Ladydi wächst in den mexikanischen Bergen auf, inmitten von Mais- und Mohnfeldern, in einem Dorf ohne Männer, denn die sind auf der Suche nach Arbeit über die Grenze oder längst tot. Es ist eine karge und harte Welt, in der ein Mädchenleben wenig zählt. Eine Welt, in der verzweifelte Mütter ihre Töchter als Jungen verkleiden oder sie in Erdlöchern verstecken, sobald am Horizont die schwarzen Geländewagen der Drogen- und Menschenhändler auftauchen. Aber Ladydi träumt von einer richtigen Zukunft, sie träumt von Freundschaft und Liebe und Wohlstand. Ein Job als Hausmädchen in Acapulco verspricht die Rettung, doch dann verwickelt ihr Cousin sie in einen Drogendeal. Und plötzlich hält sie ein Paket Heroin in den Händen, und ein gnadenloser Überlebenskampf beginnt …

 

»Ein herzzerreißender Roman, messerscharf beobachtet.« The Guardian

 »Man liest dieses Buch nicht, man verschlingt es.« DBC Pierre

 

Jennifer Clement, 1960 im US-amerikanischen Connecticut geboren, wuchs in Mexiko-Stadt auf, studierte in New York und Paris Literaturwissenschaft und hat Lyrik und zwei Romane veröffentlicht. Von 2009 bis 2012 war sie Präsidentin des mexikanischen PEN. Für »Gebete für die Vermissten« hat Clement über zehn Jahre lang vor Ort recherchiert und Hunderte Interviews mit vom Drogenkrieg betroffenen Mädchen und Frauen geführt. Der Roman erscheint in 30 Ländern.

 

Nicolai von Schweder-Schreiner, 1967 geboren, lebt in Hamburg und hat u. ‌a. José Saramago, Daniel Galera, Leonard Cohen und Douglas Coupland ins Deutsche übersetzt.

 

 

Jennifer Clement

Gebete

für die Vermissten

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Nicolai von Schweder-Schreiner

Suhrkamp Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Prayers for the Stolen bei Hogarth, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York.

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4640.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Copyright © 2014 Jennifer Clement

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: The New York Times/Redux/laif

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

 

eISBN 978-3-518-73906-8

www.suhrkamp.de

 

 

Für Richard und Sylvia

Teil Eins

 

Eins

Jetzt machen wir dich hässlich, sagte meine Mutter. Sie pfiff durch die Zähne. Ihr Mund war so nah, dass ich die Spucke im Nacken spürte. Sie roch nach Bier. Im Spiegel sah ich, wie sie mir mit dem Stück Kohle übers Gesicht fuhr. Das Leben ist böse, flüsterte sie.

Meine erste Erinnerung ist, wie meine Mutter mir einen alten gesprungenen Spiegel vors Gesicht hielt. Da muss ich ungefähr fünf gewesen sein. Weil er gesprungen war, sah mein Gesicht so aus, als wäre es in der Mitte durchgebrochen. In Mexiko ist es das Beste, ein hässliches Mädchen zu sein.

Ich heiße Ladydi Garcia Martinez, ich habe braune Haut, braune Augen und braunes, krauses Haar und sehe aus wie alle anderen, die ich kenne. Als Kind hat mich meine Mutter wie einen Jungen angezogen und mich »Junge« genannt.

Ich hab allen erzählt, ich hätte einen Jungen bekommen, sagte sie.

Wäre ich ein Mädchen, würde man mich stehlen. Die Drogendealer mussten nur hören, dass irgendwo ein hübsches Mädchen rumlief, schon kamen sie in ihren schwarzen Escalades angerauscht und nahmen es mit.

Im Fernsehen sah ich Mädchen, die sich hübsch machten, sich die Haare kämmten, rosa Schleifen reinbanden und Make-up trugen, aber bei mir zu Hause gab es das nicht.

Vielleicht muss ich dir die Zähne ausschlagen, sagte meine Mutter.

