Beteiligung an Aktionen angewiesen zu sein.

Die erklärten Ziele: eine Diskursverschiebung, in der (besonders muslimische) Immigrant_innen und Geflüchtete als Gefahr und Liberale wie Linke als Feind_innen klassifiziert werden, sowie die gleichzeitige Forcierung eines positiv besetzten Nationalismus-Begriffs (im Sinne einer ›völkisch-kulturalistischen‹ Identität). Dabei betreiben sie auf metapolitischer Ebene eine Agitation, die auch abseits tagespolitischer Ereignisse stattfindet und nicht auf formalen Zuspruch und Institutionalisierung angewiesen ist.

Offiziell distanzieren sich die Identitären von Rechtsextremismus oder rechtsextremen Parteien wie etwa im deutschsprachigen Raum von der NPD,[1] vom Nationalsozialismus, von Antisemitismus und Rassismus, um im selben Atemzug zu betonen, dass man alles andere als marxistisch und links sei. »Nicht links, nicht rechts – identitär« [2], mit Extremismus habe man nichts am Hut. Identitäre bedienen sich eines Extremismus-Begriffs, der politisch linke und rechte Handlungen, die sich jenseits einer »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« (FDGO) [3] bewegen, gleichsetzt.

»›Extrem‹ ist also, wer sich politisch fern von einer gedachten Mitte aufhält. Diese wird in der Extremismustheorie von der Mehrheitsgesellschaft repräsentiert, während extremistische Spektren nur Ideologien von Minderheiten repräsentieren.« [4]

Identitäre verhöhnen Political Correctness, deren Vertreter_innen sie als »Tugendwächter« [5] bezeichnen, die keine Meinungs- und Entscheidungsfreiheit zuließen. Dadurch wird das Spiel mit der Angst vor Freiheitseinschränkungen und die Positionierung als Minderheit, die unter einer »antidemokratische[n] linke[n] Meinungsdiktatur« [6] leidet, zum Ausgangsmoment der Mobilisierung und zum Leitmotiv ihres politischen Handelns.

Identitäre beanspruchen das Recht auf einen positiv besetzten Patriotismus. Damit soll ein Gefühl des Erstarkens einhergehen, um dem vermeintlich erlebten Zustand, »fremd im eigenen Land« zu sein, etwas entgegenzustellen. Eine solche Selbstbestärkung geschieht ungeachtet der Tatsache, dass die geltenden Herrschaftsverhältnisse jenen deutliche Privilegien zusprechen, die wie die Protagonist_innen der identitären Gruppen, weiße, männliche Staatsbürger aus meist gutbürgerlichem Hause sind. Schlüssel dieser Politik des positiven Nationalismus, des positiven Patriotismus und der gleichzeitigen Abwehr all dessen, was nicht zum ›Eigenen‹ gehört, ist die Vorstellung, dass es so etwas wie eine »ethnische Kontinuität« [7] gäbe, wie es Götz Kubitschek[8] bezeichnet. In einem Interview am zwischentag 2012 in Berlin beschreibt Kubitschek diese »Kontinuität« als »etwas, was nicht ohne Not aufgegeben werden sollte« [9]. Es ist die Parole des »ethnokulturellen Selbsterhalts« [10], der eine Politik gegen Migrant_innen, gegen Personen vermeintlich anderer Ethnien, gegen Personen, die aufgrund ihrer Religion und/oder Hautfarbe als ›anders‹ gewertet werden, aber auch gegen nicht-heterosexuelle Menschen und Personen mit abweichender politischer Haltung rechtfertigen soll.

Sozioökonomische Fragen[11] werden mit nationalen Lösungsvorschlägen beantwortet. In Zuwanderung werden Gründe für den Abbau von Demokratie und die Verschärfung sozioökonomischer Verhältnisse gesucht. Lohn- und Beschäftigungspolitiken transnationaler Konzerne, Finanztransaktionspolitiken, policy-Gestaltung von und für eine (weiße, westliche, männliche) Elite – kurzum: Kapitalismusfolgen, die der eigenen Zielgruppe genehm sind – bleiben in der vermeintlichen Antiglobalisierungspolitik der Identitären unangetastet. Herkunfts- und Migrations- sowie Asylfragen in Form von kulturrassistischen Positionen bilden damit den Schwerpunkt ihrer Agitation.

Die propagierte Umkehr von Machtverhältnissen kommt unter anderem in Slogans wie Deutsche Opfer, fremde Täter oder Begrifflichkeiten (zum Beispiel »Ethnomasochismus« [12]) zum Ausdruck, die negative Assoziationen hervorrufen sollen (zum Beispiel »Islamisierung«, »Überfremdung«, »Ausländerkriminalität«). Rassismus und die Ablehnung universaler Menschenrechte[13] werden in moderner, jugendlicher Verpackung präsentiert.

Zu erkennen geben sich Identitäre gerne, nur müssen die gar nicht subtilen Hinweise dekodiert werden: Sticker mit dem Lambda-Symbol auf Handyhüllen, Wallpapers am Laptop oder auch T-Shirts mit dem Porträt von Ernst Jünger, dem mittels Photoshop-Filter ein hippes Outfit verpasst wurde. Der Kleidungsversand Phalanx Europa[14] offeriert die nötigen Accessoires für die Modebewussten unter den rechtsextremen Aktivist_innen.

