Dieses e-Book bietet den Leser eine Sammlung von Artikeln, die ich in den Jahren 2011 bis 2013 in Telepolis veröffentlicht habe. Die Artikel decken drei Themenbereiche ab: Kognitionswissenschaften, Mikroelektronik und Robotik. Jeder der Aufsätze spricht für sich, kann getrennt gelesen werden, ist aber doch mit den anderen Texten eng vernetzt. Wenn wir intelligente Maschinen bauen möchten, sollten wir als erstes die Intelligenz der Menschen und anderer Lebewesen unter der Lupe nehmen.
So beschäftigen sich die Texte über das menschliche Gehirn mit der Struktur und Vernetzung unseren Neuronen, mit Messungen der neuronalen Aktivität und mit dem "Human Brain Project", das erst neulich zu einem von zwei "flagship"-Projekten der EU auserkoren wurde. Meine Bedenken über den wissenschaftlichen Ansatz des Projektes sind immer noch aktuell.
Als Informatiker habe ich seit Jahrzehnten die rasche Entwicklung der Mikroelektronik und die Möglichkeiten, die sie bietet, verfolgt, um gerade intelligentes Verhalten in Maschinen nachzubauen. Das Mooresche Gesetz scheint sich immer wieder selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, um alle technischen Schwierigkeiten zu überwinden. Milliarden von elektronischen Komponenten verbergen sich bereits in kleinsten Rechenmaschinen. Das Problem ist aber nun ein anderes, nämlich die Energiezufuhr zu garantieren und die übermäßige Wärmeentwicklung unter Kontrolle zu bringen. An der Stelle bleibt das biologische Vorbild immer noch unerreicht.
Der dritte Teil über Robotik und KI gibt einen Einblick in die Arbeit, die in den letzten Jahren auf diesem Gebiet geleistet worden ist. Wir wären froh, mit Robotern die Eleganz eines Insekts bei der Bewältigung von Hindernissen zu erreichen. Wir können aber schon heute kleine und große Roboter - z.B. autonome Fahrzeuge - mit kognitiven Architekturen ausstatten, die eine effiziente und nützliche Funktionalität erlauben. Die Kapitel über Roboter, die lügen, bzw. über das Watson-System zeigen die zwei Seiten der Medaille: Wie weit die künstliche Intelligenz gekommen ist und wie weit entfernt sie doch noch vom Ziel bleibt. Es ist gesagt worden, dass die KI immer Richtung Horizont läuft, aber der Horizont bleibt weiterhin in der Ferne.
Der Leser möge einen beliebigen Pfad durch die Artikel in diesem eBook nehmen, so wie es Julio Cortazar mit "Rayuela" vorgeschlagen hat. Das eBook ist eine weite Landschaft von Themen, in der man einfach mit Hut und Stock spazieren gehen kann.
Raúl Rojas
Können Roboter lügen?
Essays zur Robotik und Künstlichen Intelligenz
Herausgeber: Florian Rötzer
Umschlaggestaltung & Herstellung: Michael Schuberthan
978-3-944099-92-7 (V1)
Copyright © 2013 Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG, Hannover
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Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG
Karl-Wiechert-Allee 10
30625 Hannover
Titel
Impressum
Vorwort
I. Kognition
Analoge versus Digitale Seele
Ich 1.0: Das Netzwerk des Nichts-Tuns
Eine kleine Welt im Kopf
Gedankenlesen im Zeitalter der Gehirnscanner
IBM vs. Blue Brain: Wettlauf der Himmelstürmer
II. Mikroelektronik
Der Stoff, aus dem Mikroelektronikträume sind
Mathematische Notbeatmung für das Mooresche Gesetz
Koomeys Gesetz
Rechnen auf Sparflamme
Zuse und Turing: Der Draht des Mephistopheles
III. Robotik und KI
Insekten sind Roboter
Autopie: Autonome Fahrzeuge für Car-Sharing
Die Angst des Roboters beim Elfmeter
Können Roboter lügen?
Warum "Watson" ein Durchbruch ist
Fußnoten
Über den Autor
Raúl Rojas González, geb. 1955 in Mexiko-Stadt, ist Professor für Informatik an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkt seiner Forschung sind Robotik/KI und Neuronale Netze. Mit den Fußball spielenden Robotern FU Fighters, die von ihm und seinem Team entwickelt wurden, konnte er zweimal im internationalen RoboCup in der Kategorie der Middle Size und Small Size League den Weltmeistertitel erringen. Vor einigen Jahren hat Rojas mit seinem Team ein fahrerloses Auto (Spirit of Berlin) konzipiert. 2011 stellte er ein neues Modell "MadeInGermany" vor, das auf einem VW Passat basiert und seitdem auf zahlreichen Fahrten im öffentlichen Straßenverkehr getestet wurde. Rojas ist aber nicht nur Computerwissenschaftler, sondern hat auch in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit der Arbeit "Zur Entstehungsgeschichte der Kritik der Politischen Ökonomie" promoviert.