Als ich älter wurde, strich ich mit einem gelben oder schwarzen Filzer über den weißen Schmelz, damit meine Zähne vergammelt aussahen.

Nichts ist abstoßender als ein dreckiger Mund, sagte meine Mutter.

Es war Paulas Mutter, die die geniale Idee hatte, die Löcher zu graben. Sie wohnte gegenüber, in einem kleinen Haus mit einem Stück Land, auf dem Papayabäume wuchsen.

Meine Mutter meinte, Guerrero verwandle sich langsam in einen Kaninchenbau, überall versteckten sich junge Mädchen in Erdlöchern.

Sobald jemand einen SUV kommen hörte oder einen schwarzen Punkt in der Ferne sah oder auch zwei oder drei schwarze Punkte, rannten sie alle in ihre Löcher.

So sah es aus im Bundesstaat Guerrero. Ein heißes Fleckchen Erde, ein Land der Gummibäume, Schlangen, Leguane und Skorpione, die hellen, durchsichtigen, die man kaum sieht und deren Stiche tödlich sind. In Guerrero gab es bestimmt mehr Spinnen als sonst irgendwo auf der Welt, und Ameisen. Rote Ameisen, von denen uns die Arme anschwollen, so dass sie aussahen wie Beine.

Bei uns ist man stolz darauf, das wildeste, böseste Volk der Welt zu sein, sagte Mutter.

Als ich geboren wurde, gab meine Mutter bekannt, sie habe einen Jungen zur Welt gebracht. Sie erzählte es den Nachbarn und den Leuten auf dem Markt.

Gott sei Dank ist es ein Junge!, sagte sie.

Ja, Gott und der Jungfrau Maria sei Dank, antworteten alle, obwohl niemand ihr glaubte. Auf unserem Berg wurden nur Jungen geboren, und aus ein paar von ihnen wurden Mädchen, wenn sie ungefähr elf waren. Diese Mädchen mussten sich möglichst hässlich machen, und manchmal mussten sie sich in Löchern verstecken.

Wir waren wie Kaninchen, die sich vor hungrigen streunenden Hunden verkrochen, Hunden, die das Maul nicht zubekamen und schon das Fell auf der Zunge schmeckten. Kaninchen stampfen bei Gefahr mit den Hinterläufen auf, und diese Warnmeldung geht dann durch den Boden und alarmiert die anderen Kaninchen im Bau. Bei uns in der Gegend war das schlecht möglich, da wir zu weit auseinander lebten. Dafür waren wir ständig auf der Hut und lernten, Geräusche in sehr weiter Entfernung zu hören. Meine Mutter beugte den Kopf vor, schloss die Augen und horchte konzentriert auf Motorenlärm oder auf das aufgeregte Fiepen der Vögel und kleinen Tiere, wenn ein Auto kam.

Weißt du, keine von ihnen ist je wieder aufgetaucht. Keins der Mädchen, die sie geholt haben, ist je zurückgekommen oder hat auch nur einen Brief geschrieben, sagte meine Mutter, nicht mal einen Brief. Keine außer Paula. Sie kehrte ein Jahr nachdem sie entführt worden war zurück.

Immer wieder hatte uns ihre Mutter erzählt, wie sie sie geholt hatten. Und dann kam sie eines Tages nach Hause, in dunkelblauer Jogginghose und Sweatshirt. Sie hatte sieben Ohrringe, blaue, gelbe und grüne Stecker, die am Rand ihrer linken Ohrmuschel hochwanderten, und um ihr Handgelenk schlängelte sich ein Tattoo aus den Worten Cannibal's Baby.

Paula lief einfach die Schnellstraße lang und dann den Sandweg hoch direkt bis zu ihrem Haus. Sie lief langsam mit gesenktem Kopf, als folgte sie einer Spur aus Steinen.

Nein, das waren keine Steine, das Mädchen hat einfach den Weg nach Hause zu ihrer Mutter gerochen, sagte meine Mutter.

