Sergej Lukianenko
Roman
Aus dem Russischen
von Christiane Pöhlmann
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der russischen Originalausgabe:
Шестой Дозор
In »Die letzten Wächter« werden Auszüge aus Songs und Gedichten von K. D. Balmont, Oleg Medwedew, Sergej Michailkow, Piknik und Akwarium verwendet.
Deutsche Erstausgabe 4/2015
Redaktion: Hana Hadas
Copyright © 2014 by Sergej Lukianenko
Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe und Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-10215-9
V002
www.heyne.de
Der vorliegende Text muss von den
Kräften des Lichts gelesen werden.
Die Nachtwache
Der vorliegende Text muss von den
Kräften des Dunkels gelesen werden.
Die Tagwache
Erste Geschichte
Zwangshandlungen
Prolog
Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.
In fünfzehn Jahren kommt ein Mensch zur Welt, lernt laufen, sprechen und das Benutzen eines Computers, danach lesen und zählen sowie die Benutzung eines Klos, und erst im Anschluss daran lernt er, sich zu prügeln und sich zu verlieben. Das Pünktchen aufs i setzt er manchmal, indem er neue Menschen zur Welt bringt oder bereits vorhandene aus ebendieser hinausbefördert.
In fünfzehn Jahren durchwandern Mörder in Gefängnissen für Schwerverbrecher alle Kreise der Hölle – nur um schließlich in die Freiheit entlassen zu werden. Mitunter ohne einen einzigen Hauch von Dunkel in der Seele. Mitunter ohne einen einzigen Hauch von Licht darin.
In fünfzehn Jahren ändert jeder Mensch, mag er auch noch so ein Gewohnheitstier sein, sein Leben mehrmals von Grund auf. Er verlässt seine alte Familie und legt sich eine neue zu, wechselt zwei-, drei- oder auch viermal den Beruf, macht Geld und wird zum Bettler. Er besucht den Kongo, wo er Diamanten schmuggelt, oder zieht sich in ein gottverlassenes Dorf im Gebiet von Pskow zurück und züchtet Ziegen. Er verfällt dem Suff, schließt ein zweites Studium ab, tritt zum Buddhismus über, lässt sich auf Drogen ein, lernt, ein Flugzeug zu steuern, oder fährt nach Kiew zum Maidan, bekommt dort mit einem Schlagstock eins über den Schädel gezogen und geht daraufhin in ein Kloster.
In fünfzehn Jahren kann also eine ganze Menge passieren.
Sofern du ein Mensch bist.
Solltest du allerdings ein fünfzehnjähriges Mädchen sein, dann weißt du mit absoluter Sicherheit, dass dein eigenes Leben stinklangweilig ist.
Dass es in ihm fast nichts gibt, was sich zu erzählen lohnt.
Olja Jalowa beispielsweise wüsste, würde sie sich einmal alles von der Seele reden (wie sie es noch vor fünf Jahren mit ihrer Mutter und vor drei mit ihrer Oma getan hatte, heute jedoch nur noch mit sich selbst tat), höchstens drei Dinge zu erzählen.
Erstens: wie sehr sie ihren Namen hasste!
Olja Jalowa.
Darauf musste man erst mal kommen!
In ihrer Kindheit wurde sie von allen immer nur Olja-Ajlo gerufen, nach den beiden Mädchen aus dem Königreich der Zauberspiegel. Das wäre ja noch ganz okay gewesen, schließlich war dieser uralte Kinderfilm – jedenfalls nach Ansicht der siebenjährigen Olja – gar nicht mal so schlecht, außerdem glich sie den beiden Zwillingen tatsächlich ein wenig. Olja-Ajlo? Warum also nicht, es gibt Schlimmeres.
