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Felix Mitterer: Verkaufte Heimat

Felix Mitterer

Verkaufte Heimat

Eine Südtiroler Familiensaga
von 1938 bis 1945

Drehbuch

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem ORF
und dem RAI-Sender Bozen

© 1989
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7491-9

Umschlaggestaltung: Heinz Hauser unter Verwendung eines Standphotos von Petro Domenigg

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhalt

1. Teil »BRENNENDE LIEBE«

MÄRZ 1938

MAI 1938

JÄNNER 1939

JULI 1939

OKTOBER 1939

NOVEMBER 1939

DEZEMBER 1939

31. DEZEMBER 1939

2. Teil »LEB WOHL, DU MEIN SÜDTIROL«

MÄRZ 1940

JUNI 1940

JULI 1940

DEZEMBER 1940

MÄRZ 1941

JULI 1943

SEPTEMBER 1943

OKTOBER 1943

NOVEMBER 1943

SEPTEMBER 1944

MAI 1945

OKTOBER 1945

DIE PERSONEN UND IHRE DARSTELLER

VORWORT

Wie kommt es, daß ein als besonders heimatverbunden geltendes Volk sich fast geschlossen entschließt, seine Heimat zu verlassen und in eine ungewisse Zukunft zu gehen? 86 Prozent der Südtiroler waren im Herbst 1939 offenbar dazu bereit, als sie bei der sogenannten Option für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit für die Auswanderung stimmten.

Da ich der Meinung bin, daß die Aufarbeitung unserer Geschichte etwas sehr wichtiges ist, um zu lernen, um Fehler nicht zu wiederholen, aber auch um die Gegenwart besser zu verstehen, habe ich mich schon lange auch mit diesem tragischen Kapitel in der Geschichte Südtirols auseinandergesetzt.

Ende 1985 kam von Dr. Franz von Walther (RAI Bozen) an den ORF die Anregung, einen Fernsehfilm über die Option zu drehen und 1989 zum 50jährigen Gedenken zu senden. Dr. Peter Mertz vom ORF schlug mich als Drehbuchautor vor. Nun begann eine langwierige Arbeit, die sich über zwei Jahre erstreckte. Studium von Literatur und Dokumenten, Interviews mit Zeitzeugen, Reisen. Bis in die Tschechoslowakei kam ich und sprach mit den Leuten, die damals von ihren Höfen vertrieben wurden, um Platz für Südtiroler Bauern zu schaffen.

Dann hatte ich eine Unmenge von Informationen und eine Unmenge von Material. Jetzt mußte aber eine Geschichte entstehen, jetzt mußte ich all die vielen Standpunkte und Positionen bestimmten Figuren zuordnen und mit ihnen und über sie das Leiden der damaligen Zeit so darstellen, daß der Fernsehzuschauer es nachempfinden und verstehen kann. Da gab es die Italiener und die Südtiroler, die »Dableiber« und die »Geher«, die Armen und die Wohlhabenden, die Nazis und die Faschisten, den großen Krieg und dieses kleine Volk, das von der Politik unterdrückt und manipuliert wurde, bis es nicht mehr wußte, wie ihm geschah.

Eines war mir wichtig: ich wollte versuchen, gerecht zu sein, ich wollte nicht wieder neue Gräben aufreißen. Ich versuchte auch die »Geher« zu verstehen, die »Dableiber« zu verstehen ist für einen unbeteiligten Außenstehenden ja sehr einfach nach 50 Jahren; sie hatten ja recht. Aber wie hätte man selber entschieden, damals? Wäre man nicht auch in die Propagandafalle der Nazis und Faschisten gelaufen? Noch heute, nach so langer Zeit, gibt es eine unsichtbare Kluft zwischen den »Gehern« und den »Dableibern«. Zuviel hat man sich gegenseitig zugefügt, damals. Besonders die Mehrheit der Geher der Minderheit der Dableiber. Man redet nicht gern drüber. Immer noch schmerzt die Wunde. Man muß darüber reden. Auch wenn es weh tut. Nur was ausgesprochen wird, kann überwunden, kann »verschmerzt« werden.

Im Frühjahr 1988 waren die beiden Drehbücher fertig, in der Regie Karin Brandauers wurden sie vom Herbst 1988 bis Frühjahr 1989 an Originalschauplätzen in Südtirol verfilmt: in Glurns, im Ultental, in Meran und Bozen.