Paula ging direkt in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett, auf dem noch ein paar Stofftiere lagen. Sie verlor nie ein Wort darüber, was mir ihr passiert war. Wir wussten nur, dass ihre Mutter sie mit der Flasche fütterte, mit einer Milchflasche, sie nahm sie tatsächlich auf den Schoß und gab ihr ein Fläschchen. Paula muss da fünfzehn gewesen sein, ich war nämlich vierzehn. Ihre Mutter kaufte ihr außerdem Babynahrung und fütterte sie mit einem kleinen weißen Kaffeeplastiklöffel aus dem OXXO Shop an der Tankstelle auf der anderen Seite der Schnellstraße.

Hast du das gesehen? Hast du gesehen, was Paula anhatte?, fragte meine Mutter.

Nein, warum?

Die Sachen waren blau, dunkelblau, du weißt, was das bedeutet, oder? Sie war ganz in Blau, Dunkelblau, Jesus, Maria, mögen die Engel im Himmel uns beschützen.

Nein, ich wusste nicht, was das bedeutete. Meine Mutter wollte es mir nicht sagen, aber später fand ich es selbst heraus. Dunkelblau war die Farbe, die man im Gefängnis trug. Ich fragte mich, wie jemand aus einer kleinen Hütte auf einem Berg von einem Drogendealer mit rasiertem Kopf, einem Maschinengewehr in der Hand und einer Granate in der Hosentasche entführt werden und dann im Gefängnis landen konnte.

Ich hielt Ausschau nach Paula. Ich wollte mit ihr reden. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, aber immerhin waren wir beste Freundinnen gewesen, zusammen mit Maria und Estefani. Ich wollte sie zum Lachen bringen und sie daran erinnern, wie wir sonntags als Jungen verkleidet in die Kirche gingen und dass ich Junge hieß und sie Paulo. Ich wollte sie daran erinnern, wie wir gemeinsam in den Klatschzeitschriften blätterten, weil sie sich so gern die schönen Kleider der Fernsehstars ansah. Außerdem wollte ich wissen, was passiert war.

Absolut jeder wusste, dass Paula schon immer das hübscheste Mädchen in diesem Teil von Guerrero gewesen war. Es hieß, sie sei sogar noch hübscher als die Mädchen in Acapulco, was als großes Kompliment galt, zumal alles, was Glamour hatte oder irgendwie besonders war, aus Acapulco kommen musste. Das sprach sich natürlich herum.

Paulas Mutter stopfte ihr alte Lumpen in die Kleider, damit sie dick wirkte, und trotzdem wusste jeder, dass drei Kilometer von Chilpancingo und zwei Stunden von der Hafenstadt Acapulco entfernt auf einem kleinen Hof zusammen mit ihrer Mutter und drei Hühnern ein Mädchen lebte, das schöner war als Jennifer Lopez. Es war nur eine Frage der Zeit. Obwohl Paulas Mutter die Idee hatte, die Mädchen könnten sich in Erdlöchern verstecken, was dann auch alle taten, konnte sie ihre eigene Tochter nicht retten.

Ein Jahr vor Paulas Entführung hatte es eine Warnung gegeben.

Es war am frühen Morgen gewesen. Concha, Paulas Mutter, fütterte gerade ihre drei Hühner, als sie einen Wagen die Straße hochkommen hörte. Paula lag noch im Bett und schlief. Ihr Gesicht war gewaschen, ihr Haar zu einem langen schwarzen Zopf geflochten, der sich im Schlaf um ihren Hals gelegt hatte.

Paula trug eins von den T-Shirts ihres Vaters, die er dagelassen hatte, als er vor zehn Jahren in die USA ging und nie zurückkehrte. Das T-Shirt, das ihr bis zu den Knien reichte, war aus weißer Baumwolle und es stand Wonder Bread in dunkelblauen Buchstaben drauf. Außerdem hatte sie einen rosa Schlüpfer an, was, wie meine Mutter sagte, schlimmer sei, als nackt zu sein!