In der vierten Klasse hatte aber irgendeiner ihrer Mitschüler – pah, von wegen irgendeiner, das war niemand Geringeres als der blonde Sokolow, der so gut aussah, immer alles wusste, reiche Eltern hatte und den alle anhimmelten – beschlossen, im Internet die Bedeutung der Nachnamen von ihnen allen zu googeln …
Da hatte sie erfahren, dass Jalowa »Kuh ohne Kalb« bedeutet. Unfruchtbare Kuh. Diese »unfruchtbare Kuh« war von der vierten bis zur sechsten Klasse an ihr hängen geblieben. Manchmal nur als »Kuh«, manchmal als »U. K.«. Daraufhin hatte sie sich in ihrem Zimmer vergraben, geschmollt und geheult, Bücher ebenso verschlungen wie Kekse, bis sie am Ende tatsächlich die Figur einer Kuh gehabt hatte …
Das Zweite, was im Leben von Olja Jalowa – oder von, wie sie sich selbst heimlich nannte, Olja-Ajlo – wichtig war, das war Hockey. Also richtiges, Eishockey, mit Puck. Für Frauen. Oder Mädchen. Sie hatte rein zufällig damit angefangen, als sie einmal von diesem Ekelpaket Sokolow geträumt hatte, wobei sie aus irgendeinem Grund splitterfasernackt vor ihm stand. Und dann hatte dieser Sokolow, der mit dreizehn bereits richtig groß war und einfach umwerfend aussah, das Gesicht verzogen, sich die Augen zugehalten und gezischt: »Kuh …«
Vielleicht hatte dann die Zeit ihr Werk verrichtet, vielleicht war das Eishockey aber auch genau das gewesen, was Olja brauchte, denn binnen sechs Monaten schmolz das gesamte überflüssige Fett, und bereits nach einem Jahr, also mit vierzehn, war sie der Star der russischen Juniorinnen.
Und mit einem Mal zeigte sich, dass unter den Pausbacken und den dicken Schenkeln eine hochgewachsene – mit fünfzehn war Olja die Größte in ihrer Klasse – junge Dame steckte, was ihr Trainer nur mürrisch mit den Worten kommentierte: »Aber zu den Baseballern lasse ich dich nicht.« Außerdem war sie ziemlich kräftig. Es hatte da mal einen albernen Streit gegeben, überhaupt nichts Ernstes, bei dem sie versehentlich zwei Klassenkameraden verletzt hatte. Nachdem die beiden auf dem Boden gelandet waren, starrten sie sich erschrocken an und trauten sich nicht aufzustehen. Wenn Olja also heute aus der Dusche kam und sich im Spiegel betrachtete, dann lächelte sie zufrieden, wusste sie doch, dass kein noch so dämlicher Junge – und Namen wollte sie in diesem Zusammenhang schon gar nicht nennen – bei ihrem Anblick noch einmal das Gesicht verziehen würde.
Das dritte bedeutende Ereignis in Oljas Leben sollte heute Nacht stattfinden. Sie schob die Hände in die Taschen, denn es war kalt, Handschuhe wollte sie jedoch keine anziehen. Nachdem sie am Olympiastadion mit den noch unfertigen Minaretten der zentralen Moschee dahinter vorbeigelaufen war, kam sie zu einer kleinen orthodoxen Kirche. Obwohl es noch früh am Abend war und überall Laternen brannten, gab es nur wenig Leute in den Straßen. Moskau kannte eben keinen richtigen Winter mehr: Bei lediglich fünfzehn Grad minus eilten bereits alle nach Hause oder kauerten in Autos.
Jetzt musste Olja bloß noch eine schmale Gasse hinunterlaufen und anschließend die Straßenunterführung durchqueren, damit sie zur anderen Seite des Prospekts Mira gelangte. Dort wiederum war ihr Ziel eine Querstraße, durch welche die Straßenbahn ratterte und in der ein Hochhaus mit massivem Stylobat stand. Die drei Jahre, die Olja als Leseratte verbracht hatte, waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, sondern hatten in ihrem Kopf Unmengen von Wörtern und Wissensbrocken hinterlassen. In besagtem Haus also lebte das Ekelpaket Sokolow. Der verdammt gut aussehende Sokolow. Ihr – und nur ihr! – Oljeshka Sokolow.