Ich danke den Redakteuren der beteiligten Rundfunkanstalten, vor allem Dr. Peter Mertz (ORF) und Dr. Franz von Walther (RAI Bozen) sowie der Regisseurin Karin Brandauer für die gute Zusammenarbeit bei diesem großen und schwierigen Projekt. Dank auch den auskunftgebenden Südtirolern, besonders Hanna Goldmann sowie Anna und Josef Engl, und den gastfreundlichen Bürgern von gumvald (Mähren). Von der vielen Literatur, die ich studiert habe, soll als erste und wichtigste Unterlage für meine Arbeit das Doppelheft der Zeitschrift »Föhn« über die Option genannt werden, erschienen 1980, mit zahlreichen Dokumenten und Beiträgen von Leopold Steurer, Claus Gatterer, Friedl Volgger, Gerhard Mumelter und anderen.

Innsbruck, November 1989 Felix Mitterer

In der Druckausgabe sind der leichteren Lesbarkeit wegen die film-technischen Hinweise eines Drehbuchs wie einzelne Einstellungen (Totalen usw.) und Kamerapositionen gestrichen. Andererseits enthält das Buch auch jene Szenen, die im Film nicht vorkommen, da er sonst zu lang geworden wäre.

PERSONEN:

(Das angegebene Alter der Personen bezieht sich auf das Jahr 1938)

Bauernfamilie Tschurtschenthaler:

Altbauer (65)

Altbäuerin (55)

Hermann (35), Hoferbe

Anna (25), Kellnerin

Toni (21), Arbeiter

Michael (18), Gymnasiast

Paula (30), Frau von Hermann

Kinder der beiden: Siegfried (10), Helga (7), Leni (5)

Bauernfamilie Oberhollenzer:

Hans (45)

Rosa (40)

Kinder: Erwin (16), Berta (12), Peter (10), Lisl (7)

Südtiroler im Dorf:

Pfarrer (60)

Paul Kofler (50), Wirt und VKS-Ortsgruppenleiter

Sepp Rabensteiner alias Giuseppe Pietracorvo (45), Taglöhner

Kathl (40), seine Frau

Kinder der beiden: Georg (14), Alfons (10), Hanni (7)

Frau Gemaßmer (50), ehemalige Lehrerin

Italiener im Dorf:

Bürgermeister (Podestä) und Lehrer (45)

Gemeindesekretär (35)

Dario Nardelli (55), Wegmacher (Trentiner)

Ettore Magalone (25), Carabiniere

Sergio (25), Carabiniere

Vincenzo (30), Carabiniere

Maresciallo der Carabinieri (50)

Lehrerin (30)

Briefträger (45)

Frau des Bürgermeisters (40)

Frau des Maresciallo (45)

Vorarbeiter

weitere Carabinieri, Finanzieri, Milizsoldaten

Weitere Personen:

Peter Hofer (45), Landesführer des VKS

Heinrich Himmler (39), Reichsführer SS

Präfekt von Bozen

Generalvikar Pompanin von Brixen

Kanonikus

Reicher Bauer

1.  Wartender Mann

2.  Wartender Mann

Luis (55), Knecht

Zwei Burschen

Willi (23), Freund von Toni

Enzo (40), italienischer Bauer

Francesca (35), seine Frau — und neun Kinder

1.  Bauer

2.  Bauer

Älterer Dableiber

Deutscher Anwerber

Nordtiroler Unteroffizier

NSV-Frau

Innsbruckerin

1.  Innsbrucker

2.  Innsbrucker

Widerstandskämpfer (45)

CIC-Hauptmann, emigrierter Tiroler

In Mähren:

Milos (30), »Knecht«

Magdalena (16), Dienstmagd

Sudetendeutscher Bauernführer (50)

Sudetendeutscher Gendarm

Vater von Milos

Tschechischer Bub

Russischer Offizier

1. Teil

»BRENNENDE LIEBE«

MÄRZ 1938

SÜDTIROLER DORF. Tag. — Blick auf das Dorf. Man hört Mädchenstimmen die faschistische Hymne singen.