Paula schlief tief und fest, als der Dealer ins Haus platzte.

Concha sagte, sie habe die Hühner gefüttert, diese drei nichtsnutzigen Hühner, die in ihrem ganzen Leben kein einziges Ei gelegt hatten, als sie den gelbbraunen BMW den schmalen Weg hochkommen sah. Im ersten Moment dachte sie, es sei ein Bulle oder irgendein anderes Tier, das aus dem Zoo in Acapulco weggelaufen war, einfach, weil sie nicht mit einem hellbraunen Auto gerechnet hatte.

Wenn sie sich vorgestellt hatte, wie die Dealer kamen, dachte sie immer an schwarze SUVs mit getönten Scheiben, die angeblich illegal waren, die aber jeder hatte, damit die Cops nicht reingucken konnten. So ein schwarzer Cadillac Escalade mit vier Türen und dunklen Scheiben, voll mit Dealern und Maschinengewehren, war wie ein trojanisches Pferd oder so was Ähnliches, sagte meine Mutter immer.

Woher kannte meine Mutter Troja? Woher wusste eine Mexikanerin, die allein mit ihrer Tochter in Guerrero auf dem Land lebte, zwei Autostunden von Acapulco entfernt und fünf mit dem Maultier, irgendetwas über Troja? Ganz einfach. Das Einzige, was mein Vater ihr je aus den USA mitgebracht hat, war eine kleine Satellitenantenne. Meine Mutter war süchtig nach Geschichtsdokus und Oprahs Talkshows.

Bei uns zu Hause stand ein Altar für Oprah neben dem für die Jungfrau von Guadalupe. Meine Mutter nannte sie nicht Oprah. Den Namen hat sie nie richtig verstanden. Sie nannte sie Opera. Es hieß also immer Opera dies und Opera das. Und tatsächlich dachte meine Mutter immer wieder daran, Opera einen Brief zu schreiben.

Abgesehen von Oprah und den Dokumentationen müssen wir mindestens hundertmal The Sound Of Music gesehen haben. Meine Mutter sah ständig nach, ob der Film in irgendeinem Programm lief.

Jedes Mal, wenn Concha uns erzählte, was mit Paula passiert war, ging die Geschichte anders. Wir erfuhren also nie die Wahrheit.

Der Drogendealer, der ein Jahr vor Paulas Entführung bei ihnen gewesen war, wollte nur einen Blick auf sie werfen. Er wollte sehen, ob die Gerüchte stimmten. Sie stimmten.

Das Leben war anders, nachdem Paula verschwunden war.

Auf unserem Berg gab es keine Männer. Es war, als würde man irgendwo leben, wo es keine Bäume gab.

Wie wenn man nur einen Arm hätte, sagte meine Mutter. Nein, nein, nein, korrigierte sie sich. An einem Ort ohne Männer zu leben, ist wie schlafen, ohne zu träumen.

Unsere Männer beschlossen, den Fluss in die Vereinigten Staaten zu überqueren. Sie tauchten die Füße ins Wasser und wateten bis zu den Hüften hinein, aber wenn sie das andere Ufer erreichten, waren sie tot. Im Fluss verloren sie ihre Frauen und Kinder und marschierten direkt auf den riesigen Friedhof USA. Meine Mutter hatte recht. Sie schickten Geld, kamen noch ein- oder zweimal nach Hause, und das war's. Auf unserem Berg lebten also Grüppchen von Frauen, die arbeiteten und versuchten, ihre Töchter großzuziehen. Die einzigen Männer in der Gegend saßen in SUVs, fuhren auf Motorrädern und tauchten plötzlich aus dem Nichts auf, eine Kalaschnikow über der Schulter, einen Beutel Kokain in der Jeanstasche und ein Päckchen Marlboro in der Hemdtasche. Sie trugen Ray-Ban-Brillen, aber wir durften ihnen trotzdem auf keinen Fall in die Augen sehen, wo die kleine schwarze Pupille saß, die direkt in ihre Seelen führte.

