Cover

Eric Kandel

DAS ZEITALTER DER
ERKENNTNIS

Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und
Gehirn von der Wiener Moderne bis heute

Aus dem amerikanischen Englisch
von Martina Wiese

Siedler

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel The Age of Insight. The Quest to Understand the Unconscious in Art, Mind,
and Brain from Vienna 1900 to the Present
bei Random House, New York.

Erste Auflage

Copyright © 2012 by Eric R. Kandel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Covermotiv: © Gian Paul Lozza
Lektorat: Ursula Kiausch, Mannheim
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Bearbeitung Grafiken: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-09985-5
V003

www.siedler-verlag.de

Pour Denise – toujours

INHALT

Vorwort 11

TEIL EINS

Eine psychoanalytische Psychologie und
Kunst der unbewussten Gefühle

KAPITEL 1Die Wendung nach innen: »Wien 1900«

KAPITEL 2Die Erforschung der Wahrheit unter der Oberfläche: Ursprünge einer wissenschaftlichen Medizin

KAPITEL 3Wiener Künstler, Autoren und Wissenschaftler geben sich im Salon Zuckerkandl ein Stelldichein

KAPITEL 4Die Erforschung des Gehirns unter dem Schädel:
Ursprünge einer wissenschaftlichen Psychiatrie

KAPITEL 5Die gleichzeitige Erforschung von Geist und Gehirn:
Die Entwicklung einer gehirnbasierten Psychologie

KAPITEL 6Die getrennte Erforschung von Geist und Gehirn:
Ursprünge einer dynamischen Psychologie

KAPITEL 7Die Suche nach dem Innenleben in der Literatur

KAPITEL 8Die Darstellung der weiblichen Sexualität in der Kunst

KAPITEL 9Die Darstellung der Psyche in der Kunst

KAPITEL 10Die Verknüpfung von Erotik, Aggression und Angst in der Kunst

TEIL ZWEI

Eine kognitive Psychologie der visuellen Wahrnehmung
und der emotionalen Reaktion auf Kunst

KAPITEL 11Die Entdeckung der Relevanz des Betrachters

KAPITEL 12Betrachten bedeutet Erfinden:
Das Gehirn als Kreativitätsmaschine

KAPITEL 13Der Weg zur Malerei des 20. Jahrhunderts

TEIL DREI

Die Biologie der visuellen Reaktion auf Kunst

KAPITEL 14Die Verarbeitung visueller Bilder durch das Gehirn

KAPITEL 15Die Dekonstruktion des visuellen Bildes:
Bausteine der Formwahrnehmung

KAPITEL 16Die Rekonstruktion der Welt, die wir sehen:
Sehen ist Informationsverarbeitung

KAPITEL 17Sehprozesse der oberen Ebene und die Wahrnehmung von Gesicht, Händen und Körper durch das Gehirn

KAPITEL 18Top-down-Verarbeitung von Informationen:
Auf der Suche nach Bedeutungen helfen Erinnerungen

KAPITEL 19Die Dekonstruktion von Gefühlen:
Auf der Suche nach emotionalen Urformen

KAPITEL 20Die künstlerische Darstellung von Gefühlen:
Gesichter, Hände, Körper und Farbe

KAPITEL 21Unbewusste Emotionen, bewusste Gefühle und ihre Äußerung durch den Körper

TEIL VIER

Die Biologie der emotionalen Reaktion auf Kunst

KAPITEL 22Die Top-down-Steuerung kognitiver emotionaler Informationen

KAPITEL 23Die biologische Reaktion auf Schönheit und Hässlichkeit in der Kunst

KAPITEL 24Der Anteil der Betrachter:
Zugang zur Gedankenwelt eines anderen Menschen

KAPITEL 25Die Biologie des Anteils der Betrachter:
Modelle fremder Gedankenwelten

