Kindheit und Jugend erweisen sich zunehmend als störanfällig. Zum besseren Verständnis der Kinder und Jugendlichen in Pädagogik und Psychotherapie erschien es uns (E.H.; H.H.) daher nach der Veröffentlichung unseres gemeinsamen Buches „Psychische Störungen in Kindheit und Jugend“ im Jahre 2001 notwendig, einzelne Störungsbilder konkreter zu betrachten. Das Problem der AD(H)S erwies sich dabei als besonders dringlich.
Die teilweise weitreichenden öffentlichen Diskussionen zur Verursachung der AD(H)S sowie die massiven Probleme mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen in den pädagogischen Arbeitsfeldern und in der Psychotherapie haben uns dazu motiviert, mit diesem Buch engagiert Stellung zu beziehen sowie Anregungen und Ideen für die pädagogische und psychoanalytische Praxis zu entwickeln. Unsere Erfahrungen zeigen, dass wir AD(H)S psychoanalytisch verstehen und behandeln können. Mit diesem Buch möchten wir darlegen, dass einem Störungsbild wie AD(H)S spezifische intrapsychische und interpersonale Konflikte und Strukturdefizite zugrunde liegen. Mögliche organische Beeinträchtigungen sind nur als eine Vulnerabilität neben anderen zu sehen. Sie können verstanden und im pädagogischen Alltag sowie in psychoanalytischen Behandlungen bearbeitet werden.
Nach einer kurzen Darstellung der Symptome und der Internationalen Klassifikationen in Kapitel 1 erläutern wir in Kapitel 2 die Diskussion um organische Verursachungen und stellen dieser Diskussion das psychoanalytische Konfliktmodell gegenüber. In Kapitel 3 werden das Forschungsprojekt der Mitautorin (E.H.) und empirische Daten über Diagnose, Familiensituation, Schwangerschaft, frühe Entwicklung, Sprachentwicklung, Schulleistungen, Verhaltensauffälligkeiten, Ritalin und weitere Therapieerfahrungen der am Projekt teilnehmenden Jungen und Mädchen dargestellt. Sieben Familiensituationen betroffener Kinder werden dann in Kapitel 4 exemplarisch beschrieben und interpretiert. Kapitel 5 versucht, am Beispiel von vier Familien die Dynamik bei Jungen und Mädchen mit Hyperaktivität gegenüber Jungen und Mädchen ohne Hyperaktivität herauszuarbeiten. Im Anschluss folgt in Kapitel 6 eine psychoanalytische Betrachtung der AD(H)S als eine Mentalisierungs-, Symbolisierungs- und Spielstörung. In Kapitel 7 werden an ausführlichen Fallbeispielen die zentralen Konflikte und strukturellen Störungen, die aus psychoanalytischer Sicht einer AD(H)S zugrunde liegen, aufgezeigt. Die zentralen Konflikte sehen wir dabei in Bindungs- und Trennungsstörungen, Störungen der Selbst- und Objektabgrenzung (Individuationsstörung), in einer Sexualisierung und Aggressivierung als Abwehrleistung und in einem Reizschutz gegen Depression.
Da wir AD(H)S nicht als „individuelle Pathologie“, sondern auf dem Hintergrund veränderter soziokultureller Verhältnisse betrachten, werden wir in Kapitel 8 den Einfluss der unserer Meinung nach maßgeblichen gesellschaftlichen Veränderungen, wie Entödipalisierung und das Fehlen des „Nein“ in der Erziehung, diskutieren. Die Eltern sind nach psychoanalytischem Modell nicht „schuld“ am Entstehen der AD(H)S ihrer Kinder, sie sollten aber nach Möglichkeit ihren Anteil in Erziehung und Familiendynamik reflektieren. Da ein Einfluss dieser beiden Aspekte oft verleugnet wird, kommt es unserer Beobachtung nach zu einer ungenügenden Betrachtung der Elemente „Erziehungsstil“ und „Familiendynamik“, was die gesellschaftlich dominierende Suche nach einer organischen Ursache der „Krankheit“ erklären mag.
In einem psychoanalytischen Buch über AD(H)S darf eine kritische Analyse des Ritalinkonsums nicht fehlen. Anhand ethnopsychoanalytischer Überlegungen über den rituellen Umgang mit Drogen in matrilinearen Kulturen soll in Kapitel 9 die spezielle Funktion des Ritalins für die psychische Entwicklung und Konfliktabwehr kritisch hinterfragt werden. Unterstützt wird diese Frage nach der Funktion des Ritalins durch Vignetten und die Analyse eines Fallbeispiels. Dabei wird unsere Einschätzung deutlich, dass das Geben von Ritalin ein Versuch ist, die fehlende väterliche Funktion zu ersetzen.
In Kapitel 10 wird die psychoanalytisch-pädagogische Behandlung eines Mädchens mit AD(H)S dargestellt, und Kapitel 11 setzt sich anhand der psychoanalytischen Therapie eines Jungen mit AD(H)S mit behandlungstechnischen Fragen auseinander.
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie empfehlen zur Behandlung einer AD(H)S ausschließlich Medikation mit Stimulanzien sowie Verhaltenstherapie (2003). Lediglich zur „Bewältigung der familiendynamischen Probleme“ wird auf aufdeckende Verfahren hingewiesen. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass viele Kinder mit der ärztlichen Diagnose „hyperkinetische Störung“ inzwischen in psychoanalytische Therapien kommen. Vermutlich streben immer mehr Eltern die psychoanalytische Behandlung an, weil sie ahnen, dass nur so zugrunde liegende Konflikte erkannt und aufgearbeitet werden können.
Die AD(H)S (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität) gehört heute zu den häufigsten Diagnosen im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich. Nach einer repräsentativen Umfrage unter Eltern sind nach deren Meinung 3–10 % aller Kinder betroffen, im Jugendalter nimmt die Symptomatik ab (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 4). Das Verhältnis Jungen : Mädchen wird in den verschiedenen Studien mit 3–9 : 1 angegeben (Knölker 2001, 16; Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 6).