In den Nachrichten hörten wir eines Tages von der Entführung von fünfunddreißig Bauern, die auf einem Feld Mais pflückten, als ein paar Männer mit drei großen Trucks ankamen und sie mit vorgehaltener Waffe zwangen einzusteigen. Wie Vieh standen sie zusammengepfercht in den LKWs. Nach zwei oder drei Wochen kehrten die Bauern zurück. Sie waren gewarnt geworden, man würde sie töten, falls sie erzählten, wohin man sie gebracht hatte. Aber jeder wusste, dass sie bei der Marihuana-Ernte geholfen hatten.

Solange man über etwas nicht redete, war es auch nicht passiert. Bis irgendwann jemand ein Lied darüber schrieb. Alles, was niemand wissen durfte, worüber man nicht sprechen durfte, tauchte mit Sicherheit irgendwann in einem Lied auf.

Irgendein Idiot wird ein Lied über diese entführten Bauern schreiben und dafür sterben, sagte meine Mutter.

Am Wochenende fuhren meine Mutter und ich nach Acapulco, wo sie für eine reiche Familie aus Mexiko-Stadt putzte. Sie verbrachten dort einige Wochenenden im Monat in ihrem Ferienhaus. Jahrelang waren sie mit dem Auto gekommen, aber dann kauften sie sich irgendwann einen Hubschrauber. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Landeplatz auf dem Grundstück fertig war. Erst mussten sie den Swimmingpool mit Erde zuschütten und abdecken und ihn dann ein paar Meter weiter neu bauen. Auch der Tennisplatz wurde verlagert, damit der Heliport möglichst weit weg vom Haus lag.

Meine Mutter arbeitete viele Jahre für die Familie. Mein Vater war ihr Gärtner, bevor er in die USA ging. Er kam noch ein paar Mal, aber dann nicht mehr, und als es so weit war, wusste meine Mutter, dass es das letzte Mal war.

Das ist das letzte Mal, sagte sie.

Wie meinst du das, Mama?

Präg dir genau sein Gesicht ein, saug ihn in dich auf, denn du wirst deinen Vater niemals mehr wiedersehen. Garantiert. Garantiert.

Das Wort benutzte sie gern.

Als ich sie fragte, woher sie wisse, dass er nicht wiederkommen würde, sagte sie, Wart's einfach ab, Ladydi, du wirst schon sehen, dass ich recht habe.

Aber woher weißt du das?, fragte ich noch mal.

Wollen wir doch mal sehen, ob du es selbst rausfindest, antwortete sie.

Es war ein Test. Meine Mutter testete mich gern, und herauszufinden, warum mein Vater nicht wiederkommen würde, war ein Test.

Ich fing an, ihn zu beobachten. Ich achtete auf seine Gesten, darauf, wie er sich in unserem kleinen Haus und Garten bewegte. Ich folgte ihm wie einem Fremden, der mir womöglich etwas wegnahm, sobald ich nicht hinsah.

Eines Abends wusste ich, dass meine Mutter recht hatte. Es war so heiß, dass man das Gefühl hatte, selbst der Mond strahle Wärme aus. Ich ging nach draußen zu meinem Vater, der eine Zigarette rauchte.

Mein Gott, das muss so ziemlich der heißeste Ort auf der Welt sein, sagte er, während er den Tabakrauch gleichzeitig durch Mund und Nase ausstieß.

Er legte den Arm um mich, und seine Haut war noch heißer als meine. Wir hätten miteinander verschmelzen können.

Und dann sprach er es aus.

Du und deine Mutter, ihr seid zu gut für mich. Ich verdiene euch nicht.

Ich hatte den Test mit Eins bestanden.

Verdammter Hurensohn, sagte meine Mutter wieder und wieder, jahrelang. Sie nahm nie mehr seinen Namen in den Mund. Von da an war er nur noch der Hurensohn.