VOLKSSCHULE. — Auf der Schule steht in relativ kleinen Buchstaben: »Scuole elementari« und darüber in großen Lettern: »Noi sogniamo l'Italia romana« (Wir träumen vom Italien der Römer). Die italienische Fahne an einer Stange, die an der Schulmauer befestigt ist. Durch ein Fenster sieht man eine Mädchenklasse (7jährige), die stehend die Hymne singt. Nahe beim Fenster Helga Tschurtschenthaler, neben ihr Lisl Oberhollenzer, vor ihnen Hanni Rabensteiner. Helga singt nicht mit, Lisl singt lustlos, Hanni singt begeistert und trägt die Uniform der faschistischen Jugendorganisation Piccole Italiane. Durch ein anderes Fenster sieht man andere Schülerinnen und die vorne stehende italienische Lehrerin (30) mit städtischer, moderner Kleidung und modischer Frisur. Sie dirigiert freundlich und singt. Das nächste Fenster gehört zu einer Bubenklasse mit 10jährigen. In einer Fensterbank sitzt Siegfried Tschurtschenthaler, neben ihm Peter Oberhollenzer, vor ihnen Alfons Rabensteiner in der Balilla-Uniform (faschistische männliche Jugend).

BUBENKLASSE DER VOLKSSCHULE. — Man hört leise den Gesang der Mädchenklasse. Bilder von Mussolini und vom König an der Wand. Der italienische Lehrer (zugleich Podestä = italienischer Amtsbürgermeister) trägt faschistische Parteiuniform, hat in der Hand einen Zeigestab, mit dem er an die Stiefel klopft. Er geht durch die Bankreihen und diktiert einen italienischen Text, die Schüler schreiben diesen in ihre Heft. In der ersten Bank sitzt ein Sohn des Bürgermeisters in Balilla-Uniform.

BÜRGERMEISTER: (diktiert langsam auf italienisch) In der Schweiz mußte Mussolini, um sein Leben zu fristen, als Hilfsarbeiter am Bau arbeiten. In seinem Tagebuch berichtet er darüber: »Elf Stunden Arbeit am Tag, 32 Centesimi die Stunde, 121mal täglich schleppten wir die mit Steinen beladene Trage in den ersten Stock.«

VOR DEM GEMEINDEAMT — Der Wegmacher Dario (55) säubert eine Abflußrinne in der Straße von Schotter und Sand. Neben ihm ein kleiner, struppiger Hund. Dario ist fröhlich, singt ein trentinisches Volkslied. Kathl Rabensteiner und ihr Mann Sepp (sonntäglich gekleidet) kommen daher.

DARIO: Eh, ciao, Kathl! Ciao, Sepp!

KATHL: (italienisch) Guten Tag, lieber Dario! Wie gehts dir?

DARIO: (Dialekt mit Akzent) Ah, guat! Mir gehts immer guat! (Italienisch:) Solange die Sonne scheint!

Kathl und Sepp sind beim Eingang des Gemeindeamtes angelangt, Sepp hält inne.

KATHL: Was is denn? Jetz komm schon!

SEPP: Na, i mag nit, ostia! I tua des nit!

KATHL: Dio mio! Is des ein Gfrett mit dir!

Die beiden Carabinieri Ettore und Sergio gehen vorbei.

KATHL: (italienisch) Ah, guten Tag, die Herrn!

ETTORE: (freundlich, italienisch) Guten Tag, Frau Rabensteiner!

SEPP: Was glaubst, wie sich die Leut dann 's Maul über uns zerreißen!

KATHL: Ma che! Kann doch uns wurscht sein! Mir müssen leben! Du bist arbeitslos! Die andern gehn halt mit an Speck hin oder mit an Kilo Honig! Mir ham koan Speck, mir ham koan Honig! Jetzt kimm schon! Mir miaßen 's ja nit laut ausposaunen!

Kathl zieht Sepp ins Gemeindeamt. Über dem Tor steht »Municipio«, weiter oben in großen Lettern: »Mussolini ha sempre ragione!« (Mussolini hat immer recht!)

BUBENKLASSE DER VOLKSSCHULE. — Der Bürgermeister nimmt das Heft von Siegfried, schaut es an, sieht einige Fehler.

BÜRGERMEISTER: (redet nur italienisch) Steh auf!

Siegfried steht auf, der Bürgermeister schlägt ihm das Heft um die Ohren.

BÜRGERMEISTER: Du wirst nie Italienisch lernen! Du Barbar! Tschurtschenthaler! Was ist das für ein Name? Kein zivilisierter Mensch kann so einen Namen aussprechen!

Peter muß grinsen.

BÜRGERMEISTER: Was grinst du, Oberhollenzer? Glaubst du, du hast einen schöneren Namen?

Peter grinst weiter. Der Bürgermeister schaut wieder in das Heft Siegfrieds. Dort steht das Wort Centesimi, geschrieben mit einem Kurrentschrift-S.

BÜRGERMEISTER: Geh an die Tafel, Tschurtschenthaler!

Siegfried geht an die Tafel.