Seit dem Buch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Nervenarztes Dr. Heinrich Hoffmann (1845) werden bewegungsfreudige „Zappelphilippe“ als Störenfriede im familiären und sozialen Raum betrachtet (Laehr 1875; Schüle 1877; Pick et al. 1904, zit. in Nissen 2005). In seinem Buch „Die Charakterfehler des Kindes“, 1891 erschienen, entwarf Jean Paul Friedrich Schulz in dem Kapitel „Das unruhige Kind“ bereits eine sorgfältig ausgearbeitete Psychopathologie des hyperkinetischen Syndroms und beschrieb eine gelegentliche Komorbidität mit ticartigen Erscheinungen (Nissen 2005, 356). Der Heidelberger Kinderpsychiater August Homburger rechnete die psychomotorisch unruhigen Kinder zu den „psychopathischen Konstitutionen“ und entwarf 1926 modellhaft ein komplettes Erscheinungsbild der ADHS-Störung gemäß F90.0 ICD-10 (zit. in Nissen 2005). 1932 beschrieben Kramer und Pollnow das Hyperkinetische Syndrom mit der folgenden Anamnese: In den ersten Lebensjahren habe sich das Kind noch ruhig verhalten, dann seien nach einem fieberhaften Infekt oder im Anschluss an epileptische Anfälle starke Unruhezustände aufgetreten, die immer heftiger wurden. Meist habe die Unruhe im dritten oder vierten Lebensjahr eingesetzt und ihren Höhepunkt im sechsten Lebensjahr erreicht. In der Pubertät habe sich die Bewegungsunruhe schließlich wieder zurückgebildet (zit. in Nissen 2005, 475). Die in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom wiesen so gut wie immer feststellbare organische Defizite auf, zumeist nach Krankheiten des Zentralnervensystems.
1947 schufen Strauß und Lethinen mit der „minimal brain damage“ ein Konzept, nach dem hypostasierte, jedoch morphologisch nicht verifizierbare Hirnschädigungen als Ursachen für motorische Unruhe und kindliche Neurosen vermutet wurden. Aufgrund des fehlenden Nachweises einer mit der Symptomatik korrelierenden Hirnschädigung vollzog man schließlich einen Begriffswechsel (Mattner 2002, S. 10): Der Begriff „damage“ wurde 1966 in „dysfunction“ umgewandelt, und die gesamte Bezeichnung lautete fortan „Minimal cerebral dysfunction“ oder kurz „MCD“. Der Begriff MCD wurde später meist synonym zum Hyperkinetischen Syndrom gebraucht.
Lempp sprach in diesem Zusammenhang von einem „frühkindlich exogenen Psychosyndrom“ (Nissen 2005, 444f.). Übrig geblieben ist davon der Begriff der so genannten Teilleistungsstörung als ein „hirnorganisches Psychosyndrom“, obwohl ein kausaler Zusammenhang nie nachgewiesen werden konnte. Über das Ende der Diagnose MCD schreibt Nissen, dass die leichte frühkindliche Hirnschädigung, „diese unzulässig überdehnte, ubiquitäre Diagnose“ darum schließlich überfällig wurde, „weil sie mit Prävalenzraten von 10 bis 30 Prozent in einen definitorischen Gegensatz zum Begriff Normalität geriet“ (ebd., 445). Derselbe Autor geht gemäß Einschätzung neuerer Untersuchungen von einer hirnorganischen Kerngruppe von höchstens 1 bis 2 Prozent aus. Wir können diesen Prozess der unzulässigen Überdehnung einer Diagnose wiederum bei der ADHS beobachten, wenn inzwischen von Prävalenzraten bis zu 10 % gesprochen wird (Knölker 2001).
Die heute gängigen diagnostischen Kriterien für AD(H)S werden nach dem DSM IV und der ICD-10 erstellt. Nach dem DSM IV sind diese wie folgt (Knölker 2001, 15):
A.1 Unaufmerksamkeit
(sechs oder mehr der folgenden Symptome)
A.2 Hyperaktivität und Impulsivität
(sechs oder mehr der folgenden Symptome)
Hyperaktivität
Impulsivität
B Symptomatik tritt vor dem 7. Lebensjahr auf
C Beeinträchtigungen durch diese Symptome in zwei und mehr Bereichen (Schule, Arbeitsplatz, zu Hause)
D Deutliche Hinweise für klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen
E Ausschluss
Die AD(H)S setzt sich nach dem DSM IV aus den drei Komponenten Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zusammen.
Nach der ICD-10 (Dilling u. a. 1993, 293ff.) wird eine Gruppe hyperkinetischer Störungen beschrieben, die charakterisiert sind durch einen frühen Beginn und überaktives, wenig moduliertes Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen. Das Verhalten ist situationsunabhängig und zeitstabil. Die Diagnose einer reinen Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität ist im Rahmen der Hyperkinetischen Störung der ICD-10 (Kategorie F 90.0) nicht möglich. Für sie sieht die ICD-10 eine Restkategorie F 90.8 vor, die jedoch völlig unspezifisch ist.
Verschiedene andere Störungen können laut ICD-10 (ebd., 293f.) hinzukommen: „hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und – eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich – zu Regelverletzungen, worauf sie mit den disziplinarischen Folgen konfrontiert sind. Ihre Beziehungen zu Erwachsenen sind oft von Distanzlosigkeit und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt; bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert werden. Eine kognitive Beeinträchtigung ist üblich, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung sind überproportional häufig.“
Weiterhin wird von sekundären Komplikationen wie dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl gesprochen. Begleitende Leseschwierigkeiten und andere schulische Probleme sind verbreitet.
Die Hauptsymptome sollten in mehr als einer Situation (zu Hause, Schule etc.) vorkommen. Die Überaktivität kann sich neben Herumlaufen und Aufstehen auch in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen oder im Wackeln, Zappeln u. Ä. äußern.
Neben der Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen kommt es gelegentlich zu Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsiver Missachtung sozialer Regeln. Schwierigkeiten, zu warten bis man an der Reihe ist, Lernstörungen und motorische Ungeschicklichkeiten treten gehäuft auf.