Wie auch viele andere Leute auf unserem Berg, glaubte meine Mutter an Flüche.

Möge der Wind die Flamme seines Herzens auslöschen. Möge eine gigantische Termite aus seinem Nabel wachsen oder eine Ameise aus seinem Ohr, sagte sie. Möge ein Wurm seinen Penis fressen.

Dann hörte mein Vater irgendwann auf, uns Geld zu schicken. Ich schätze, wir waren auch zu gut für sein Geld. Natürlich waren zwischen den USA und Mexiko mehr Gerüchte in Umlauf als sonst irgendwo auf der Welt. Wer die Wahrheit nicht kannte, kannte das Gerücht, und das Gerücht war immer viel mehr als die Wahrheit.

Ein Gerücht ist mir lieber als die Wahrheit, sagte meine Mutter.

Das Gerücht, das aus einem mexikanischen Restaurant in New York kam und über ein Schlachthaus in Nebraska, einen Fastfood-Laden in Ohio, eine Orangenplantage in Florida, ein Hotel in San Diego und dann, in einem Akt der Wiederauferstehung, über den Fluss in eine Bar in Tijuana, auf ein Marihuanafeld bei Morelia, in ein Glasbodenboot in Acapulco, eine Cantina in Chilpancingo und schließlich den Feldweg hoch in den Schatten unseres Orangenbaums getragen wurde, besagte, dass mein Vater »da drüben« eine andere Familie hatte.

»Hier drüben« spielte unsere Geschichte, aber auch die aller anderen.

Hier drüben lebten wir allein in unserer Hütte, umgeben von all dem Kram, den meine Mutter über die Jahre angehäuft hatte. Wir hatten Dutzende von Stiften, Salzstreuern und Brillen und einen großen Müllsack voll mit Zuckertütchen, die sie aus den Restaurants mitgehen ließ. Meine Mutter kam nie ohne eine Rolle Klopapier in der Handtasche von der Toilette. Sie nannte es nicht stehlen, im Gegensatz zu meinem Vater. Als er noch bei uns wohnte und sie sich immer stritten, sagte er, er lebe mit einer Diebin zusammen. Meine Mutter behauptete, sie leihe die Sachen nur aus, aber ich wusste, dass sie nie etwas zurückgab. Ihre Freundinnen wussten, dass sie alles vor ihr verstecken mussten. Egal wo wir hingingen, sobald wir zu Hause waren, kam irgendwas aus ihren Taschen, zwischen den Brüsten oder sogar in den Haaren zum Vorschein. Sie hatte ein Händchen dafür. Manchmal zog sie kleine Kaffeelöffel oder Nähgarn aus ihrer krausen Mähne. Und einmal hatte sie bei Estefani einen Snickers-Riegel mitgehen lassen und ihn sich unter den Pferdeschwanz geschoben. Selbst ihre eigene Tochter beklaute sie. Ich hatte es aufgegeben, zu glauben, irgendetwas gehöre mir.

Als mein Vater wegging, sagte meine Mutter, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, Dieser verdammte Hurensohn! Wir verlieren unsere Männer, wir kriegen Aids von ihnen und ihren amerikanischen Huren, unsere Töchter werden entführt, unsere Söhne gehen weg, und trotzdem liebe ich dieses Land mehr als mein Leben.

Dann sagte sie ganz langsam das Wort Mexiko, und dann noch mal, Mexiko. Als würde sie es von einem Teller ablecken.

Meine Mutter hatte mir sehr früh beigebracht, ständig für irgendetwas zu beten. Ich hatte um Wolken und Pyjamas gebeten, um Glühbirnen und Bienen.

Bitte nie um Liebe und Gesundheit, sagte Mutter. Oder um Geld. Wenn Gott hört, was du willst, gibt er es dir nicht. Garantiert.

Als mein Vater wegging, sagte meine Mutter, Knie nieder und bitte um Löffel.