Eine erste Etappe für die noch junge ›Bewegung‹ war die Gründung des bloc identitaire (BI) im April 2003. Im selben Jahr ging zudem aus einer Hausbesetzung durch rechtsextreme Gruppen in Rom die spätere Organisation CasaPound (CP) hervor, deren Strukturen und Arbeitsweise identitären Gruppen als Vorbilder dienen. Der BI in Frankreich leistete die theoretische und aktionistische Vorarbeit für spätere Gruppen wie Une Autre Jeunesse (AJ) 2009 und der 2012 nachfolgenden Génération Identitaire (GI) sowie den deutschen, schweizerischen und österreichischen Gruppen, die sich zunächst regional organisierten. Gegen Ende 2012 und zu Jahresbeginn 2013 schlossen sie sich auf Landesebene unter Annahme einer gemeinsamen Corporate Identity zusammen, dem gelben Lambda-Symbol auf schwarzem Hintergrund.

Die bekanntesten Aktionen, die es zu diesem Zeitpunkt in Medien wie Tageszeitungen, Polit-Blogs und TV-Kurzbeiträge geschafft haben, waren Hardbass-Flashmobs und Besetzungen von Gebäuden. Die früheste dokumentierte Wiener Aktion war ein Flashmob vor dem Caritas-Gebäude im Bezirk Floridsdorf am 1. Oktober 2012, um einen afro-haitianischen Tanz für Toleranz-Workshop der Caritas mittels ihrer identitären Version, »Zertanz die Toleranz«, zu konterkarieren. [15]

Anfang Oktober 2012 veröffentlichten die französischen Identitären, bereits unter dem Gruppennamen GI, ein pathetisches YouTube-Video, ihre sogenannte »Kriegserklärung« (»Déclaration de guerre« [16]), in dem sie in ästhetisierten Aufnahmen ihre Ablehnung von Immigration und »Multikulturalität« zum Ausdruck brachten. Sie präsentierten sich als Generation, die sich in sozialer Unsicherheit wiederfinde und die zu den Verlierer_innen eines globalisierten Kapitalismus und der Auflösung sozialstaatlicher Leistungen zähle. Die Untertitel zum Video wurden in mehrere Sprachen übersetzt, neben Logoverwendung und visueller Farbgebung, war es das erste Anzeichen für die überregionale Zusammenarbeit unter einer gemeinsamen politischen Erklärung. Angeführt von Philippe Vardon folgte die Besetzung des Daches einer Moschee in Poitiers in Frankreich am 20. Oktober 2012. Die Identitären inszenierten sich – unter Bezugnahme auf Karl Martells Schlacht in Poitiers im Jahr 732 – als historisch legitimierte Abwehrkämpfer_innen gegen Muslim_innen und setzten heutige muslimische Immigrant_innen mit maurischen Soldaten gleich, vor denen man sich schützen müsse. [17] Nur wenige Tage später erregten deutsche Identitäre mit einem Hardbass-Flashmob gegen die Interkulturellen Wochen in Frankfurt am Main Aufmerksamkeit. [18]

Im Februar 2013 besetzten Wiener Identitäre für einige Stunden die Votivkirche, in der sich zu diesem Zeitpunkt Flüchtlinge anlässlich eines wochenlangen Protestes gegen die rigide österreichische Asyl- und Abschiebepolitik aufhielten. Der Subtext: wer wirklich geschützt werden müsse, seien die Österreicher_innen in Österreich, repräsentiert durch ›Sepp Unterrainer‹ (Richard Breitensteiner), einem Steirer, der als Asylwerber inszeniert wurde. [19]

Eine weitere Besetzung, diesmal jedoch nicht eines religiösen Bauwerks, sondern des Parteigebäudes der Sozialistischen Partei Frankreichs in Paris am 26. Mai 2013, fand großes mediales Echo. Das französische Parlament hatte kurz zuvor die Einführung der eingetragenen Partner_innenschaft für homosexuelle Paare beschlossen – für Identitäre eine inakzeptable politische Entscheidung.

Am 10. November 2013 führten Identitäre eine Kleinstkundgebung vor der Europäischen Agentur für Grundrechte durch:

»In bewährter Untertanen-Manier hetzten sie gegen Refugees und sorgten sich um den Untergang des Abendlandes. Dabei verzichteten sie weder auf holprige popkulturelle Anspielungen, die nicht im Sinne des Erfinders sind, noch auf Sprüche, die von den Faschisten von CasaPound (›Europa, Jugend, Reconquista‹) übernommen wurden.« [20]

Wenn Medien das Thema ›Neue Rechte‹ und Identitäre aufgreifen, erfolgt das nur in Schüben und aktionsorientiert, passend zur Kampagnenstrategie identitärer Aktivist_innen. Diesen Gefallen wollen wir den Identitären nicht tun und präsentieren daher eine möglichst umfassende Darstellung ihres Aktionsradius, ihrer Netzwerke, ihres theoretischen Grundgerüsts und ihrer Argumentationsmuster.