Neben den Hauptsymptomen werden von Döpfner/Schürmann/Frölich (1998, 2ff.) zusätzlich andere Auffälligkeiten beschrieben:
a) Soziale Probleme im Kontakt mit anderen Kindern
Viele hyperaktive Kinder verhalten sich anderen Kindern gegenüber zudringlich, unterbrechen deren Aktivitäten oder versuchen, diese zu dominieren und zu kontrollieren. Ein großer Teil zeigt zusätzlich Aggressivität gegenüber Gleichaltrigen. Auch in Gleichaltrigengruppen verletzen sie die Grenzen und entziehen sich den Regeln. Sie sind oft unbeliebt oder werden abgelehnt.
b) Oppositionelle Verhaltensstörungen
Die Kinder mit Hyperaktivität neigen zu einer deutlich verminderten Frustrationstoleranz mit Wutausbrüchen. Gehäuft treten oppositionelle Verhaltensstörungen mit aktivem Widersetzen gegenüber Anweisungen und Regeln von Erwachsenen auf. In der weiteren Entwicklung können auch Störungen des Sozialverhaltens mit dissozialen Verhaltensauffälligkeiten vorkommen.
c) Verminderte Intelligenzleistungen
Bezüglich verminderter Intelligenzleistungen gibt es widersprüchliche Untersuchungen.
d) Entwicklungs- und Schulleistungsdefizite
Nahezu alle Studien belegen Schulleistungsdefizite. Kinder mit ADHS erreichen geringere Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests.
e) Emotionale Auffälligkeiten
Es ist nach Döpfner/Schürmann/Frölich nicht verwunderlich, dass Kinder, die seit dem Kindergartenalter negative Rückmeldungen, Ablehnungen und Misserfolge erhalten, auch vermehrt emotionale Auffälligkeiten zeigen. Sie fallen durch mangelndes Selbstvertrauen, soziale Unsicherheiten, Ängste und depressive Befindlichkeiten auf. Von den Eltern werden hyperkinetische Kinder neunmal häufiger als ängstlich und depressiv beschrieben.
Den Verlauf hyperkinetischer Störungen während der Kindheit und im Jugendalter fassen Döpfner/Schürmann/Frölich (1998, 8ff.) wie folgt zusammen:
Viele hyperkinetische Kinder fallen bereits im Alter von drei Jahren durch Überaktivität, eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und oppositionelles Verhalten auf. Außerdem werden gehäuft Rückstände in der motorischen Entwicklung, der Sprachentwicklung und in der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung genannt.
Im Kindergarten- und Vorschulalter ist das hervorstechendste Merkmal die motorische Unruhe, Aufmerksamkeitsschwäche, erhöhte Aggressivität und eine erhöhte Rate an negativ-kontrollierenden Eltern-Kind-Interaktionen.
Im Schulalter steigern sich die Probleme. Hier zeigen sich vermehrt Störungen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen, relative Leistungsschwächen, beginnende dissoziale Verhaltensweisen (Lügen, Stehlen), Wutausbrüche und verminderte Selbstwertgefühle.
Hyperkinetische Kinder rufen in den Unterricht herein und hören nicht zu, wenn der Lehrer spricht. Hausaufgaben werden nicht oder unordentlich gemacht. Darüber hinaus ist ein erhöhtes Maß an Klassenwiederholungen, Ausschluss vom Unterricht, Schulverweisen sowie Schulabbrüchen zu beobachten (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 18).
Im Jugendalter kommt es eher zu einer Verminderung der motorischen Unruhe, dafür treten die Aufmerksamkeitsstörungen in den Vordergrund. Die Schule wird häufig mit einem niedrigeren Schulabschluss beendet.
Seit den 1970er Jahren geht man bei der Ursachensuche für AD(H)S von einer biochemischen Störung der synaptischen Überträgersubstanzen des Gehirns aus – eine Theorie, für die nach Mattner (2002, 11) bislang der empirische Beleg fehlt. Dass sich trotz des fehlenden Nachweises die Hypothese einer organischen Verursachung hält, bezeichnet Mattner als zunehmende „Medizinisierung“ abweichenden Verhaltens, das so zur individuellen pathologischen Kategorie wird.
Im Leitfaden für Kinder und Jugendpsychiatrie (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 10) wird auf die Kumulation von Störungen innerhalb bestimmter Familien hingewiesen, was auf eine genetische Verursachung schließen lasse. Adoptions- und Zwillingsstudien dienen der Untermauerung einer genetischen Hypothese. Die Autoren zitieren Studien von Edelbrock aus dem Jahr 1995 und von Gilles aus dem Jahr 1992. Dort wurde eine Konkordanz von 81 % bei eineiigen und 29 % bei zweieiigen Zwillingen ermittelt. Döpfner/Frölich/Lehmkul gehen von einer 70–91 %igen (ebd., 11) genetischen Bedingtheit bei der Eigenschaft Hyperaktivität-Impulsivität aus. Genetische Störungen bewirkten eine Störung des Dopamin-Stoffwechsels. Möglicherweise könnten jedoch auch Komplikationen während der Schwangerschaft, Exposition gegenüber toxischen Substanzen oder neurologische Erkrankungen als Ursache angeführt werden oder verstärkend wirken (ebd., 10). Familiären Belastungsfaktoren komme keine primäre ätiologische Bedeutung zu (ebd., 14), während psychosoziale Belastungen zum Schweregrad der Störung beitragen könnten, aber nicht primäre Ursache seien. Hyperkinetische Störungen verursachten negative Interaktionen zwischen Kind und Eltern, Erziehern, Lehrern etc. Inkompetentes Erziehungsverhalten und andere Belastungen verstärkten dann die Störung (ebd., 16).