Seit einem halben Jahr gingen sie nun miteinander, was aber niemand wusste. Weder in der Schule noch beim Sport. Nicht einmal ihre Mutter oder Oma ahnten es.
Dafür galten Olja Jalowa und Oleg Sokolow zu lange als einander spinnefeind.
Aber jetzt … jetzt würde sich das ändern. Morgen würden es alle erfahren. Denn da würden sie beide, Olja und Oleg, zusammen zur Schule gehen.
Weil sie heute bei ihm übernachten würde. Olegs Eltern waren verreist, und ihre Oma und Mutter glaubten, sie würde nach dem Training zu einer Freundin gehen und dort übernachten.
Aber sie würde bei Oleg sein.
Sie hatten über alles gesprochen. Bisher hatten sie sich bloß geküsst, denn das eine Mal im Kino, als sie in der letzten Reihe saßen und Oleg mit seinen Händen plötzlich überall gewesen war, das zählte ja wohl nicht.
Nein, heute Nacht wollten sie Ernst machen. Schließlich waren sie beide schon fünfzehn, da war es doch direkt peinlich, dass sie noch nie Sex gehabt hatten! Wenn die andern das wüssten, würden sie sich kaputtlachen. Gut, die Mädchen aus ihrem Team hatten vielleicht auch noch keinen Sex gehabt, denen fehlte schlicht und ergreifend die Energie dazu, denn sie mussten neben dem Training ja auch noch viel für die Schule machen … Aber wer, bitte schön, hätte sonst mit fünfzehn sein erstes Mal noch nicht erlebt, egal ob nun Junge oder Mädchen?
In dem Alter hatten doch bereits alle Sex gehabt, so stand es im Internet, und die drei Jahre als Leseratte hatten Olja eben nicht nur jede Menge überflüssigen Wissens beschert, sondern auch einen völlig ungerechtfertigten Glauben ans gedruckte Wort.
Irgendwo tief in ihrem Herzen – das ihr allerdings wohl gerade in die Hose gerutscht war – empfand Olja eine leichte, kalte Angst. Und sogar Zweifel.
Sie mochte Oljeshka. Und ihn zu küssen war klasse. Wenn er sie umarmte, wollte sie mehr. Wie das sein würde, wusste sie auch ganz genau. Eben aus dem Internet …
Kurz und gut, eigentlich wollte Olja es.
Sie wusste bloß eins nicht: Wollte sie es jetzt oder später? Mit Oleg oder nicht?
Allerdings hatte sie ihm versprochen zu kommen. Und Olja Jalowa hielt ihre Versprechen.
In der Querstraße schlug ihr aus Richtung der Drei Bahnhöfe eisiger Wind entgegen. Außerdem war es hier stockdunkel. Erklären konnte sie sich das nicht, denn die Laternen funktionierten, und in den Fenstern der Wohnungen sowie in den Schaufenstern der Geschäfte brannte ebenfalls Licht. Nur vertrieb es die Dunkelheit irgendwie nicht: Die hellen Lichtflecken schimmerten in der Nacht, richteten aber nichts aus, fast wie Sterne am Himmel.
Für einen kurzen Moment blieb Olja stehen und sah sich um.
Was war bloß los mit ihr? Jagten ihr die drei Minuten zu Fuß – und wenn sie rannte, mal gerade eine – wirklich Angst ein? Ihr, die einsfünfundsiebzig groß und kräftiger als die meisten Jungen war? Mitten in Moskau, um sieben Uhr abends, mit genug Menschen um sie herum, die nach Hause eilten?
Wovor hatte sie also Angst?
Davor, zu Oleg zu gehen, das war’s! Der Wahrheit musste man ins Auge sehen.
Sie hatte zwar ihr Wort gegeben – aber Angst wie ein kleines Mädchen. Dabei war sie doch schon eine erwachsene Frau, jedenfalls fast erwachsen, jedenfalls fast eine Frau …
Nachdem sie die Strickpudelmütze zurechtgezogen und den Riemen der Sporttasche – sie enthielt ein Handtuch, einen sauberen Slip und ein Päckchen Slipeinlagen, denn Olja hatte den Verdacht, dass sie die Dinger morgen brauchen würde – ein Stück die linke Schulter hochgeschoben hatte, beschleunigte sie den Schritt.