Über dieses Buch

Wir haben dieses Buch in drei große Teile gegliedert:

Teil eins deckt die politische Verortung und die historischen Vorläufer ab. Hier werden zunächst wichtige Begriffe erklärt, dann folgt ein Überblick über das politische Spektrum, in dem die Identitären verortet sind: die ›Neue Rechte‹. In einer kurzen Historiographie werden die Entstehungs-, Verbreitungs- und Wirkungsgeschichte der ›Neuen Rechten‹ zusammengefasst. Danach beschreiben wir das historisch-theoretische Vorbild der ›Neuen Rechten‹: die ›Konservative Revolution‹. Mit Ernst Jünger und Carl Schmitt stellen wir die zwei wichtigsten Referenzfiguren und ihre Relevanz für die ›Neue Rechte‹ genauer dar. Wir werfen einen kurzen Blick auf den historischen Faschismus und stellen unsere Definition des Begriffs vor, um anschließend der Frage nachzugehen, ob es sich bei den Identitären um ein neofaschistisches Phänomen handelt.

Der zweite Teil des Buches widmet sich den unterschiedlichen Ländergruppen der Identitären Bewegung. Vorgestellt werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede identitärer Gruppen in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Schweden, Norwegen, Tschechien, Slowenien und – mittels kurzem Exkurs – in den USA. Die Kapitel stellen aktive Personen, Parteien, Vernetzungen, Bewegungen und genutzte Infrastruktur vor. Passend dazu wollen wir anhand des deutschsprachigen Raumes aufzeigen, in welchem Umfeld sich die Identitären bewegen und welche Ressourcen und Medien sie als Steigbügel benutzen. Das Aufzeichnen dieses Netzwerkes erlaubt es nachzuvollziehen, dass die Identitären nicht aus dem Nichts gekommen und mit ihren Ideen keineswegs isoliert sind. So kommen die Protagonist_innen teilweise aus einem neonazistischen beziehungsweise offen rechtsextremen Spektrum. Sie nützen Synergien und personelle Überschneidungen zu ihrem Vorteil und sichern sich und ihren Vorstellungen eine breite Rezeption.

Im dritten Teil des Buches werden wir die Ideologie, aus der sich die Antriebskraft sowohl der Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹ und damit der Identitären speist, aufschlüsseln und zeigen, wie sich Gesellschaftsbild und -diagnose der ›Neuen Rechten‹ und der Identitären zusammensetzen. Wir analysieren die Entwicklungen der letzten Jahre, als sich die ›Neue Rechte‹ erstmals in größerer Zahl auf der Straße einfand sowie die personellen und ideologischen Verflechtungen der ›Neuen Rechten‹ mit Parteien wie der AfD und FPÖ. Danach stellen wir die tatsächliche Neuerung der ›Neuen Rechten‹ vor – ihre (rhetorischen) Strategien und hier insbesondere ihre mediale Kommunikation. Außerdem werden die gewählten Ästhetiken und Motive der visuellen Kommunikation sowie die Aktionsmuster der Identitären beleuchtet. Am Ende geben wir Antworten auf häufig gestellte Fragen zu den Identitären, ziehen ein Fazit und schlagen Strategien vor, wie man es Identitären unbequemer machen kann, ihre Agitation auszuleben und ihre Ziele zu erreichen.

Leser_innen können chronologisch vorgehen, jeder Teil ist aber auch für sich verständlich. Wer dieses Buch zur Hand genommen hat, um beispielsweise etwas über Identitäre in den verschiedenen Ländern zu erfahren, kann problemlos mit Teil zwei beginnen.

Um einen Teil des Fazits vorweg zu nehmen: Für uns steht nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema fest, dass eine bloße Brandmarkung der Identitären als ›Neonazi‹-Gruppe oder Neofaschist_innen nicht adäquat ist und damit weder die Breitenwirksamkeit noch das Attraktivitätspotenzial erkannt werden.

Material, Literatur und Vorgehensweise

Die Texte, die wir als Grundlage für die Charakterisierung der im Buch enthaltenen identitären Gruppen genutzt haben, sind sowohl Primärtexte (Homepage-Artikel und Kampagnen, Facebook-Meldungen sowie Video-Blogs und Blogartikel) als auch quellenkritische Sekundärtexte. Zusätzlich zu diesem Textmaterial haben wir ihre Demonstrationen verfolgt und Videos analysiert.

Gerade wenn es um die Identifizierung von Akteur_innen, um das Herausfiltern der personellen Verflechtungen ging, haben wir (unter genauen Quellenangaben) auf diverses Wissen, das in linken und antifaschistischen Blogs und Zeitschriften zusammengetragen worden ist, zurückgegriffen und dieses in den theoretischen Unterbau und die länder- und regionalspezifischen Beschreibungen eingeflochten. Unser Ziel war, eine möglichst übersichtliche und nachvollziehbare Gesamtdarstellung der identitären Gruppen und ihrer politischen Verortung und Ideologie zu geben. Das wäre ohne die aktivistische und manchmal detektivische Arbeit vieler anderer nicht möglich gewesen.

Des Weiteren haben wir wissenschaftliche Literatur zum Rechtsextremismusbegriff, zur Geschichte, zur Ideologie, zu Feind_innenbildern und zu Strategien der ›Neuen Rechten‹, zu Analysen neurechter Medien sowie Literatur zu den Vertretern[21] der ›Konservativen Revolution‹ herangezogen, um die Identitären korrekt einordnen zu können. Außerdem waren Fachzeitschriften wie das Antifaschistische Infoblatt oder Lotta von immenser Wichtigkeit, da sie ebenso aktuelle wie präzise Darstellungen und Analysen der Identitären sowie ihres ›neurechten‹ Umfelds publizieren.