BÜRGERMEISTER: Schreib das Wort Centesimi!

Siegfried nimmt die Kreide, schreibt Centesimi, wieder mit Kurrentschrift-S. Peter sieht es, deutet Siegfried heftig das S in der Luft. Der Bürgermeister schaut Peter an, dieser zieht seine Hand sofort ein.

BÜRGERMEISTER: (zu Alfons) Alfonso!

Alfons geht zur Tafel, nimmt Siegfried die Kreide aus der Hand, schreibt das Wort richtig daneben. Siegfried bemerkt jetzt seinen Fehler.

BÜRGERMEISTER: Bravo, Alfonso! Setz dich!

Alfons setzt sich wieder, Peter schaut ihn verächtlich an, der Lehrer geht zu Siegfried, Peter gibt Alfons von hinten schnell eine Kopfnuß, der zuckt zusammen, macht eine drohende Gebärde gegen Peter. Der Bürgermeister zeigt auf das Kurrent-S, schaut Siegfried an.

BÜRGERMEISTER: Was ist das, Tschurtschenthaler?

SIEGFRIED: (auf deutsch) Des is ein S!

Der Bürgermeister stemmt die Fäuste in die Hüfte, Siegfried erschrickt.

SIEGFRIED: (auf italienisch) Entschuldigung, Herr Podestä! Das ist ein S!

BÜRGERMEISTER: Ist das ein lateinisches S?

SIEGFRIED: (redet nur mehr italienisch) Nein, ein deutsches!

BÜRGERMEISTER: Woher hast du das?

SIEGFRIED: Ich weiß es nicht!

BÜRGERMEISTER: Die Hand vorhalten!

Siegfried streckt die Hand aus, der Bürgermeister schlägt mit dem Stock darauf, Siegfried beißt die Zähne zusammen, läßt die Hand sinken.

BÜRGERMEISTER: Laß die Hand ausgestreckt!

Siegfried tut es.

BÜRGERMEISTER: Woher hast du dieses S? Wo hast du das gelernt?

SIEGFRIED: Ich weiß es nicht!

Der Bürgermeister schlägt wieder zu, Siegfried treten Tränen in die Augen.

PETER: (leise auf deutsch) Sauhund!

BÜRGERMEISTER: Was? Wer hat da gesprochen?

Niemand meldet sich, auch Alfons sagt nichts. Der Bürgermeister schaut wütend in die Klasse, schaut wieder Siegfried an.

BÜRGERMEISTER: Glaubst du, ich weiß es nicht, woher dieser Buchstabe kommt! Das ist die alte deutsche Schrift! Du lernst Deutsch! In der Geheimschule! Hab ich recht?

Siegfried antwortet nicht, der Bürgermeister schlägt ihm auf die noch immer ausgestreckte Hand.

GEMEINDEAMT — Der italienische Gemeindesekretär mit einer Liste in der Hand. Vor ihm Kathl und Sepp.

GEMEINDESEKRETÄR: (freundlich auf italienisch) Das ist die Liste! Sie können sich einen Namen aussuchen!

Kathl nimmt die Liste, gibt sie Sepp, dieser schaut sie an, Kathl schaut auch hinein, Sepp schüttelt den Kopf, legt die Liste wieder hin.

SEPP: (zu Kathl) I nimm doch nit an fremden Namen an!

Der Sekretär hat ihn verstanden.

SEKRETÄR: (italienisch) Wie heißen Sie?

SEPP: Rabensteiner! Josef Rabensteiner!

SEKRETÄR: (wiederholt langsam) Rabensteiner … Rabensteiner … Rabe … (Zu Kathl.) Rabe? (Macht Flatterbewegung) Rabe?

VOR DEM GEMEINDEAMT — Dario arbeitet.

STIMME DES BRIEFTRÄGERS: (italienisch) Nein, das hab ich nicht verdient! Das hab ich wirklich nicht verdient!

Dario schaut auf Der neue Briefträger kommt daher. Er ist Süditaliener, hat die Posttasche umhängen.

DARIO: (italienisch) Ah, unser neuer fliegender Bote! Was hast du denn, was schimpfst du denn?

BRIEFTRÄGER: (italienisch) Was ich schimpfe? Was ich schimpfe, fragst du? Ich kann meinen Beruf hier nicht ausüben! Wie kann ich hier meinen Beruf ausüben? (Zeigt Dario Briefe, auf denen die Adresse in Kurrentschrift geschrieben ist.) Ich kann das nicht lesen! Ich weiß nicht, wo die Leute wohnen! Ich kenn die Wege nicht! Wie soll ich diese Briefe zustellen?