KAPITEL 26Wie das Gehirn Emotion und Empathie steuert

TEIL FÜNF

Die Entwicklung eines Dialogs zwischen bildender Kunst
und Wissenschaft

KAPITEL 27Künstlerische Universalien und die österreichischen Expressionisten

KAPITEL 28Das kreative Gehirn

KAPITEL 29Das kognitive Unbewusste und das kreative Gehirn

KAPITEL 30Hirnschaltkreise im Dienste der Kreativität

KAPITEL 31Talent, Kreativität und die Entwicklung des Gehirns

KAPITEL 32Selbsterkenntnis: Der neue Dialog zwischen Kunst und Naturwissenschaft

Dank
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Register

VORWORT

Als Auguste Rodin im Juni 1902 Wien besuchte, lud Berta Zuckerkandl den großen französischen Bildhauer zusammen mit Gustav Klimt, Österreichs berühmtestem Maler, zu einer Jause ein, einem typischen Wiener Nachmittag mit Kaffee und Kuchen. Berta, ihrerseits eine renommierte Kunstkritikerin und Grande Dame eines der distinguiertesten Wiener Salons, erinnert sich in ihrer Autobiografie an diesen denkwürdigen Nachmittag:

Neben Klimt saßen zwei wunderschöne Frauen, die auch Rodin entzückten. … Alfred Grünfeld [der in Wien lebende frühere Hofpianist von Kaiser Wilhelm I.] hatte sich in dem großen Saal, dessen Flügeltüren weit offen standen, ans Klavier gesetzt. Klimt schlich sich zu ihm. »Ich bitte, spielen’s uns Schubert!« Und Grünfeld, die Zigarre im Mund, träumte Schubert vor sich hin.

Da beugt sich Rodin zu Klimt hinüber. »So etwas wie bei Euch hier habe ich noch nie gefühlt! Ihre Beethoven-Freske, die so tragisch und so selig ist; Eure tempelartige unvergeßliche Ausstellung und nun dieser Garten, diese Frauen, diese Musik! Und um Euch, in Euch diese frohe kindliche Freude. Was ist das nur?!«

Ich übersetzte Rodins Worte. Klimt neigte seinen schönen Petrus-Kopf und sagte nur ein Wort:

»Österreich!«1

Dieser idealisierte, romantische Blick auf das Leben in Österreich, den Klimt mit Rodin teilte und der nur sehr entfernt etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte, hat sich auch mir unauslöschlich eingeprägt. Ich musste Wien schon als Kind verlassen, doch das Geistesleben vom Wien der Jahrhundertwende liegt mir im Blut – mein Herz schlägt im Dreivierteltakt.

Die Quellen für Das Zeitalter der Erkenntnis waren meine spätere Faszination von der intellektuellen Entwicklung Wiens zwischen 1890 und 1918 und mein Interesse an der österreichischen Kunst der Moderne, Psychoanalyse und Kunstgeschichte sowie an der Gehirnforschung, der ich mich verschrieben habe. In diesem Buch untersuche ich den zwischen Kunst und Wissenschaft andauernden Dialog, dessen Wurzeln im Wiener Fin de Siècle liegen, und dokumentiere seine drei wichtigsten Phasen.

Die erste Phase begann als ein Austausch von Erkenntnissen über unbewusste geistige Prozesse zwischen den Künstlern der Moderne und Vertretern der Wiener Medizinischen Schule. Die zweite Phase wurde in den 1930er-Jahren von der Wiener Schule der Kunstgeschichte angestoßen und führte den Dialog als Interaktion zwischen Kunst und einer Kognitionspsychologie der Kunst fort. In der dritten Phase, die vor 20 Jahren begann, legte der Austausch zwischen dieser Kognitionspsychologie und der Biologie den Grundstein für eine emotionale Neuroästhetik, die versucht, unsere perzeptuellen, emotionalen und empathischen Reaktionen auf Kunstwerke zu ergründen.

Dieser Dialog und die fortlaufenden Untersuchungen aus dem Bereich der Gehirnforschung und der Kunst sind nach wie vor lebendig. Sie haben uns erste Erkenntnisse darüber beschert, welche Vorgänge im Gehirn von Menschen ablaufen, die ein Kunstwerk betrachten.

DIE ZENTRALE HERAUSFORDERUNG für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Biologie des menschlichen Geistes zu ergründen. Das Werkzeug für diese Herausforderung bot das ausgehende 20. Jahrhundert, als die Kognitionspsychologie – die Wissenschaft des Geistes – mit der Neurowissenschaft – der Wissenschaft des Gehirns – fusionierte. Das Ergebnis war eine neue Wissenschaft des Geistes, die uns in die Lage versetzt hat, eine Reihe von Fragen über uns selbst zu formulieren: Wie nehmen wir etwas wahr, lernen und erinnern uns? Was ist das Wesen von Gefühl, Empathie, Denken und Bewusstsein? Wo liegen die Grenzen des freien Willens?