Die Dopamin-Mangel-Hypothese gilt heute als Grundlage der medikamentösen Behandlung. Ihr zufolge besteht bei den ADHS-Patienten eine deutliche Zunahme der Dichte von Dopamin-Transportern. Es wird vermutet, dass aufgrund der erhöhten Anzahl von Dopamintransportern das ausgeschüttete Dopamin rascher in die Präsynapsen zurücktransportiert wird und extrazellulär weniger Dopamin zur Verfügung steht. Hüther (2001, 478ff.) kritisiert die Dopamin-Mangel-Hypothese. Dopaminmangel führe eher zu einem ruhigen, unauffälligen Verhalten. Demzufolge vertritt er eine Dopamin-Überschuss-Hypothese. Seiner Auffassung nach kann die festgestellte Erhöhung der Dopamin-Transporterdichte im Striatum Ausdruck einer verstärkten Ausprägung des dopaminergen Projektionsraumes und einer größeren Dichte dopaminerger Präsynapsen in den betreffenden Zielgebieten sein. Hüther spricht im Kindesalter von einer erhöhten Vulnerabilität. Allerdings hält auch er eine genetische Disposition für bedeutsam.
Hüther kritisiert die Vergabe von Methylphenidat, da das Ritalin die schon erhöhte Dopaminfreisetzung noch steigere. Die Verabreichung von Psychostimulanzien während der Phase der Ausreifung des dopaminergen Systems könne dazu führen, dass sich die dopaminerge Innervation der Zielgebiete weniger stark entwickle und zeitlebens weniger intensiv bleibe. Er warnt vor den Langzeitwirkungen bei Kindern (ebd., 481).
Hüther und Bonney (Hüther 2001; Hüther/Bonney 2002) gehen heute nicht mehr von einem einseitigen Ursache-Wirkungszusammenhang beim ADHS aus. Neuronale Spuren sind aus dieser Sicht nicht einfach nur Verursachung, sondern auch sekundär in Abhängigkeit von der Nutzung des Gehirns entstanden. Cerebrale Veränderungen können somit nicht nur auf eine Verursachung einer Verhaltenssauffälligkeit hinweisen, sondern auch Folge einer ADHS-typischen Nutzung des Gehirns sein. Das Gehirn entwickle sich nicht durch genetische Vorgaben allein, sondern auch durch Nutzung. Hüther geht von einer erfahrungs- und nutzungsabhängigen Plastizität des Gehirns aus. Das Gehirn reift durch Verschaltungen (Hüther 2001, 477). Cerebrale Strukturen entstehen durch Umweltreize und/oder als Folge einer Geninstruktion.
Die durch Nutzung entstandenen Verschaltungen (Hüther vergleicht neuronale Strukturen mit Autobahnen, die dafür sorgen, dass zwanghaft immer wieder die gleichen Situationen und Verhaltensweisen gesucht und ausgeführt werden) führen zu relativ festgefahrenen neuronalen Strukturen, die eine vielfältige Nutzung erschweren, aber auch lebenslanges Lernen möglich machen.
Konsequenz der organischen Verursachungshypothese ist der dramatische Anstieg der Verschreibung des Medikamentes Ritalin (siehe Kapitel 9). Nach Amft (2002, 37) besteht ein Glaubenskampf zwischen Befürwortern und Gegnern der Ritalin-Behandlung, es gehe aber auch um wirtschaftliche Interessen der Pharmaindustrie. Nur bei 3,3 % der Kinder mit nachweislich cerebraler Dysfunktion seien psychiatrische Auffälligkeiten gefunden worden, insofern müsse bei Kindern mit nicht nachweisbarer Dysfunktion der Anteil wesentlich geringer sein, möglicherweise gegen null gehen (ebd., 51).
Amft resümiert weiter: Es gibt Kinder mit ZNS-bedingten Aufmerksamkeitsproblemen. Der Nachweis einer cerebralen Dysfunktion beweist jedoch noch nicht den Zusammenhang mit den Aufmerksamkeitsproblemen.
Auch weitere Autoren betrachten die Erblichkeitshypothese als nicht nachweisbar, darunter Pozzi (2002, 522) und von Lüpke (2001) mit seiner gut belegten Kritik an der organischen Verursachungshypothese. Ohne Zweifel wirkt Ritalin. Nur ist das kein Beleg für die postulierte organische Verursachung oder die Existenz einer bestehenden Hirnfunktionsstörung (vgl. Amft 2002, 95).
In einem eindrücklichen Tierversuch wurde der Zusammenhang zwischen cerebralen Defiziten und der Umwelt deutlich gemacht. Das Ergebnis zeigte, dass Affen, Katzen und Hunde mit früh gesetzten cerebralen Läsionen später nur geringe neuropsychiatrische Schäden aufwiesen, weil offenbar subkortikale Gebiete die gestörten kortikalen Funktionen übernahmen. Dagegen traten bei den geschädigten Tieren unter Stressbedingungen wesentlich häufiger als bei anderen psychische und hyperkinetische Störungen auf. Es wurde vermutet, dass gestörte Schaltungen bzw. falsche „Verdrahtungen“ in einem ausgeglichenen Milieu relativ gut kompensiert würden, dagegen führte eine gestörte Umwelt leicht zu psychischen Dekompensationen (Prechtl 1973, zit. n. Nissen 2005).
Beruhten die Symptome der ADHS tatsächlich ausschließlich auf genetischen Beeinträchtigungen des Gehirns, wäre der Einfluss des Milieus, das macht der Versuch deutlich, dennoch eklatant. Amft begründet dies wie folgt (2002, 51): Cerebrale Dysfunktionen führen nicht zwangsläufig zu Verhaltens- und Entwicklungsproblemen, sie können in der Regel bei mindestens 75 % aller Kinder gut kompensiert werden. Zu fragen ist dann, ob nicht in erster Linie psychosoziale Faktoren als ursächlich dafür angesehen werden müssen, dass dies einem kleineren Teil der Kinder trotzdem nicht gelingt.
Offensichtlich ist das Milieu, in welchem Kinder derzeit leben, nicht optimal, um Vulnerabilitäten und die Folgen früher Beziehungsstörungen auszugleichen.
Die Komorbiditätshypothese besagt, dass ADHS häufig mit anderen psychischen Störungen einhergeht, wobei ADHS als ursächlich angesehen wird. Die psychoanalytische Konflikttheorie dagegen sieht eine psychische Störung als primär. Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität sind demzufolge Symptome eines psychischen Konfliktes.