Trotz des Buchtitels, der einen Überblick über die Identitären in ganz Europa andeutet, haben wir uns in der Analyse auf einen ausgewählten Raum konzentriert. Es waren zum einen die Sprachkenntnisse und Übersetzungskünste der Autor_innen, die eine Beschränkung auf bestimmte Länder notwendig machte. Zum anderen ist es eine Frage des Zugriffs auf verlässliche Quellen und Expert_innen, die für uns im deutschsprachigen Raum einfacher ist.

Der Buchtext ist bei Personennennungen durchgehend mit Unterstrich (_) verfasst. Wir verwenden ihn zur Verdeutlichung der Pluralität von Personen(gruppen) in Bezug auf geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, auch wenn wir von ›neurechten‹ und identitären Aktivist_innen sprechen. In einigen Kapiteln und Nennungen von Personen und Gruppen wurde bewusst nur die männliche Schreibweise verwendet, beispielsweise wenn es um die Akteure der ›Konservativen Revolution‹ geht, da es hier in erster Linie Männer sind, die rezipiert wurden und werden. Hier würde der Gender-Gap Geschlechter- und infolgedessen Machtverhältnisse nicht korrekt abbilden. Des Weiteren sind Kategorien wie beispielsweise die ›Neue Rechte‹ für ein politisches Spektrum oder die ›Konservative Revolution‹, solange sie nicht definiert wurden, eigens im Schriftbild hervorgehoben. Nach den Definitionen sind sie im Schriftbild nicht mehr hervorgehoben.

Wir verwenden in diesem Buch wiederholt den Begriff ›Diskurs‹, der vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften gebraucht wird, wenn es beispielsweise um Textanalysen geht. Wir folgen dabei der Definition, wie sie von Michel Foucault)[22] vorgeschlagen wurde: Frei zusammengefasst ist ein Diskurs das, was – zu einem bestimmten Thema – zu einer bestimmten Zeit sag-, schreib- und darstellbar ist, was als akzeptabel und/oder als Wahrheit und Wirklichkeit aufgefasst wird. Das bedeutet, ein Diskurs ist eine themen- und oft auch orts-, zeit- und personenspezifische Wiedergabe des Denkens. Diskurse spiegeln wider, was als Norm und damit als akzeptabel gewertet wird. Daraus lässt sich ableiten, warum beispielsweise welche Gesetze entstehen, warum soziale Bewegungen zu einem Thema Forderungen entwickeln und warum diese in der Folge von der Gesellschaft angenommen oder abgelehnt werden. In wissenschaftlichen Analysen ist meist interessant, wer einen Diskurs prägt, was dazu publiziert wurde, welche Institutionen ihn stützen oder bekämpfen. Für das Lesen dieses Buches reicht es aber, diese Kurzbeschreibung nur grob im Hinterkopf zu haben, damit verständlich ist, was wir mit diesem Begriff meinen.

So unterschiedlich die Ländergruppen der Identitären aufgestellt sind, so verzweigt auch das Umfeld der Neuen Rechten ist, so ist ihnen allen dennoch gemein, dass sie ihre Politik auf denselben ideologischen Säulen aufbauen. Sie sind durch gemeinsame Feind_innenbilder, Begriffe, Menschenbilder, Staatsvorstellungen und Strategien vereint, mit denen sie sich breitestmöglichen Zuspruch erhoffen. Die ideologischen Säulen und Strategien – in sprachlicher und visueller Form – sind Gegenstand dieses Kapitels.

Inhalt

Widmung und Danksagung

Vorwort zur dritten Auflage

Einleitung

Über dieses Buch

Material, Literatur und Vorgehensweise

Teil 1
Politische Verortung der Identitären
und ihre historischen Vorbilder

Begriffsdefinitionen in diesem Buch

Begriffsklärung ›Rechtsextremismus‹

Begriffsklärung ›Neue Rechte‹

Entwicklung der Neuen Rechten

Die ›Konservative Revolution‹ als Vorbild

Begriffsklärung und -definition

Akteure der ›Konservativen Revolution‹

Soziokulturelle Gemeinsamkeiten und Erster Weltkrieg

Gemeinsame Analyse

Ideologie

Die ›Konservative Revolution‹ und Nationalsozialismus

Die ›Konservative Revolution‹ in Europa

Was ist Faschismus?