Diese neue Wissenschaft des Geistes ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie uns tiefere Einsichten über die Ursprünge unseres ureigenen Wesens vermittelt, sondern auch, weil nun eine wichtige Abfolge von Zwiegesprächen zwischen der Gehirnforschung und anderen Wissensgebieten in Gang gesetzt werden kann. Solche Zwiegespräche könnten uns die Mechanismen im Gehirn ergründen helfen, die Wahrnehmung und Kreativität ermöglichen – sei es in der Kunst, in der Natur- und Geisteswissenschaft oder im täglichen Leben. In einem weiteren Sinne könnte dieser Dialog dazu beitragen, Wissenschaft zu einem Teil unserer gemeinsamen kulturellen Erfahrung zu machen.

In Das Zeitalter der Erkenntnis stelle ich mich dieser zentralen wissenschaftlichen Herausforderung, indem ich mein Augenmerk auf die frühesten Verflechtungen der neuen Wissenschaft des Geistes mit der Kunst richte. Um die Anfänge dieses immer neu entfachten Dialogs pointiert darstellen zu können, konzentriere ich mich hier bewusst auf eine bestimmte Kunstform – Porträtmalerei – und eine bestimmte Kulturepoche – die Moderne im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Ich tue dies nicht nur, um einige zentrale Themen in den Blickpunkt der Diskussion zu rücken, sondern auch, weil diese Kunstform und diese Epoche von einer Reihe bahnbrechender Versuche gekennzeichnet waren, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verknüpfen.

PORTRÄTMALEREI EIGNET SICH SEHR GUT für eine wissenschaftliche Untersuchung. Wir besitzen mittlerweile – in kognitionspsychologischer wie auch biologischer Hinsicht – erste zufriedenstellende Erkenntnisse darüber, wie wir perzeptuell, emotional und empathisch auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen anderer Personen reagieren. Die Porträtmalerei der Moderne in »Wien 1900« bietet sich dabei besonders an, weil die Auseinandersetzung der Künstler mit unter der Oberfläche verborgenen Wahrheiten von der parallel dazu auftretenden Beschäftigung mit unbewussten geistigen Prozessen in medizinischer Forschung, Psychoanalyse und Literatur begleitet und beeinflusst wurde. Somit illustrieren die Porträts aus der Wiener Moderne mit ihrem bewussten und dramatischen Bemühen, die inneren Befindlichkeiten ihrer Modelle darzustellen, auf ideale Weise, inwiefern psychologische und biologische Erkenntnisse unsere Beziehung zur Kunst bereichern können.

In diesem Zusammenhang untersuche ich den Einfluss des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens und des weiteren intellektuellen Umfelds von Wien um 1900 auf drei Künstler: Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele. Ein charakteristisches Merkmal des Wiener Lebens jener Zeit war die fortgesetzte, freie Kommunikation von Künstlern, Autoren und Denkern mit Wissenschaftlern. Die Interaktion mit Medizinern und Biologen sowie mit Psychoanalytikern beeinflusste die Porträtmalerei dieser drei Künstler maßgeblich.

Auch aus anderen Gründen bieten sich die Vertreter der Wiener Moderne für diese Untersuchung an. Zunächst einmal erlauben sie eine tiefgreifende Analyse, weil es nur so wenige – drei Hauptvertreter – gibt, die jedoch für die Kunstgeschichte als Kollektiv wie auch als Individuen von großer Bedeutung sind. Als Gruppe versuchten sie, das unbewusste, triebhafte Streben der Menschen in ihren Zeichnungen und Gemälden festzuhalten, wobei aber jeder Einzelne seine ganz eigene Art und Weise entwickelte, seine Einsichten mithilfe von Gesichtsausdrücken sowie Hand- und Körpergesten darzustellen. Dabei leistete jeder der Künstler einen unabhängigen konzeptuellen und technischen Beitrag zur modernen Kunst.