DARIO: (absichtlich im Tiroler Dialekt) Ja, warum bist denn nit in Italien unten geblieben? (Italienisch:) Was machst du hier? Was hast du hier verloren?

BRIEFTRÄGER: (italienisch) Ja, glaubst du, ich bin freiwillig hier im Hochgebirge? Bei den Barbaren! Bei den Ostgoten!

DARIO: (italienisch) Ja, das glaub ich, daß du nicht freiwillig hier bist! Haben sie dich strafversetzt, was? Hast du die Post weggeschmissen, was? Wahrscheinlich kannst du nicht mal lesen!

BRIEFTRÄGER: (italienisch) Ach, leck mich, du Scheiße-Wegräumer! (Geht weiter.)

DARIO: (schreit ihm italienisch nach) Geh dort hin, wo du hergekommen bist, du Scheiß-Süditaliener! Sowas! Unter Kaiser Francesco Giuseppe hätte es sowas nicht gegeben, nein, bestimmt nicht! (Zum Hund:) Was, Sissi? Hab ich nicht recht?

GEMEINDEAMT — Sepp und Kathl vor dem Gemeindesekretär.

SEKRETÄR: Rabe! — Stein! — Corvo! — Pietra! (Strahlend:) Corvopietra! (Deutsch.) Gut?

SEPP: (deutsch) Was?

KATHL: Corvopietra! Des is die genaue Übersetzung! Klingt doch guat, oder?

SEPP: Corvopietra … Furchtbar klingt des!

SEKRETÄR: (italienisch) Pietracorvo! Das ist besser! (Deutsch:) Das ist schöner! Pietracorvo! Giuseppe Pietracorvo!

KATHL: Giuseppe Pietracorvo! Catarina Pietracorvo! (Italienisch zum Sekretär) Wundervoll!

Der Sekretär ist stolz, schaut erwartungsvoll Sepp an.

SEPP: Na, guat! (Zum Sekretär) Einverstanden! Der

Bürgermeister kommt herein.

SEKRETÄR: (italienisch) Gut! Sehr gut! (Trägt den Namen in eine Kartei ein.)

Kathl sieht den Bürgermeister.

KATHL: (italienisch) Ah, guten Tag, Herr Podestä!

BÜRGERMEISTER: (italienisch) Guten Tag!

SEKRETÄR: (freudestrahlend) Sie haben ihren Namen italianisieren lassen!

BÜRGERMEISTER: (italienisch) Bravo! Das freut mich! (Zu Sepp:) Wie heißen Sie?

SEPP: Rabensteiner! Äh — Pietracorvo! Giuseppe!

BÜRGERMEISTER: Pietracorvo! Gut! Klingt gut! Ihr Sohn ist mein Schüler, nicht wahr?

KATHL: Si! Alfonso!

BÜRGERMEISTER: (italienisch) Ein braver Schüler! Und bei der Balilla einer der eifrigsten! Das freut mich! Das freut mich wirklich! Sagen Sie, kann ich etwas für Sie tun? Ich würde gerne etwas für Sie tun!

KATHL: (lächelnd, italienisch) Na, sicher können Sie etwas für uns tun!

HINTERHOF IM DORF. — Siegfried Tschurtschenthaler (10) und Peter Oberhollenzer (10) schleppen in ihrer Mitte Alfons Rabensteiner (10) daher. Hinter ihnen Helga Tschurtschenthaler (7), Lisl Oberhollenzer (7), Berta Oberhollenzer (12) und Hanni Rabensteiner (7). Alle mit Schultaschen am Rücken, Alfons trägt seine Balilla-Uniform, Hanni die Uniform der Piccole Italiane. Alfons blutet aus der Nase. Hanni versucht, ihrem Bruder zu helfen, schlägt auf Siegfried ein.

HANNI: Laßts ihn aus! Auslassen, sag i!

Siegfried stößt Hanni weg.

BERTA: Geh, laßts ihn doch! Hast ghört, Peter? Er hat euch doch nix Roggen, Buchweizen …tan!

PETER: Misch di da nit ein!

Sie kommen an eine Senkgrube, Peter macht zwei Bretter auf Siegfried stößt den sich wehrenden Alfons in die Grube.

BERTA: Nit!

Siegfried und Peter lachen. Alfons sinkt bis zum Hals ein, das scharfe Gas nimmt ihm die Luft.

BERTA: So eine Gemeinheit!