Nach Döpfner/Frölich/Lehmkuhl (2000, 7) weisen bis zu zwei Drittel aller Kinder mit hyperkinetischen Störungen neben den Kernsymptomen weitere, so genannte komorbide Störungen auf. Im Einzelnen werden aufgeführt:
Ryffel-Rawak (2004, 33) betrachtet ADHS bei Frauen als eine Grundstörung, die, wenn sie nicht diagnostiziert und erkannt wird, zu Folgestörungen wie Depression führen kann. Die betroffenen Frauen seien in der Kindheit emotional labil, außerdem hypersensibel und bei hormonellen Schwankungen in der Pubertät folge oft eine Depression (ebd., 36ff). Sie sieht in Depressionen, Angst, Essstörungen und Suchtmittelabhängigkeit, Zwang und Somatisierung Begleiterscheinungen der ADHS (ebd., 41). Depressionen treten im Kindesalter bei ADHS häufig auf (ebd., 73).
Folglich wird als Behandlung Psychotherapie, Coaching und medikamentöse Behandlung vorgeschlagen (ebd., 142). Coaching (ebd., 141) liest sich wie ein lerntheoretisches Programm: Identifizierung von Schwierigkeiten, Formulierung von Plänen und Zielen, Strukturierung und Planung von Problemlösemöglichkeiten, Zeitmanagement, Kontrolle im Sinne der Selbstkontrolle, emotionale Unterstützung.
McFarlane und van der Kolk (2000) stellten fest, dass ADHS einen hohen Grad von Komorbidität mit der PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung) aufweisen würde. Sie zitierten in diesem Zusammenhang auch Putnam (1994), der festgestellt hat, dass in einer Gruppe sexuell missbrauchter Mädchen 28 % den diagnostischen Kriterien der hyperkinetischen Störung entsprochen hätten, im Vergleich zu 4 % einer nicht traumatisierten Kontrollgruppe. Bei keiner von 36 Studien über Kinder mit hyperkinetischer Störung, so bemängelten die Autoren, wurde eine mögliche Vorgeschichte mit eventueller Traumatisierung überhaupt in Erwägung gezogen (McFarlane und van der Kolk 2000, 54). McFarlane und van der Kolk bestätigten auch, dass traumatisierte Personen deshalb Symptome einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung zeigen würden, weil bei traumabezogenen Reizen leicht Übererregbarkeit auslösbar wäre und weil es dabei leicht zur mangelnden Fähigkeit käme, aufmerksam zu sein.
Psychoanalytisch gesehen haben wir es mit psychischen Störungen und den dahinter liegenden Konflikten zu tun. Das Aufmerksamkeitsdefizit resultiert sekundär aus der Verdrängungsleistung, der Hemmung von Ich-Aktivität durch Gegenbesetzung, was bei allen neurotischen Störungen zu finden ist. Die Hyperaktivität ist ein Symptom. Unserer Einschätzung nach haben wir es bei Kindern mit einer Depression, mit Angststörungen oder Aggressionsproblematik u. a. Störungen zu tun. Die Hyperaktivität kann als zentrales Symptom einer narzisstischen Störung gelten (vgl. Heinemann/Hopf 2001). Gerade eine Depression ist im Kindesalter nicht so klar zu erkennen wie im Erwachsenenalter. Psychische Konflikte werden durch vielfältigere Symptombildungen abgewehrt. Dies schließt nicht aus, dass in Einzelfällen auch organische Schädigungen hinzukommen können, die möglicherweise die Entwicklung mitbeeinflussen, allerdings werden diese nicht als monokausale Ursache verstanden.
Diese Aussagen werden von einer Untersuchung, die von Fonagy und Target (2001) durchgeführt wurde, unterstützt. Im Anna-Freud-Zentrum in London wurden 750 Fallberichte von Kindern und Jugendlichen katamnestisch untersucht, die von den dortigen Psychoanalytikern behandelt worden waren. Die beiden Autoren erfassten dabei eine Gruppe von Kindern mit „komplexer Psychopathologie“, die sich nur unzureichend mit den Kriterien des DSM IV, schon gar nicht mit der ICD-10, erfassen ließ. Jene Gruppe, die von den Untersuchern als Gruppe B bezeichnet wurde, wiesen als Komorbidität immer eine emotionale Störung auf. Kennzeichnend für diese Patientengruppe war auch, dass dramatische Affekte mit Verlangen nach sozialen Reaktionen im Vordergrund standen. Übliche Erscheinungen ihrer Frühentwicklung waren Neigung zum Anklammern, Hyperaktivität und Wutausbrüche. Bis zum Schulalter wiesen sie oft diagnostische Kriterien einer Hyperaktivitätsstörung mit mangelnder Aufmerksamkeit, Verhaltensstörungen, Trennungsangst sowie eine Verdrossenheitsstörung auf. Viele dieser Patienten wirkten ängstlich, launisch, reizbar, sogar explosiv. Die Autoren machen an dieser Stelle deutlich, dass die affektive Labilität widerspiegelt, wie kaleidoskopartig bei diesen Kindern das Selbstgefühl und das Gespür für andere ist.
Es ist darum erstaunlich, dass ADHS in der Regel immer noch als „primär biologisch determinierte Störung“ angesehen wird (Knölker u. a., 2000) und nicht – vor dem Hintergrund der aktuellen Psychosomatik als ein bio-psychosoziales Modell – als ein „Wechselspiel zwischen Leib und Seele einerseits, wiederum in einem Wechselverhältnis zur Umwelt, die den Menschen prägt und die von ihm geprägt wird“ (Ermann 2004, S. 17).
Nissen (2005) berichtet bei leichten frühkindlichen Hirnschädigungen von einer unverändert feststehenden Kerngruppe von 1–2 % (ebd., 445). DSM IV und ICD-10 fordern auch heute eindeutige Kriterien bei der Diagnose und Differentialdiagnose ein, die in der Praxis allerdings nur selten erfüllt werden. Die extreme Zunahme der ADHS ist in der Regel nicht auf bessere, sondern auf ungenauere Diagnosen zurückzuführen, in welchen, oft nach kurzer Symptombeschreibung, undifferenziert Bewegungsunruhe und ADHS gleichgesetzt wird, so als wäre jede Angst bereits eine Angstneurose. Hinzu kommt, dass die bekannte Tatsache oft übersehen wird, dass gleichen Symptomen mannigfache Verursacher zugrunde liegen können.