Teil 2
Die Identitäre Bewegung in Europa
und ihr Umfeld

Charakteristika und Länderüberblick

Bewegung ohne Vision? – Allgemeines zu den identitären Gruppen

Frankreich

Deutschland

Der Funke

Österreich

Schweiz

Italien

Schweden

Norwegen

Dänemark

Tschechien

Slowenien

Ein Blick in die Ferne - die USA

Politisches und publizistisches Umfeld

Verlage, Blogs und Zeitschriften

Politische Netzwerke

Think Tanks

Neurechte Zentren

Teil 3
Ideologie und Strategien der Neuen Rechten
und der Identitären

Ideologisches Fundament der Neuen Rechten und der Identitären

Nation, Staat, Gesellschaft

Geschlechter- und Rollenbilder

Menschenbild

Ethnopluralismus und Kulturbegriff

Antimuslimischer Rassismus

(Sekundärer) Antisemitismus

Europa-Ansichten

Vom Neurechten ›Antikapitalismus‹ bis zum radikalen Wirtschafsliberalismus

Anti-Liberalismus, Anti-Marxismus und Anti-Antifaschismus

Strategien

Das Ziel: Die Kulturrevolution von rechts

Rhetorische Mittel

Visuelle Kommunikation

Aktionsmuster der Identitären

Fazit

Die Identitären als Jugendbewegung der Neuen Rechten

Handlungsräume und Gegenstrategien

Häufig gestellte Fragen

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Bibliographie

Anmerkungen

 

 

 

 


Teil 1
Politische Verortung der Identitären
und ihre historischen Vorbilder


Begriffsdefinitionen in diesem Buch

Begriffsklärung ›Rechtsextremismus‹

Bevor die ›Neue Rechte‹ behandelt wird, soll hier noch der Begriff des ›Rechtsextremismus‹ geklärt werden.[1] Vor allem in Deutschland wurde in den letzten Jahren die Gleichsetzung von ›Links- und Rechtsextremismus‹ staatlicherseits öffentlich diskutiert, wie die Debatte um die mittlerweile zurückgenommene ›Extremismusklausel‹ der damaligen Bundesministerin Kristina Schröder zeigt.[2] Auch im akademischen Diskurs fand und findet die Theorie Anklang, die von einer ›nicht-extremistischen Mitte‹ ausgeht (mit der implizit normativen Wertung ›gut‹) und zwei (oder drei, wie die Debatte um einen ausschließlich islamistisch geprägten religiösen Extremismus zeigt) gleich ›extremistischen‹ Rändern links und rechts davon (die normativ gleich ›schlecht‹ bewertet werden). So fordern etwa die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse als Anhänger der ›Extremismustheorie‹, dass der Staat eine »Äquidistanz« zu Links- und Rechtsextremismus halten soll.[3] Sowohl der deutsche als auch der österreichische Verfassungsschutz vertreten diese These. Per Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1952 gilt als ›extremistisch‹, wer gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt. Auf dieser Grundlage wurden im selben Jahr die Sozialistische Reichspartei als rechtsextrem sowie 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als ›linksextrem‹ kategorisiert und aufgelöst. Seitdem wurden keine Parteien mehr als verfassungsfeindlich verboten.[4]

Wolfgang Gessenharter konstatiert, dass der juristische Extremismusbegriff unflexibel ist und sich nicht an politische Diskurse anpassen kann.[5] Der Begriff geht von starren, klar bestimmbaren Grenzen aus, die Gruppierungen als verfassungsfeindlich kennzeichnen oder eben nicht. Dabei geht die Extremismustheorie von einem ideologiefreien Staat aus, der sich von den ideologischen Extremen fernhalten soll. ›Links‹ und ›Rechts‹ werden in einem »ununterscheidbaren Brei« zusammen verhandelt und formale Unterscheidungen zur Mitte aufgestellt, die, wie Mark Terkessidis richtig bemerkt, völlig leere Kategorien bilden.[6] Ideologische Unterschiede und Grundannahmen sowie deren Auswirkungen und die Bedrohung für das Leben von Menschen werden dabei nicht in Betracht gezogen. Seit den 1990er Jahren vertritt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer die These, dass sich rechtsextreme Einstellungen auch in der Mitte der Gesellschaft finden lassen. Diese untersuchte Heitmeyer in der zehnjährigen Studie Deutsche Zustände.[7] Andere Langzeitstudien wie die von Decker, Kiess und Brähler an der Universität Leipzig[8] oder die Untersuchung Fragile Mitte – Feindselige Zustände von Zick und Klein[9] bestätigen Heitmeyers These mit Zahlen, was wiederum die Extremismustheorie in Frage stellt.

Der Hauptunterschied zwischen Links und Rechts besteht im Menschenbild. Während rechte Ideologie von einer angeborenen Ungleichheit ausgeht (im biologischen und kulturalistischen Sinne, was identisch verhandelt wird), besteht die Linke auf einer grundsätzlichen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig ihrer Geburtsumstände.[10] Die Extremismustheorie unterscheidet nicht, ob sich Gruppierungen gegen die aktuelle, bürgerliche Demokratie wenden, weil sie Demokratie per se ablehnen (wie die ›Rechtsextremen‹) oder weil sie ihnen nicht demokratisch genug ist und mehr Demokratie verlangt wird (wie dies vermeintlich ›Linksextreme‹ tun). Die Extremismustheorie dient also lediglich der eigenen Selbstversicherung sowie der Nivellierung und Banalisierung rechtsextremer Ideologie seit 1945. Analog dazu wurde auch mittels der ›Totalitarismustheorie‹ im ›Historikerstreit‹ der 1980er versucht, den Nationalsozialismus zu historisieren beziehungsweise zu nivellieren.