In den 1930er-Jahren trugen die Dozenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte maßgeblich zur Weiterentwicklung des an der Moderne ausgerichteten Programms von Klimt, Kokoschka und Schiele bei. Sie betonten, dass Künstler der Moderne nicht Schönheit, sondern neue Wahrheiten präsentieren müssten. Darüber hinaus bereitete die Wiener Schule der Kunstgeschichte, teils unter dem Einfluss von Sigmund Freuds psychologischen Arbeiten, den Boden für eine wissenschaftlich fundierte Kunstpsychologie, die sich ursprünglich auf die Rezipienten der Kunst konzentrierte.

Heute ist die neue Wissenschaft des Geistes so weit ausgereift, dass sie einen erneuten Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft eröffnen und beleben kann, in dessen Mittelpunkt wieder die Rezipienten stehen. Um die Verbindung zwischen der heutigen Hirnforschung und den Malern von »Wien 1900« aufzuzeigen, skizziere ich in groben Zügen – für das allgemeine Lesepublikum und Studenten der Kunst und Geistesgeschichte gleichermaßen – unser derzeitiges Wissen über die kognitionspsychologische und neurobiologische Grundlage von Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl, Empathie und Kreativität. Danach untersuche ich, welche Erkenntnisse uns die Verknüpfung von Kognitionspsychologie und Hirnbiologie darüber gebracht hat, wie Menschen Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren. Meine Beispiele stammen zwar aus der Malerei der Moderne, insbesondere dem österreichischen Expressionismus, doch die Prinzipien der Reaktion auf Kunst sind auf alle Epochen der Malerei anwendbar.

WARUM SOLLTEN WIR EINEN DIALOG ZWISCHEN Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen befördern? Hirnforschung und Kunst repräsentieren zwei verschiedene Blickwinkel auf den menschlichen Geist. Die Wissenschaft lehrt uns, dass unser gesamtes geistiges Leben auf unserer Hirnaktivität beruht. Wenn wir also diese Aktivität ergründen, beginnen wir die Prozesse zu verstehen, die unseren Reaktionen auf Kunstwerke zugrunde liegen. Wie wird aus den von den Augen gesammelten Informationen »Sehen«? Wie verwandeln sich Gedanken in Erinnerungen? Was ist die biologische Grundlage unseres Verhaltens? Demgegenüber ermöglicht die Kunst Einblicke in die flüchtigeren, real erlebten Merkmale des menschlichen Geistes, in die Art und Weise, wie wir eine spezifische Erfahrung empfinden. Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression enthüllen, aber eine Sinfonie von Beethoven enthüllt uns, wie sich die Depression anfühlt. Beide Sichtweisen sind notwendig, wenn wir das Wesen des menschlichen Geistes ganz erfassen wollen, doch nur selten werden sie vereint.

Das intellektuelle und künstlerische Umfeld von Wien um 1900 stand für einen frühen Austausch zwischen den beiden Sichtweisen und brachte die Erkenntnisse über den menschlichen Geist einen gewaltigen Schritt voran. Wie ließe sich heute von einem solchen Austausch profitieren und wer wären die Nutznießer? Der Nutzen für die Hirnforschung ist klar: Eine zentrale Frage der Biologie lautet, wie das Gehirn sich seiner Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gefühle bewusst wird. Aber genauso gut ist vorstellbar, dass auch Kunstbetrachter, Kunst- und Geistesgeschichtler sowie die Künstler selbst davon profitieren könnten.

Erkenntnisse über die Prozesse der visuellen Wahrnehmung und emotionalen Reaktionen könnten durchaus neue Begrifflichkeiten für die Kunst generieren, neue Kunstformen und möglicherweise sogar neue Ausdrucksformen künstlerischer Kreativität. Genau wie Leonardo da Vinci und andere Künstler der Renaissance die Erkenntnisse über die menschliche Anatomie nutzten, um den Körper präziser und überzeugender darzustellen, werden vielleicht auch viele zeitgenössische Künstler als Reaktion auf Erkenntnisse der Hirnforschung neue Darstellungsformen entwickeln. Die Biologie hinter künstlerischen Einsichten, der Inspiration und den Reaktionen der Betrachter auf Kunst zu verstehen, könnte von unschätzbarem Wert für Künstler sein, die ihre Kreativität steigern möchten. Auf lange Sicht liefert die Hirnforschung vielleicht auch Hinweise auf das Wesen der Kreativität selbst.