Der Unterleutnant der Polizei, Dmitri Pastuchow, hatte heute frei. Er trug nicht einmal Uniform, als er den Arm hob, um an der Ecke Protopopowski und Astrachanski ein Taxi anzuhalten. Da die Gründe, warum Dima Pastuchow sich zu dieser Zeit in dieser Gegend aufhielt, seiner Frau den Boden unter den Füßen wegziehen könnten, sei darauf verzichtet, näher auf sie einzugehen. Zu Dimas Ehrenrettung sei jedoch angemerkt, dass er immerhin eine Tüte mit einer Schachtel Raffaelo sowie einen Blumenstrauß aus dem Automaten bei sich hatte, beides im Supermarkt Billa um die Ecke erworben.
Dima schenkte seiner Frau nur selten Blumen und Konfekt, ein-, zweimal im Jahr vielleicht. Daher sollte der heutige Einkauf zu seinen Gunsten ausgelegt werden.
»Was soll das heißen – fünfhundert?«, fing Dima eifrig zu feilschen an. »Dreihundert, darauf könnte ich mich noch einlassen!«
»Weißt du nicht, was das Benzin heute kostet?«, antwortete der Fahrer in dem alten Ford genauso eifrig. Obwohl er wie jemand aus einer südlichen Republik aussah, sprach er akzentfreies Russisch. »Dann ruf doch ein offizielles Taxi! Für weniger bringt dich jedenfalls niemand ans Ziel!«
»Ich halte ja gerade deshalb ein Schwarztaxi an, damit es nicht allzu viel kostet«, erklärte Dima. Im Grunde war er bereit, die fünfhundert zu zahlen. Die Fahrt würde schließlich einigermaßen lange dauern, überhaupt feilschte er nur aus alter Gewohnheit …
»Vierhundert«, sagte der Fahrer schließlich.
»Hört sich schon besser an«, erwiderte Dima und stieg ein, nicht ohne einen letzten Blick die Straße hinauf zu werfen – selbst wenn es dafür keinen triftigen Grund gab.
Fünf Schritt vor ihm stand ein Mädchen, schwankte und starrte Dima an.
Die Kleine war groß und hatte eine gute Figur, sodass sie im Halbdunkel durchaus für eine erwachsene Frau hätte durchgehen können. Jetzt fiel aber das Licht der Straßenlaterne direkt auf ihr Gesicht – und das war das Gesicht eines Kindes.
Sie trug keine Mütze, ihre Haare waren zerzaust. Tränen kullerten aus ihren Augen, über den Hals sickerte Blut. Die Skijacke aus Nylon hatte zwar nichts abbekommen, die hellblauen Jeans zeigten hier und da jedoch Blutspuren.
Pastuchow warf die Tüte und den Blumenstrauß auf den Rücksitz und eilte zu dem Mädchen. Hinter ihm stieß der Fahrer, der das Mädchen nun ebenfalls bemerkt hatte, einen fantasievollen Fluch aus.
»Was ist mit dir?«, schrie Pastuchow und packte das Mädchen bei den Schultern. »Was ist los? Wo ist dieser Dreckskerl?«
Aus irgendeinem Grund zweifelte er nicht eine Sekunde daran, dass das Mädchen ihm gleich zeigen würde, in welche Richtung dieser Dreckskerl abgehauen war. Er würde das Schwein einholen und festnehmen und ihm dabei mit etwas Glück sogar ein paar Knochen brechen oder die Fresse polieren.
Stattdessen fragte das Mädchen jedoch nur mit leiser Stimme: »Sie sind ein Polizist, oder?«
Pastuchow, der in diesem Augenblick völlig vergessen hatte, dass er gar keine Uniform trug, nickte bloß.