Arbeitsdefinition ›Rechtsextremismus‹

Wir haben uns trotz der Kritik am Begriff ›Rechtsextremismus‹ für dessen Verwendung und Nutzung für die Beschreibung der ›Neuen Rechten‹ und der Identitären entschieden. Dafür spricht zum einen die Verankerung in der Alltagssprache. Wir sind überzeugt, dass die Schaffung eines neuen Klassifikationsbegriffs für dieses Buch und seine erklärenden Absichten in Bezug auf das Phänomen Identitäre Bewegung nicht sinnvoll ist. Begriffs- und Theoriearbeit gehen Hand in Hand und es gibt eigene Literatur zur Debatte. Zum anderen verwenden wir den Begriff ›rechtsextrem‹ nicht im Sinne einer extremismustheoretischen Definition, die mit Vorstellungen konstanter und klar ausmachbarer Grenzen im gedachten politischen (Parteien-)Spektrum einhergeht. Wir verwenden ›Rechtsextremismus‹ als Begriff für eine Ideologie, in deren Zentrum die homogene ›Volksgemeinschaft‹ als Konzept steht.[11] Neben dem ›Volk‹ als Bezugsgröße zeichnet sich ›Rechtsextremismus‹ unter anderem durch die Ausgrenzung von als ›fremd‹ kategorisierten Personen, Antimarxismus, Antiliberalismus, Antipluralismus sowie die Ablehnung der Demokratie als Organisationsform menschlichen Zusammenlebens mit formal egalitären Partizipationsmöglichkeiten aus.[12] Für eine eingehendere Definition nach inhaltlichen Unterscheidungspunkten ist die Darstellung von Willibald Holzer hilfreich.[13] Nationalsozialismus und Faschismus beziehungsweise Neonazismus und Neofaschismus sind Teile dieser Weltauffassung, es gibt aber auch ›rechtsextreme‹ Ideologien fernab dieser beiden, die untereinander Anknüpfungspunkte und Überschneidungen haben. Ideologien sind nicht etwas Festes, klar Abgrenzbares, das zu aller Zeit und unter allen Gegebenheiten exakt gleich bleibt. Im Laufe eines Lebens kann sich die Ideologie von Personen dramatisch oder auch nur in Details ändern, genauso wie eine Person unter verschiedenen Bedingungen nur Teile einer Ideologie preisgibt und andere verschweigt. Auch erneuert sich Ideologie aufgrund von äußeren Bedingungen und Ereignissen, zu denen Stellung bezogen werden muss. Rechtsextremismus ist also nicht so starr, wie der Verfassungsschutz vorgibt. Dementsprechend sind auch politische Spektren keine hermetisch abgeriegelten Festungen, sondern liquide Netzwerke von Personen, Organisationen, Medien und aktivistischen Gruppen ohne institutionelle Verortung. Die ›Neue Rechte‹ kann nur unter dieser Prämisse verstanden werden.

Begriffsklärung ›Neue Rechte‹

Die Frage, wer mit dem Begriff ›Neue Rechte‹ gemeint ist, wird unterschiedlich beantwortet. Iris Weber teilt Ende der 1990er Jahre die ›Neue Rechte‹ in drei Gruppen ein: die französische Nouvelle Droite, die nationalrevolutionäre Strömung und die jungkonservative Strömung. Alle drei beziehen sich auf verschiedene Aspekte und Strömungen der ›Konservativen Revolution‹, die sich durchaus überschneiden können.[14] Alice Brauner-Orthen hingegen schlägt vor, für die ›Neue Rechte‹ nach 1989 den Begriff ›Neue Neue Rechte‹ zu verwenden, da diese kaum noch etwas mit den Gruppierungen in den 1960er Jahren zu tun hätten.[15] Uwe Worm macht keine zeitliche Abgrenzung, sondern eine ideologische und bezeichnet die ›Neue Rechte‹ als »Denkgemeinschaft«[16] und »Ideologiefraktion im Rechtsextremismus«.[17] Er sieht sie als geistigen Pool, aus dem auch Konservative schöpfen.[18] Christoph Butterwegge sieht kaum eine Rechtfertigung für die Bezeichnung ›Neue Rechte‹, schlägt aber vor, diese anhand ihrer Wirtschaftsideologie von der ›Alten Rechten‹ zu differenzieren. Er bescheinigt der ›Neuen Rechten‹ eine radikal neoliberale und standortnationalistische Einstellung.[19] Dieter Plehwe und Bernhard Walpen zählen dementsprechend auch die Mont Pélerin Society[20] zum Umfeld der ›Neuen Rechten‹.[21] Markus Perner et al. bescheinigen wiederum den Burschenschaften, eine wichtige Rolle in der Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu spielen und damit der ›Neuen Rechten‹ sehr nahe zu stehen.[22] Butterwegge betont, dass sich die ›Neue Rechte‹ nicht als Organisationsgeflecht definieren lässt, sondern als einheitliche Ideologie.[23] Damit wäre eine beliebige Aufzählung von Akteur_innen sinnlos.