PETER: (zu Alfons) Des hast jetzt davon, du walsche Fack!

HELGA: Walsche Fack!

Peter und Lisl, Siegfried und Helga laufen davon. Hanni weint, kniet sich zum Rand der Senkgrube, streckt ihre Hand aus, kann Alfons nicht erreichen, Berta kniet sich auch hin, reicht Alfons die Hand.

GASTHOF »SCHWARZER ADLER«. — Der Briefträger steht an der Schank, trinkt ein Glas Rotwein, der Wirt Kofler neben ihm. Sonst keine Gäste. Anna Tschurtschenthaler spült Gläser ab.

KOFLER: (ganz freundlich und deutsch zum Briefträger) Du faule Drecksau, du! Trottel, walscher! Nacha laß die Post halt da! I wer sie schon austeilen!

BRIEFTRÄGER: (italienisch) Was? Ich versteh leider nicht!

Anna muß das Lachen verhalten.

KOFLER: (italienisch) Gib her die Briefe! Ich teil sie aus!

BRIEFTRÄGER: (italienisch) Danke! Vielen Dank, Herr Kofler!

Der Briefträger holt das Paket Briefe aus seiner Tasche, gibt sie dem Wirt, der schaut sie durch.

KOFLER: Mahnungen! Lauter Mahnungen! Von der Bank! Vom Finanzamt! Wenn des so weitergeht, mach ma alle fertig! Verfluachte Sauwirtschaft, walsche! (Zum Briefträger) Was, du Hosenscheißer?

BRIEFTRÄGER: (grinst) Ja, ja!

Bei der Tür herein kommen Sepp und Kathl, letztere sehr zufrieden.

KATHL: Griaß enk!

KOFLER: (mag Kathl nicht) Griaß di, Sepp!

SEPP: Griaß di!

Anna mag Kathl auch nicht besonders, weil diese so italienerfreundlich ist. Kofler ist erstaunt, daß die beiden armen Leute am Werktag ins Gasthaus kommen. Kathl und Sepp setzen sich, Anna geht hin.

KATHL: So, Anna! Wie tuats?

ANNA: Du schaust so zfrieden aus! Habts was zum Feiern?

KATHL: Ja, hamma! Bring uns a halbe Roten! I bin die neue Schuldienerin, woaßt!

ANNA: So?

Anna sieht draußen Ettore und Sergio vorbeigehen. Ettore schaut her, sieht Anna, lächelt, salutiert leicht. Anna wendet sich unwillig ab. Ettore schaut traurig.

ANNA: (zu Kathl) No, des is ja der richtige Posten für di! Du redest ja eh gern walsch!

KATHL: Was willst damit sagen?

ANNA: I will damit sagen, daß die alte Schuldienerin entlassen worden is, weil sie mit'n Herrn Lehrer und Bürgermeister alleweil nur Deutsch gredet hat! Und des mag der Herr Bürgermeister nit!

KATHL: Tua mi bittschön nit ausrichten, Anna! Man muaß schaun, wia ma durchs Leben kimmt! Wir ham drei Kinder zum Derhalten!

ANNA: Geht mi ja eh nix an! Also, a halbe Roten, hast gsagt

Anna geht weg, Sepp ist beschämt, blickt zum Fenster hinaus, sieht etwas.

SEPP: Ja, was ist denn des?

Kathl schaut auch. Alfons kommt dreckig bis zum Hals die Straße entlang, neben ihm geht mit einigem Abstand Hanni und weint.

VOR DEM GASTHOF »SCHWARZER ADLER«. — Alfons trottet dahin, Hanni neben ihm. Sepp und Kathl kommen aus dem Gasthaus. Ein eisernes Gasthausschild mit einem schwarzen Adler. An der Wand steht: »Albergo«.

KATHL: Alfons!

Alfons bleibt stehen, dreht sich um. Hanni läuft zur Mutter, drückt sich weinend an sie.

SEPP: Was hat denn gmacht, Alfons?

ALFONS: In die Surgruaben hams mi gschmissen!

SEPP: Wer? Wer hat des gmacht?

Alfons antwortet nicht, will es nicht sagen.

KATHL: (schreit) Carabinieri! He, Carabinieri!

Ettore und Sergio hören den Ruf, sie drehen sich um, kommen zurück. Sergio hält sich die Nase zu, weil Alfons so stinkt! Kathl deutet auf Alfons.

KATHL: (deutsch) Da, schauts euch des an! Schauts euch de Schweinerei an!

ETTORE: (deutsch) Was ist passiert?