Da die Manuale lediglich Phänomene und keine Ursachen erfassen, kommt es zu unstimmigen Diagnosen. Bewegungsunruhe ist ein unspezifisches Reaktionsmuster. Was heute als ADHS diagnostiziert wird, ist darum in der Regel eine Sammeldiagnose zu Störungsbildern mit unterschiedlichen Ursachen. Diese reichen von prä- und perinatalen Schädigungen über Traumata, auch transgenerationale, zu frühen Störungen von Objektbeziehungen sowie Bindungsstörungen bis hin zu Entwicklungsstörungen durch Erziehung.
Aus psychoanalytischer Sicht haben wir es vor allem mit frühen Trennungs- und Bindungsstörungen, Individuationsstörungen, einer Sexualisierung und Aggressivierung sowie einer Abwehr gegen Depression zu tun. Bei Jungen überwiegt die manische Abwehr der Depression über Bewegungsunruhe, bei Mädchen (der so genannten ADS ohne Hyperaktivität) handelt es sich unserer Einschätzung nach um eine Depression (vgl. Kap. 5 und 7). An verschiedenen Fallbeispielen werden wir erläutern, dass die Diagnostik nach der ICD-10 aufgrund ihrer reinen Symptomorientierung zu kurz greift und zu aus psychoanalytischer Sicht falschen Verschlüsselungen führt. Gehen wir von den inneren Konflikten und den Abwehrleistungen des Kindes aus, kommen wir zu anderen diagnostischen Einschätzungen, die durchaus wiederum nach der ICD-10 verschlüsselt werden können (vgl. Kap. 7).
Konsequenz der unstimmigen Diagnosen ist, dass kein Behandlungskonsens besteht, die Kinder häufig von Fachfrau zu Fachmann überwiesen werden und vielerlei Umwege und Irrwege beschreiten müssen (vgl. Kap. 3, Tab. 27). Häußler (2002) sieht in dem häufig vorkommenden Weitergereicht-Werden von Helfer zu Helfer und dem Nirgends-Ankommen dieser Kinder die Wiederholung einer frühen (oft schon pränatalen) Ambivalenz.
Das Forschungsprojekt „Jungen und Mädchen mit AD(H)S“ wurde von der Mitautorin (E.H.) von 2001 bis 2002 durchgeführt. Das gesamte Forschungsprojekt bestand aus folgenden Teilen:
Insgesamt wurden 25 Grundschulen angeschrieben. Das Schreiben wurde an die Eltern weitergeleitet, die sich bei Interesse telefonisch bei der Universität melden konnten. Hiervon machten 43 Familien mit 37 betroffenen Jungen und 12 betroffenen Mädchen Gebrauch. Da ein Aspekt des Forschungsprojektes der Vergleich zwischen Jungen und Mädchen war, besuchten wir alle Familien mit betroffenen Mädchen und eine etwa gleiche Anzahl von Familien mit Jungen. Wir wählten 20 Familien aus, davon 9 Familien mit Jungen und 11 Familien mit Mädchen. Da einige Familien mehrere betroffene Kinder hatten, bestand die Stichprobe aus 16 Jungen und 11 Mädchen. Bei allen war bereits von offiziellen Stellen wie Kinderärzten, Schulpsychologen etc. eine AD(H)S diagnostiziert worden. In diesem Kapitel möchte ich die Antworten der Eltern zur frühkindlichen Entwicklung darstellen.
Folgende Themen wurden ausgewertet:
Die betroffenen Kinder |
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Tab 1: | Anmeldungen | |
Tab 2: | Geschlechtsspezifische Zusammensetzung der besuchten Kinder | |
Tab 3: | Alter | |
Tab 4: | Diagnose | |
Tab 5: | AD(H)S in der Familie | |
Tab 6: | Geschwister | |
Tab 7: | Familiensituation | |
Schwangerschaft und frühe Entwicklung |
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Tab 8: | Schwangerschaft und Geburt | |
Tab 9: | Frühe Entwicklung | |
Tab. 10: | Motorische Entwicklung | |
Sprachentwicklung |
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Tab. 11: | Sprachentwicklung | |
Tab. 12: | Zeitpunkt des ersten Sprechens | |
Tab. 13: | Sprachstörungen | |
Schule und Schulleistungen |
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Tab 14: | Schulart | |
Tab 15: | Schulleistungen | |
Verhaltensauffälligkeiten |
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Tab 16: |
Verhaltensauffälligkeiten in der Familie |
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Tab 17: | Verhaltensauffälligkeiten im Kindergarten | |
Tab 18: | Verhaltensauffälligkeiten in der Schule | |
Tab 19: | Schlafstörungen | |
Tab 20: | Psychosomatik | |
Tab 21: | Autoaggressives Verhalten | |
Tab 22: | Inhalte der Tagträume | |
Ritalin und Therapieerfahrungen |
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Tab 23: | Einnahme von Ritalin | |
Tab 24: | Dauer der Ritalineinnahme | |
Tab 25: | Wirkung von Ritalin nach Meinung der Eltern | |
Tab 26: | Wirkung von Ritalin nach Meinung der Kinder | |
Tab 27: | Therapieerfahrungen |
Tabelle 1: Anmeldungen
Tabelle 1 zeigt die prozentuale Verteilung zwischen Jungen (76 %) und Mädchen (24 %) bei den Anmeldungen zur Teilnahme am Forschungsprojekt. Die höhere Zahl betroffener Jungen wird bestätigt.
Tabelle 2: Geschlechtsspezifische Zusammensetzung der besuchten Kinder
Da wir nicht alle Familien besuchen konnten, nahmen wir mit einer Ausnahme alle Familien mit betroffenen Mädchen ins Projekt auf und wählten die Familien mit Jungen nach dem Zufallsprinzip aus. Mit 59 % Jungen und 41 % Mädchen war die Anzahl von Jungen und Mädchen in der Studie annähernd gleich.
Tabelle 3: Alter
Das Alter der betroffenen Kinder lag schwerpunktmäßig zwischen fünf und zehn Jahren, da wir nur Grundschulen anschrieben.