Diese verschiedenen Zuschreibungen lassen den Begriff schwammig und konfus werden. Daher wird die ›Neue Rechte‹ von uns im Folgenden vor allem politisch definiert. Sie ist, wie von Michael Minkenberg vorgeschlagen, »eine Gruppe von Meinungsführern beziehungsweise Bewegungsunternehmern [, die] in einem rechten Gegendiskurs von den ›Ideen von 1968‹ [stehen].«[24] Das ist aber nicht ihr einziger Bezugspunkt. Armin Pfahl-Traughber empfiehlt eine enge Definition der ›Neuen Rechten‹ als eine rechtsextremistische Ideologievariante der heutigen Anhänger_innen der ›Konservativen Revolution‹. Publikationen und Gruppen, die nur teilweise darunter fallen, werden nicht im engeren Sinn zu den ›Neuen Rechten‹ gezählt.[25] Die Eigenbezeichnung ›konservativ‹ grenzt sich in Anlehnung an eben diese ›Konservative Revolution‹ von einem reaktionären, bewahrenden und rückwärtsgewandten Konservatismus ab.[26] Für Alice Brauner-Orthen ist die Definition über die ›Konservative Revolution‹ zu wenig, da es ihrer Meinung nach zahlreiche ›Neue Rechte‹ gibt, die sich eben nicht aktiv auf die ›Konservative Revolution‹ beziehen.[27] Wir verstehen die ›Neue Rechte‹ als Zusammenfassung all jener Gruppen und Personen, die einen rechten Gegendiskurs zu 1968 bilden und sich positiv auf die Ideen und/oder Personen der ›Konservativen Revolution‹ beziehen.

Rainer Benthin definiert drei Dimensionen und Analyseebenen der ›Neuen Rechten‹: die ›historische‹ als Abgrenzung zur ›Alten Rechten‹, die ›ideengeschichtliche in Rückbezug auf die ›Konservative Revolution‹ und die ›organisatorische als Bündelung gemeinsamer strategischer Handlungen und Zielvorstellungen.[28] Die ›Neue Rechte‹ bezieht sich also historisch nicht mehr auf den Nationalsozialismus, sondern auf die Ideen der ›Konservativen Revolution‹ und findet andere Organisationsformen als Parteien. Auch Minkenberg sieht sowohl im ideologischen als auch im organisatorischen Bereich Neuerungen, die es rechtfertigen, von einer ›Neuen‹ Rechten zu sprechen.[29] Im Gegensatz zur Herausbildung eines komplett neuen Spektrums definiert Margret Feit die ›Neue Rechte‹ als Erneuerungsbewegung des alten Rechtsextremismus mit Rückgriff auf die ›Konservative Revolution‹, die nicht so belastet zu sein scheint wie der Nationalsozialismus. Getragen wird diese Erneuerungsbewegung von Gruppen, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er von der ›Alten Rechten‹ abgebrochen sind.[30] Die ›Neue Rechte‹ distanziert sich zwar großmütig von Hitler, aber nicht von rechtsextremen und faschistischen Ideologien als solchen. Damit zeigt sich, dass sie diesem Spektrum angehört und eine Erneuerung statt einer Abgrenzung darstellt.[31] Im Gegensatz dazu beurteilt Johannes Jäger das Neue an der ›Neuen Rechten‹ eher als Tarnung denn als Modernisierungsprozess.[32] Jesse bezweifelt die Existenz einer ›Neuen Rechten‹ überhaupt. Er sieht den Diskurs als Zeichen einer vermeintlichen Linksverschiebung und die größere Gefahr bei »Linksextremisten«.[33]

Die ›Neue Rechte‹ als einseitigen Modernisierungsprozess des rechtsextremen Lagers zu verstehen, der bloß ins Konservative wirken will, würde das konservative Spektrum zu passiven Objekten rechtsextremer Avancen machen. Es ist aber wichtig, den Charakter der Grauzone ›Neue Rechte‹ zu erfassen. Daher schlägt Benthin vor, die ›Neue Rechte‹ nicht als starren Zustand, sondern als Prozess der Radikalisierung des konservativen Spektrums einerseits und der Modernisierung des rechtsextremen Spektrums andererseits zu begreifen.[34] Der Anteil, den die Konservativen an der ›Neuen Rechten‹ haben, wird in der Literatur allenfalls am Rand behandelt. Die meisten Wissenschaftler_innen konzentrieren sich auf den rechtsextremen Charakter der ›Neuen Rechten‹. Damit leisten sie aber der Positionierung des Verfassungsschutzes Vorschub. Denn dieser muss die Extremismustheorie anwenden und konzentriert sich in seiner Beobachtung nur auf Akteur_innen, die dem gedachten rechtsextremen Rand angehören. Konservative Protagonist_innen, die dieselben Ideologeme mittragen, bleiben dagegen unbeobachtet. Die ›Neue Rechte‹ besteht also sowohl aus radikalisiertem, wertkonservativem Bürgertum als auch aus modernem Rechtsextremismus.