Anna schaut aus dem Gasthausfenster, Kofler erscheint in der Tür.

KATHL: In die Surgruaben hams ihn gschmissen!

ETTORE: Scusi, ich versteh nicht!

KATHL: (italienisch) In die Scheiße haben sie ihn geworfen! Weil er eine Balilla-Uniform anhat!

Kofler schaut finster. Für ihn ist Kathl eine Verräterin. Er spuckt aus.

ETTORE: (zu Alfons auf deutsch) Wer ist gewesen?

ALFONS: Des sag i nit! De der wisch i schon no!

ETTORE: Scusi, ich versteh nicht!

ALFONS: (italienisch) Das mach ich selber! Ich brauch dazu keine Carabinieri!

ETTORE: (italienisch) Gut. Wie du willst.

Ettore dreht sich um, geht weg, Sergio folgt ihm, Anna schaut Ettore nach.

SERGIO: (im Weggehen) Warum redest du Deutsch mit ihnen? Wir haben den Befehl, ausschließlich Italienisch mit ihnen zu reden! Sonst lernen sie es nie!

EITORE: Ach, laß mich in Ruh!

SEPP: (zu Kathl) Des hast jetzt davon! Dio cane! I war dagegen, daß er zu der Scheiß-Balilla geht!

KATHL: Mensch na, Sepp! Sie kriegen die Schülbücher gratis, wenn sie bei der Balilla sind! (Deutet auf die Uniform von Alfons:) Sie ham a Gwand, des nix kost!

SEPP: (verbittert) Ja, is ja eh wurscht! — Wir ham jetzt an neuen Namen, Kinder! Wir hoaßen nimmer Rabensteiner! Pietracorvo hoaß ma jetzt! Merkts euch des! Pietracorvo!

KOFLER: Oha! So is des!

Sepp geht zornig weg. Alfons schaut ihm verzweifelt nach, reißt sich plötzlich mit Tränen in den Augen den Schulranzen herunter, zieht den Uniformrock aus, wirft ihn von sich.

BERGWEG. — Hier heroben liegt noch Schnee. Siegfried und Helga Tschurtschenthaler sowie Peter und Lisl Oberhollenzer gehen mit ihren Schultaschen am Rücken bergauf Berta Oberhollenzer kommt ihnen nach, schimpft mit ihrem Bruder Peter, der schimpft zurück.

Eine Gruppe Finanzieri kommt ihnen entgegen, einer macht Spaß mit Helga, geht weiter, Helga zeigt ihnen die Zunge nach, Siegfried macht ihnen die Faust, schlägt dabei mit der linken Hand in die rechte Ellbogenbeuge, wie er es bei den Italienern als Zeichen der Verachtung gesehen hat.

VOR DEM OBERHOLLENZERHOF — Vor dem Hof stehen der Bauer Hans (45), seine Frau Rosa (40), der Sohn Erwin (16) und der Knecht Luis (55) mit Rucksack und Stock. Der Haushund daneben. Hans gibt dem Knecht gerade die Hand.

HANS: Vergelt's Gott für alles, Luis! Und nix für unguat! Es tragt oanfach koan Knecht mehr!

Luis nickt mit unbewegtem Gesicht.

ERWIN: Gehst am gscheitesten ins Deutsche Reich! Da findest leicht a Arbeit!

Luis nickt, dreht sich um und geht davon. Sie schauen ihm nach. Der Haushund folgt ihm. Luis geht auf den Tschurtschenthalerhof zu, der in der Nähe liegt und größer ist. Die Oberhollenzers gehen ins Haus zurück.

VOR DEM TSCHURTSCHENTHALERHOF — Luis geht unterhalb des Tschurtschenthalerhofes vorbei. Der Weg führt von da ins Tal. Der Hund folgt ihm. Nach einer Weile bleibt Luis stehen, schaut zu Rex, dieser bleibt auch stehen und blickt erwartungsvoll Luis an.

LUIS: Jetzt muaßt hoamgehn, Rex. I kimm nimmer, woaßt.

Luis geht weiter, der Hund schaut ihm nach, folgt ihm dann wieder.

LUIS: (bleibt stehen) Geh hoam, Rex! Geh schon!

Der Hund gehorcht nicht, Luis schlägt verzweifelt mit dem Stock nach ihm.

LUIS: Geh schon!

Der Hund weicht aus, bleibt zurück, setzt sich hin, schaut Luis nach, Luis blickt traurig zu ihm zurück. Die Kinder kommen von unten herauf

BERTA: Wo gehst denn hin, Luis?