»Stimmt«, schob er dann hinterher. »Das bin ich! Also – wo ist der Dreckskerl?«
»Bringen Sie mich von hier weg, mir ist kalt«, bat das Mädchen in jämmerlichem Ton. »Bringen Sie mich bitte von hier weg.«
Der Vergewaltiger war nirgends zu sehen. Der Fahrer war inzwischen ausgestiegen und hatte sich mit einem Baseballschläger bewaffnet. Bekanntlich spielt in Russland ja kaum jemand Baseball, der Absatz dieser Schläger ist jedoch fast mit dem in den USA zu vergleichen. Als ein Pärchen in mittleren Jahren, das den Astrachanski heruntergeschlendert kam, das Mädchen, Pastuchow und den Fahrer erblickte, verschwand es sofort im Supermarkt. Ein Junge mit einem Rucksack, der sich ihnen aus dem Protopopowski-Prospekt näherte, blieb dagegen stehen und johlte derart begeistert und fröhlich, dass Pastuchow prompt über den von der Bibel gepriesenen Nutzen körperlicher Züchtigung bei der Kindererziehung nachdachte.
»Du darfst den Ort des Verbrechens jetzt nicht verlassen …«, teilte Pastuchow dem Mädchen mit.
Und verstummte plötzlich.
Denn nun sah er, woher das Blut kam.
Zwei winzige Wunden im Hals.
Zwei Bissspuren.
»Komm«, entschied er daraufhin und bugsierte das Mädchen ins Auto. Die Kleine leistete keinen Widerstand, als ob sie mit der Entscheidung, ihm zu vertrauen, völlig aufgehört hatte, eigenständig zu denken. »Fahren wir.«
»He, du musst zur Miliz mit ihr …«, sagte der Fahrer. Oder ins Krankenhaus … Das Sklifossowski ist gleich um die Ecke …«
»Ich bin von der Polizei«, sagte Pastuchow, während er mit einer Hand seinen Ausweis aus der Tasche zog und ihm den Fahrer unter die Nase hielt. »Das Sklif können wir uns sparen. Bring uns nach Sokol.«
»Wieso das?«, fragte der Fahrer erstaunt.
»Da hat die Nachtwache ihren Sitz«, antwortete Pastuchow, während er dem Mädchen die Sporttasche unter den Kopf schob. Ihre Beine bettete er auf seine Oberschenkel. Von den hohen »Winterturnschuhen« tropfte der dreckige schmelzende Schnee. Die Blutung am Hals war dagegen gestillt. Dafür wenigstens sorgte der Speichel eines Vampirs, sobald der Untote sich satt getrunken hatte.
Ärgerlich war nur, dass Vampire dann nicht immer rechtzeitig damit aufhörten.
»Was soll das denn sein – die Nachtwache?«, fragte der Fahrer erstaunt. »Ich lebe seit zwanzig Jahren in Moskau, aber ich kann mich nicht daran erinnern, je davon gehört zu haben.«
Und auch nach der Fahrt zur Nachtwache wirst du dich nicht mehr an sie erinnern, dachte Pastuchow. Aber das sagte er nicht laut. Schließlich war er sich nicht sicher, ob die Anderen ihm die Erinnerung an diesen Besuch ließen.
Seine Hand dafür ins Feuer legen würde er jedenfalls nicht.
»Und jetzt gib Gas«, bat er den Fahrer. »Ich zahle die Strafe auch.«
Der Fahrer erklärte ihm in höchst anschaulicher Weise, wohin Pastuchow sich sein Geld stecken konnte, und raste los.
Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da. Entweder war sie ohnmächtig oder hatte einen Schock erlitten. Pastuchow schielte zum Fahrer hinüber. Der hatte den Blick fest auf die Straße gerichtet. Daraufhin spreizte Dima behutsam die Beine des Mädchens, auch wenn er sich dabei selbst wie ein perverser Vergewaltiger vorkam.
Die Jeans waren im Schritt sauber, da klebte nirgends Blut. Das Mädchen war also nicht vergewaltigt worden.
Obwohl aus Pastuchows Sicht eine sexuelle Straftat in diesem Fall offen gestanden das geringere Übel dargestellt hätte. So was kannte man immerhin.