Tabelle 4: Diagnose
Tabelle 4 dokumentiert die deutliche geschlechtsspezifische Verteilung bei den Diagnosen ADS mit und ohne Hyperaktivität. Bei den Jungen hatten 94 % Hyperaktivitätssymptome, bei den Mädchen nur 18 %. Bei den Mädchen hatten 82 % die Diagnose ADS ohne Hyperaktivität, bei den Jungen nur 6 %.
Tabelle 5: AD(H)S in der Familie
Mehrfachnennungen möglich
Tabelle 5 zeigt, dass bei über 60 % der Jungen und über 70 % der Mädchen, bei denen AD(H)S diagnostiziert wurde, weitere Familienmitglieder von dieser Diagnose betroffen waren. Eltern, häufiger die Mütter, mit denen wir sprachen, waren der Meinung, selbst AD(H)S zu haben. Viele Eltern sahen dies als Beweis für eine organische Ursache an. Wenn 20 % – 38 % der Mütter meinten, selbst AD(H)S zu haben, so könnte dies allerdings nach der Konflikttheorie auch ein Hinweis auf psychische Ursachen oder auf eine Tradierung von Erziehungsstilen sein.
Tabelle 6: Geschwister
Wie Tabelle 6 zeigt, hatten etwa die Hälfte der mit AD(H)S diagnostizierten Kinder Geschwister, die diese Diagnose ebenfalls erhielten. Die familiäre Häufung wurde noch einmal bestätigt.
Tabelle 7: Familiensituation
Mehrfachnennungen möglich
Die Tabelle zur Familiensituation verdeutlicht, dass zumindest bei unserer Stichprobe – entgegen der landläufigen Meinung – die Eltern in der Regel (80 %) noch zusammenlebten. Was den Vater anbelangt, geht es hier mehr um eine psychische Abwesenheit. Allerdings muss angefügt werden, dass bei den Jungen in fast 40 % und bei den Mädchen in fast 20 % der Fälle die Väter auch real häufig abwesend waren, meist berufsbedingt. Auffällig ist auch, dass bei den Mädchen der Anteil der berufstätigen Mütter höher war.
Tabelle 8: Schwangerschaft und Geburt
Mehrfachnennungen möglich
Nur bei 55 % der Mädchen und 38 % der Jungen verlief die Schwangerschaft komplikationslos. Geburtskomplikationen gab es bei immerhin 72 % der Mädchen und 30 % der Jungen. Einerseits mag dies für eine organische Schädigung sprechen, es könnte aber auch auf ein erhöhtes Angstpotential auf Seiten der Eltern hinweisen, die sich in der frühen Entwicklung des Kindes vielleicht vermehrt Sorgen machten. Eine Bindungsstörung könnte die Folge der Komplikationen sein.
Tabelle 9: Frühe Entwicklung
Mehrfachnennungen möglich
Ein erheblicher Teil der Mädchen und Jungen zeigte bereits frühe Auffälligkeiten wie Schreien (28 % und 38 %), Schlafstörungen (70 %) und Zurückweisung von Körperkontakt (35 % und 19 %). Der Anteil von Mädchen und Jungen mit Krankenhausaufenthalten in der frühen Kindheit und der jeweiligen Zurückweisung von Körperkontakt ist etwa gleich hoch (36 % und 19 %). Besteht hier möglicherweise ein Zusammenhang im Sinne einer frühen Bindungsstörung?
Tabelle 10: Motorische Entwicklung
Mehrfachnennungen möglich
Auch die motorische Entwicklung war nur in etwa der Hälfte der Fälle altersgemäß. Abgesehen von den Problemen in der Feinmotorik, die lediglich von den Jungen berichtet wurden, waren die motorischen Auffälligkeiten nicht geschlechtstypisch verteilt. Ein recht hoher Prozentsatz der Kinder (38 % und 42 %) neigte zu Unfällen, was auf ein erhebliches autoaggressives Potential hinweist und damit auf eine depressive Problematik der Kinder.
Tabelle 11: Sprachentwicklung
Mehrfachnennungen möglich
Etwa die Hälfte der Kinder zeigten Sprachentwicklungsverzögerungen (SEV) oder Sprachstörungen.
Tabelle 12: Zeitpunkt des ersten Sprechens
Bei den sprachentwicklungsverzögerten Kindern fingen die Jungen deutlich später an zu sprechen als die Mädchen.
Tabelle 13: Sprachstörungen
Auch die Sprachstörungen sind deutlich geschlechtsspezifisch verteilt. Poltern und Dysgrammatismus traten nur bei den Jungen auf, eine Wortfindungsstörung nur bei den Mädchen, Stottern und Sigmatismus waren gleichmäßig verteilt.
Bei der Tabelle ist zu beachten, dass sie sich nur auf die Kinder mit Sprachstörungen bezieht, nicht auf die gesamte Stichprobe.
Tabelle 14: Schulart
Die Tabelle zur Schulart dokumentiert, dass wir uns auf Grundschulen konzentrierten.
Tabelle 15: Schulleistungen
Mehrfachnennungen möglich
Die Mädchen hatten deutlich mehr Schulleistungsstörungen als die Jungen. Durchschnittliche Schulleistungen zeigten nur 20 % der Mädchen und 30 % der Jungen. Da bei der Diagnose ADS ohne Hyperaktivität die gestörte Aufmerksamkeit im Vordergrund steht, ist der hohe Anteil der Mädchen nicht verwunderlich.
Tabelle 16: Verhaltensauffälligkeiten in der Familie
Mehrfachnennungen möglich
Auch die Verhaltensauffälligkeiten in der Familie zeigten, wie zu erwarten, deutlich geschlechtsspezifische Differenzen. Während die Mädchen eher als verträumt beschrieben wurden, so dominierten die Jungen bei physischer Aggression, provozierendem Verhalten oder beim Dominanzstreben. Verbale Aggressionen waren bei beiden Geschlechtern ungefähr gleich verteilt. Das Dominanzstreben der Jungen war eine Verhaltensauffälligkeit, die die Jungen immer wieder zu unbeliebten Kindern in Kindergruppen, zu Außenseitern machte.