Luis kann nicht antworten, weil er sich das Weinen verbeißen muß, und er geht davon, um nicht vor den Kindern in Tränen auszubrechen. Die Kinder schauen Luis nach, drehen sich dann um und gehen weiter. Peter, Berta und Lisl gehen hinüber zum Oberhollenzerhof, Siegfried und Helga zum Tschurtschenthalerhof Der Hund sitzt immer noch da und schaut Luis nach.

BERTA: Rexi, kimm!

Der Hund wendet den Kopf zurück.

STUBE IM TSCHURTSCHENTHALERHOF — Um den Tisch sitzen beim Mittagessen der Altbauer (65), die Altbäuerin (55), der Jungbauer Hermann (35), seine Frau Paula (30), die Tochter Leni (5) und die ehemalige Lehrerin, Frau Gemaßmer (50). Neben dem Altbauern zwei Krücken (sein linkes Bein ist untauglich). Bei der Tür herein kommen Siegfried und Helga. Sie sehen die Lehrerin am Tisch. Siegfried verzieht das Gesicht.

SIEGFRIED: (murmelt) Mama mia!

HERMANN: Was is denn des, ha? Ihr habts euch nach der Schul nit im Dorf herumzutreiben! Wie oft soll i des no sagen?

Siegfried und Helga stehen schuldbewußt da.

HERMANN: Dafür gibts heut koa Mittagessen!

PAULA: Jetzt geh, Hermann!

HERMANN: Nix, Hockts euch auf die Ofenbank!

PAULA: Jetzt sagts amal schön Grüß Gott zum Fräulein! Helga

geht hin, gibt der Lehrerin die Hand.

HELGA: Grüß Gott, Fräulein Lehrerin!

FRAU GEMASSMER: Griaß di, Helga!

SIEGFRIED: Grüß Gott, Fräulein Lehrerin!

FRAU GEMASSMER: Griaß di, Siegfried!

Hermann zeigt auf die Ofenbank, Siegfried und Helga gehen hin, nehmen ihre Schultaschen ab, setzen sich auf die Bank, schauen den anderen beim Essen zu. Eine Weile Schweigen.

SIEGFRIED: Woaßt, Vater, es hat was mit dem Rabensteiner Alfons geben! Deswegen samma spat dran!

HERMANN: Was hats geben?

SIEGFRIED: Der tuat immer dem Lehrer so schön! Zum Speiben is des! Hamma ihn in die Surgruaben gschmissen, samt seiner BalillaUniform, der Peter und i!

Hermann muß grinsen.

HERMANN: So? In die Surgruaben?

Siegfried nickt.

HELGA: Bis zum Hals is er drinnengsteckt!

HERMANN: (deutet versöhnt) Also!

Siegfried und Helga laufen zum Tisch, setzen sich, greifen zu.

ALTBÄUERIN: Des habts guat gmacht, Siegfried!

Siegfried grinst, ißt heißhungrig. Paula schaut vor sich hin, schaut Siegfried an, schlägt ihm plötzlich mit der flachen Hand über den Haarschopf

PAULA: I find des überhaupt nit guat!

HERMANN: A Buabenstreich, Mensch!

Paula antwortet nicht, ißt weiter. Siegfried nimmt den Schlag nicht tragisch.

LEHRERIN: Wie gehts in der Schule?

SIEGFRIED: (grinsend) Schlecht!

LEHRERIN: So? Das ist aber nicht gut! (Schaut Hermann an.)

HERMANN: An mir finden S' koa Hilf, Frau Lehrerin! Mir is des gleich, wenn sie in der walschen Schul nix lernen!

Paula schüttelt den Kopf

FRAU GEMASSMER: Sie müssen lernen! Auch in der italienischen Schule! Sie bleiben sonst Analphabeten!

HERMANN: Was bleiben sie?

FRAU GEMASSMER: Sie müssen Lesen und Schreiben und Rechnen lernen! Wir leben in Mitteleuropa! Im Jahr 1938! Wir können doch nicht um 200 Jahre zurückfallen!

ALTBÄUERIN: Bevor die Walsch lernen, is es gscheiter, sie lernen gar nix!

FRAU GEMASSMER: Nein, umgekehrt! — Versteht ihr denn nicht? Ich kann euren Kindern nicht genug beibringen, in den paar Stunden im Monat!

Hermann antwortet nicht.

PAULA: Die Frau Lehrerin hat recht, Hermann!

HERMANN: Ach was! (Klopft auf den Tisch.)