Die Wissenschaft versucht komplexe Vorgänge zu verstehen, indem sie sie auf ihre wesentlichen Ereignisse reduziert und das Wechselspiel dieser Ereignisse untersucht. Dieser reduktionistische Ansatz gilt auch für die Kunst. Tatsächlich ist meine Konzentration auf eine Schule der Kunst mit nur drei Hauptvertretern ein Beispiel hierfür. Einige Stimmen befürchten, dass eine reduktionistische Analyse unsere Faszination von Kunst vermindert, dass sie die Kunst trivialisiert und ihrer besonderen Kraft beraubt, während der Anteil des Betrachters auf eine gewöhnliche Hirnfunktion schrumpft. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass der Reduktionismus, wenn man zu einem Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst sowie zur Konzentration auf jeweils nur einen geistigen Prozess ermuntert, unseren Horizont erweitern und uns neue Erkenntnisse über die Natur und die Schöpfung von Kunst verschaffen kann. Diese neuen Erkenntnisse werden uns in die Lage versetzen, unerwartete Aspekte der Kunst wahrzunehmen, die den Beziehungen zwischen biologischen und psychologischen Phänomenen entspringen.

Weder negieren der Reduktionismus und die Hirnbiologie Reichtum und Komplexität der menschlichen Wahrnehmung, noch schmälern sie unsere Wertschätzung von Gestalt, Farbe und Emotionen menschlicher Gesichter und Körper. Wir verfügen mittlerweile über eine fundierte wissenschaftliche Vorstellung vom Herzen als einem muskulären Organ, das Blut durch Körper und Gehirn pumpt. Demzufolge betrachten wir das Herz nicht mehr als Sitz der Gefühle. Doch diese neue Erkenntnis führt nicht dazu, dass wir das Herz weniger bewundern oder seine Bedeutung für uns weniger zu schätzen wissen. Entsprechend kann die Wissenschaft Aspekte der Kunst erklären, doch ersetzt dies nicht die von der Kunst ausgehende Inspiration, die Freude der Betrachter an der Kunst oder die Impulse und Ziele von Kreativität. Ganz im Gegenteil – die Biologie des Gehirns zu verstehen, trägt höchstwahrscheinlich zu einer Erweiterung des kulturellen Rahmens für Kunstgeschichte, Ästhetik und Kognitionspsychologie bei.

Vieles von dem, was wir an einem Kunstwerk interessant und spannend finden, lässt sich mit der derzeitigen Wissenschaft des Geistes nicht erklären. Doch alle bildenden Künste, von den urzeitlichen Höhlenmalereien aus Lascaux bis zu heutigen Performances, besitzen wichtige visuelle, emotionale und empathische Komponenten, die wir nun von einer neuen Ebene aus begreifen können. Ein besseres Verständnis dieser Komponenten bringt uns nicht nur den konzeptuellen Gehalt der Kunst näher, sondern erklärt auch, wie die Rezipienten ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu einem Kunstwerk in Beziehung setzen und damit Aspekte der Kunst in einen weiteren Wissenshorizont integrieren.

Während die Hirnforschung und die Geisteswissenschaften weiterhin ihre spezifischen Schwerpunkte verfolgen, möchte ich in diesem Buch einen Weg aufzeigen, wie die Wissenschaft des Geistes und die Geisteswissenschaften ihren jeweiligen Fokus auf ganz bestimmte gemeinsame Herausforderungen richten und in den künftigen Jahrzehnten den Dialog fortsetzen könnten, der als Suche nach einer Verknüpfung von Kunst, Geist und Gehirn in Wien um 1900 seinen Anfang nahm. Diese Aussicht hat mich darin bestärkt, Das Zeitalter der Erkenntnis mit einer weiter gefassten historischen Betrachtung zu beschließen, in der ich zeige, wie Wissenschaft und Kunst einander in der Vergangenheit beeinflusst haben und wie diese interdisziplinären Einflüsse in Zukunft unsere Kenntnisse und unsere Freude über die Wissenschaft wie auch über die Kunst bereichern könnten.

1 Szeps-Zuckerkandl, B., Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte, Stockholm 1939, S. 179.

TEIL EINS

Eine psychoanalytische Psychologie und Kunst der unbewussten Gefühle

Abb. 1-1.
Gustav Klimt, Adele Bloch-Bauer I (1907).
Öl, Silber, Gold auf Leinwand.