Tabelle 17: Verhaltensauffälligkeiten im Kindergarten
Mehrfachnennungen möglich
Das Verhalten im Kindergarten wies bei den Mädchen eher ein Rückzugsverhalten auf, während die Jungen durch aggressives, dominierendes Verhalten und ihren Status als Außenseiter auffielen.
Tabelle 18: Verhaltensauffälligkeiten in der Schule
Mehrfachnennungen möglich
Die Verhaltensauffälligkeiten in der Schule zeigten, dass bei den Jungen das aggressive Verhalten, die Unruhe und ihr Außenseiterstatus im Vordergrund standen, bei den Mädchen Konzentrationsschwierigkeiten, Unordentlichkeit und Verträumtheit. Die Mädchen waren, vermutlich durch ihre Leistungsprobleme, in der Schule auch in stärkerem Maße zu Außenseitern geworden, als dies im Kindergarten der Fall gewesen war.
Tabelle 19: Schlafstörungen
Mehrfachnennungen möglich
Schlafstörungen wurden bei beiden Geschlechtern relativ gleich häufig genannt (Mädchen 65 % und Jungen 75 %). Beide Geschlechter suchten durch rhythmisches Schaukeln von den Eltern beruhigt zu werden (Einschlafen durch Schaukeln), die Jungen hatten vermehrt Alpträume. Auch das Schlafen im Ehebett war bei beiden Geschlechtern gleich verteilt und mit 45–50 % der Kinder auffällig hoch.
Tabelle 20: Psychosomatik
Mehrfachnennungen möglich
Bei den psychosomatischen Störungen wurde bei den Mädchen Neurodermitis und Asthma am häufigsten genannt. Über die Hälfte der Kinder beider Geschlechter litt unter psychosomatischen Störungen. Nach dem Konfliktmodell der Psychoanalyse ist dies ein deutlicher Hinweis auf Störungen der frühen Mutter-Kind-Interaktion.
Tabelle 21: Autoaggressives Verhalten
Mehrfachnennungen möglich
Bei den Autoaggressionen dominierten mit 55 % deutlich die Mädchen. Etwa 45 % von ihnen zeigten Symptome wie Kopfschlagen.
Tabelle 22: Inhalte der Tagträume
Mehrfachnennungen möglich
Die Inhalte der Tagträume der Mädchen konzentrierten sich mit 81 % deutlich auf das Thema Reiten und Pferde. Das Pferd stellt offenbar eine ideale Lösung für die Problematik der Mädchen dar. Es bietet motorische Sublimierungen, und es ist offensichtlich eine Art Übergangsobjekt. Die Beziehung zum Vater kann auf das Pferd übertragen werden. Das Pferd ermöglicht Bewegung (Autonomie) und kann – im Gegensatz zu den Eltern – beherrscht und kontrolliert werden.
Tabelle 23: Einnahme von Ritalin
Bei der Einnahme von Ritalin überwogen die Jungen mit etwa 70 % gegenüber den Mädchen mit 55 %. Der Anteil der Kinder, die Ritalin einnahmen, ist damit sehr hoch.
Tabelle 24: Dauer der Ritalineinnahme
In unserer Stichprobe nahmen die Jungen bereits über einen deutlich längeren Zeitraum Ritalin ein als die Mädchen.
Tabelle 25: Wirkung von Ritalin nach Meinung der Eltern
Mehrfachnennungen möglich
Die Wirkung des Ritalins war nach Einschätzung der Eltern deutlich positiv. Die Eltern beobachteten bei den Jungen in 70–80 % der Fälle eine Verbesserung der Konzentration und der Leistungen. Bei den Mädchen fiel die Beurteilung mit einer Verbesserung von 50 % deutlich niedriger aus.
Tabelle 26: Wirkung von Ritalin nach Meinung der Kinder
Mehrfachnennungen möglich
Die Kinder selbst schätzten die Wirkung des Ritalins wesentlich ungünstiger ein als die Eltern. Bei den Jungen lag die positive Einschätzung zwischen 20 % und 35 %, bei den Mädchen lediglich zwischen 15 % und 25 %. Die Einnahme von Ritalin wurde von den Eltern wesentlich positiver wahrgenommen als von den Kindern selbst.
Tabelle 27: Therapieerfahrungen
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Den betroffenen Kindern wurde eine Fülle von Therapien angeboten. Unter „Psychologischer Behandlung“ verbirgt sich eine Vielzahl von meist kurzen Beratungen. Eine kontinuierliche analytische Kindertherapie wurde nur bei einem Mädchen unserer Stichprobe durchgeführt.
Erschreckend war, dass nur 5 % der Jungen und kein Mädchen eine spezielle Förderung in der Schule erhielten. Die Eltern wurden mit den Problemen weitgehend allein gelassen und pilgerten von einer Therapie zur nächsten.
Bei über 60 % der betroffenen Jungen und über 70 % der Mädchen des im vorigen Kapitel beschriebenen Forschungsprojektes gaben die Eltern an, dass weitere Familienmitglieder von AD(H)S betroffen sind (vgl. Kap. 3, Tab. 5, 6). Bei Mädchen waren 35 % der Mütter und 9 % der Väter, bei Jungen 18 % der Mütter und 18 % der Väter der Meinung, selbst AD(H)S zu haben. Die meisten Eltern sahen dies als Hinweis auf eine organische Ursache. Es könnte sich aber auch um eine gemeinsame Abwehr im Sinne des Unbewusstmachens und Verleugnens von Konflikten handeln oder auch um eine Tradierung familiärer Erziehungsstile mit den sich daraus ergebenden inneren Konflikten.
Im überwiegenden Teil (80 %, vgl. Kap. 3, Tab. 7) der von uns besuchten Familien lebten die Eltern – entgegen der landläufigen Meinung – zusammen. Allerdings waren bei den Jungen in 40 % der Fälle, bei den Mädchen in 20 % der Fälle die Väter häufig abwesend, meist berufsbedingt. Bei den Mädchen arbeiteten 80 % der Mütter, bei den Jungen nur 55 %.