Die wissenschaftlichen Definitionen insgesamt sind ebenso vielfältig wie unklar. In den 1970ern wurde der Begriff für aktuelle Entwicklungen in der Rechten gebraucht, in den 1980ern wurde ›Neue Rechte‹ in Abgrenzung zu Nationalsozialismus und ›Konservativer Revolution‹ benutzt. Gleichzeitig wurden auch Die Republikaner als ›Neue Rechte‹ bezeichnet. Aktuellere Definitionen versuchen, die ›Neue Rechte‹ vor allem politisch zu verorten. Suzanne Mantino spricht von einer »Grauzone« zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus, Helmut Fröchling bezeichnet sie als »Brückenspektrum«, während Wolfgang Gessenharter sie weder zur Gänze im Konservativismus noch im Rechtsextremismus verankert sieht und deswegen von einem »Scharnier« zwischen Rechtsextremismus und Konservativismus spricht. Die ›Neue Rechte‹ sei daher ein eigenes Spektrum mit guten Verbindungen in beide Richtungen.[35] Der Verfassungsschützer Armin Pfahl-Traughber lehnt diese Definitionen ab und sieht die ›Neue Rechte‹ vollständig im Rechtsextremismus verankert.[36] Das ist auch die Sichtweise des Verfassungsschutzes. Würde er sie, wenn auch nur zum Teil, außerhalb des Rechtsextremismus verorten, könnte er sie nicht beobachten. Auch Thomas Pfeiffer vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen definiert die ›Neue Rechte‹ als eine intellektuelle Strömung innerhalb des Rechtsextremismus, die sich auf die ›Konservative Revolution‹ bezieht und Kontakte in bürgerliche Kreise sucht.[37] Der Verfassungsschutz brüstet sich damit, sehr genau zwischen Gruppen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen und jenen, die sie ablehnen, zu unterscheiden. Eine Grauzone kann es in dieser Logik nicht geben.

Hier zeigt sich erneut die Problematik starrer Konstrukte, die davon ausgehen, dass ideologische Spektren klar von einander abzugrenzen wären. Helmut Fröchling kritisiert, dass der Verfassungsschutz quasi wie auf einer Nominalskala den Grad der Verfassungsfeindlichkeit von Akteur_innen misst. Das ist vor allem bei der Bewertung der ›Neuen Rechten‹ unzulässig und unflexibel, da es die Zwischenspektren und Grauzonen völlig außer Acht ließe.[38] Benthin legt diesen Disput zwischen der ›großen‹ und der ›kleinen‹ Definition der ›Neuen Rechten‹ anschaulich dar.[39] Bei dieser Frage gehe es nicht bloß um ein kleines Detail, sondern darum, inwieweit das bürgerliche Spektrum oder Teile davon offen mit Rechtsextremen zusammenarbeiteten. Ines Aftenberger argumentiert, dass Konservatismus und Faschismus generell in Krisenzeiten ununterscheidbare Positionen und Interessen entwickelten.[40] Dementsprechend handele es sich bei der ›Neuen Rechten‹ nicht nur um die bloße, taktische Zusammenarbeit einiger Bürgerlicher mit einigen Rechtsextremen, sondern um ein eigenes Spektrum, das sich zwischen radikalisiertem Konservatismus und intellektualisiertem Rechtsextremismus verdichtet. Gabriele Kämper benennt sie dementsprechend als ›Neue intellektuelle Rechte‹, weil diese Bezeichnung die Intention besser verdeutliche.[41]

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die ›Neue Rechte‹ nicht einfach ein Anhängsel des rechtsextremen oder stark wertkonservativen Spektrums ist, sondern ein eigenes Selbstverständnis mit eigenen Merkmalen hat, das sie von den anderen beiden unterscheidet.

Arbeitsdefinition ›Neue Rechte‹

Wenn wir von den ›Neuen Rechten‹ sprechen, meinen wir eine nicht klar zu umreißende Anzahl an Personen, Medien und Gruppen, die sich im Gegendiskurs zu 1968 verstehen und ihr ideologisches Vorbild in der ›Konservativen Revolution‹ finden. Sie wenden sich gegen Marxismus und politischen Liberalismus und vertreten eine klare Ideologie der Ungleichheit. Ihr Ziel ist, die politische Hegemonie durch Beeinflussung kultureller Eliten zu erreichen, zu denen sie sich selbst zählen. Sie konzentrieren sich dementsprechend auf Metapolitik und nicht auf Tagespolitik oder Parteienlogik. Die ›Neue Rechte‹ ist ein Mischspektrum, das Rechtsextremismus und stark wertkonservatives Gedankengut vereint. Dieses Spektrum kann mit der Methodik des Verfassungsschutzes und der Extremismustheorie nicht erfasst werden. Die Bürgerlichen werden nicht bloß passiv agitiert, sondern teilen den radikal antiegalitären Demokratie-Begriff des Rechtsextremismus. Das bedeutet, nur wer zur ›Volksgemeinschaft‹ zählt, darf politisch mitbestimmen. Die ›Neuen Rechten‹ verstehen sich analog zur ›Konservativen Revolution‹ als nicht-reaktionäre, system-überwindende Konservative. Damit grenzen sie sich von der ›Alten Rechten‹ sowie reaktionärem und liberalem Bürgertum ab.

Entwicklung der Neuen Rechten[1]

Die Neue Rechte oder ›Nouvelle Droite‹ hat ihre Wurzeln in Frankreich. 1968 wurde GRECE (Groupment de recherche et d’études pour la civilisation européenne) gegründet. Gründungsmitglied und »Chefideologe«[2] ist Alain de Benoist. In Frankreich wird die Nouvelle Droite fast ausschließlich auf GRECE und Alain de Benoist bezogen.[3] Neben GRECE entwickelte sich der Club de l’Horloge (dt.: der Uhrenclub) zur Ideenfabrik der Neuen Rechten in Frankreich,[4] mit einer radikal neoliberalen Wirtschaftsideologie.[5]GRECE[6]GRECEGRECE[7]GRECE[8]Front National[9]FN[10]