KAPITEL 1

DIE WENDUNG NACH INNEN: »WIEN 1900«

Im Jahre 2006 erwarb Ronald Lauder, ein Sammler österreichischer expressionistischer Kunst und Mitbegründer der Neuen Galerie, einem Museum für Expressionismus in New York City, für die stolze Summe von 135 Millionen Dollar ein einziges Gemälde – Gustav Klimts faszinierendes vergoldetes Porträt von Adele Bloch-Bauer, einer Angehörigen der Wiener Schickeria und Kunstmäzenin. Lauder sah Klimts Gemälde von 1907 zum ersten Mal im Museum des Oberen Belvedere, als er mit 14 Jahren Wien besuchte. Sofort zog ihn das Bildnis in seinen Bann. Es schien das Wien der Jahrhundertwende zu verkörpern – seinen Reichtum, seine Sinnlichkeit und seine Fähigkeit zur Innovation. Im Laufe der Jahre reifte in Lauder die Überzeugung, dass Klimts Porträt von Adele (Abb. 1-1) eine der großen Darstellungen des Mysteriums der Frau sei.

Wie die Elemente von Adeles Kleid belegen, war Klimt wahrhaftig ein versierter dekorativer Maler des Jugendstils im 19. Jahrhundert. Das Gemälde hat aber noch eine weitere, historische Bedeutung: Es ist eines der ersten Bilder Klimts, das mit der traditionellen Dreidimensionalität bricht und die Entwicklung zu einem modernen flächenhaften Raum vollzieht, den der Künstler mit leuchtenden Ornamenten schmückt. Das Gemälde offenbart Klimt als einen Erneuerer und maßgeblichen Vorreiter der österreichischen Moderne. Die Autoren Sophie Lillie und Georg Gaugusch beschreiben Adele Bloch-Bauer I folgendermaßen:

[Klimts] Gemälde gab nicht nur Bloch-Bauers unwiderstehliche Schönheit und Sinnlichkeit wieder. Seine komplizierte Ornamentik und exotischen Motive kündeten vom Aufdämmern der Moderne und einer Kultur, die bereit war, sich radikal eine neue Identität zu formen. Mit diesem Gemälde schuf Klimt eine säkulare Ikone, die im Wien des Fin de Siècle für die Hoffnungen einer ganzen Generation stehen sollte.2

Mit diesem Gemälde verabschiedet sich Klimt von dem seit der frühen Renaissance immer intensiver verfolgten Bestreben der Maler, die dreidimensionale Welt möglichst realistisch auf eine zweidimensionale Leinwand zu bannen. Wie andere moderne Künstler, die sich mit der Erfindung der Fotografie konfrontiert sahen, suchte Klimt neuere Wahrheiten, die sich nicht von der Kamera einfangen ließen. Er und insbesondere seine jüngeren Protegés Oskar Kokoschka und Egon Schiele wandten den Blick nach innen – fort von der dreidimensionalen Außenwelt, hin zum multidimensionalen inneren Selbst und zum Unbewussten.

Über diesen Bruch mit der künstlerischen Vergangenheit hinaus zeigt uns das Gemälde den Einfluss der modernen Forschung, vor allem der modernen Biologie, auf Klimts Kunst und in erheblichem Maße auch auf die Kultur von »Wien 1900«, der Epoche von 1890 bis 1918. Wie von der Kunsthistorikerin Emily Braun dokumentiert, las Klimt Darwin; ihn faszinierte die Struktur der Zelle – des wichtigsten Bausteins allen Lebens. So sind die kleinen ikonografischen Bilder auf Adeles Kleid nicht einfach dekorativ, wie andere Bilder der Jugendstil-Epoche. Sie sind vielmehr Symbole männlicher und weiblicher Zellen – rechteckiger Spermien und ovoider Eizellen. Diese biologisch inspirierten Fruchtbarkeitssymbole sollen eine Verbindung zwischen dem verführerischen Gesicht des Modells und ihrer voll erblühten Fähigkeit zur Fortpflanzung herstellen.

2 Lillie, S. und G. Gaugusch, Portrait of Adele Bloch-Bauer, New York 1984, S. 13.

Abb. 1-2.
Hans Makart, Kronprinzessin Stephanie (1881).
Öl auf Leinwand.