Ray Kurzweil, der Tod und die Singularität
Bei einer Tagung in Brüssel hatte ich 2011 die Gelegenheit, über die etwas fernere Zukunft (ab 2060) mitzudiskutieren. Es war eine rein akademische Übung, da unsere kühnen Prognosen bis dahin längst vergessen sein werden. Man durfte also der Phantasie freien Lauf lassen. Die Zusammensetzung der Tagungsteilnehmer war dennoch etwas ungewöhnlich: Sie bestand zu einem Drittel aus Wissenschaftlern, einem Drittel Internet-Magnaten und einem Drittel Singularians.
Die zweite Gruppe von Diskutanten trifft man immer häufiger: Wer früh eine Million im Internet verdient hat, darf über alles reden, womöglich sogar über Kernphysik, auch wenn das eigene Webportal nur Schuhe vertreibt. Die Singularians haben aber die Konferenz eindeutig dominiert: Dort, wo Fachleute widerstrebend etwas über die nächsten zehn Jahre zu sagen wagen, überschlagen sich die Singularians mit Ankündigungen: Bis 2060 z.B. werden Computer viel intelligenter als Menschen sein, Nanotechnologie wird synthetische Biologie erlauben, wir werden menschliche Organe mit dem 3D-Drucker anfertigen können, Nanobots werden unseren Körper ständig reparieren und wir werden unser Bewusstsein auf Roboter "uploaden" können.
Der Tod wird gleich doppelt besiegt: Durch die Nanobot-Medizin werden wir nicht mehr altern; für den Fall der Fälle werden jedoch robotische Avatare bereitstehen unsere Gehirn-Software aufzunehmen, so dass wir in einem eisernen Körper weiterleben können. Je länger der Abend und abenteuerlicher die Vorhersagen, desto mehr Beifall gab es vom Publikum.
Die Singularität
Ray Kurzweil hat den Begriff der Singularität nicht erfunden aber popularisiert.[1] Die Singularität wäre der Zeitpunkt, ab dem Computer mehr logische Elemente (wegen des Mooreschen Gesetzes) als ein Menschengehirn enthalten. Für Kurzweil ist dies auch der Augenblick, ab dem Computer intelligenter als Menschen sein werden. D.h. die Kurve der maschinellen Intelligenz schneidet die Kurve der menschlichen und gerade dieser Knotenpunkt ist die viel gefeierte technologische Singularität. Ab da lässt sich die Zukunft der Menschheit kaum vorhersagen, da Computer sich weiter entwickeln, superintelligent werden und die Welt vollkommen umformen könnten.
Kurzweil hat in all seinen Büchern für diese Idee (man sollte besser sagen: für seine inbrünstige Hoffnung) begeistert geworben und mit Gleichgesinnten die Singularity University in Kalifornien gegründet, wo rund um diese Fragen unterrichtet und debattiert wird. Die Singularians bilden längst eine weltweite Bewegung, die ständig neue Anhänger gewinnt.
Kurioserweise sind viele der prominentesten Singularians Milliardäre. Beispielsweise der russische Krösus Dmitry Itskov, der kürzlich ein "Avatar-Projekt" mit dem Ziel gestartet hat, bis 2035 Roboter zu entwickeln, bei denen man seine Persönlichkeit "uploaden" kann. Bis 2045 könnte man sogar in einem Hologramm-Avatar weiterleben. Und auch da, wo nicht mal Kurzweil sich so weit aus dem Fenster lehnt, macht Itskov ernst: "Evolution 2045" ist außerdem eine politische Partei, die gegründet wurde, um diese Ziele mit aller Kraft durchzusetzen (als Partei vorläufig nur in Russland: www.2045.com).
Solchen Ankündigungen kann man einzig entnehmen kann, dass die Todesfurcht immer größer wird, je mehr Geld einige auf dem Konto haben. Die Legende besagt, dass paradierenden römischen Generälen "Memento Mori" ins Ohr geflüstert wurde, so dass sie die eigene Vergänglichkeit nicht vergessen. Für Singularians klingt "Memento Mori" eher als Appell: Bevor es so weit kommt, muss etwas geschehen.
Das Leib-Seele-Problem
Frappierend bei den Singularians ist, wie sie eigentlich zur traditionellen dualistischen Philosophie zurückgekehrt sind. Die westliche Philosophie ähnelt einem Schlachtfeld, auf dem seit Jahrhunderten die Frage der Beziehung zwischen Leib und Seele thematisiert wird.
Für René Descartes waren beide eindeutig unterschiedliche Substanzen. Und dies, weil man mit dem inneren Auge das Ich, die eigenen Gedanken, wahrnehmen kann, ohne jegliche Referenz zum Körper, so dass beides getrennte Sachen sein müssen. Dies führt im Endeffekt zur Frage des präzisen Mechanismus der Steuerung des Leibs durch die Seele. Descartes dachte, dass die Zirbeldrüse im Gehirn die Kommandostelle der Seele wäre (heute wissen wir, dass die Zirbeldrüse Melatonin produziert). Nach Descartes könnte der menschliche Körper rein mechanisch funktionieren, da Nervenbahnen nur Signale zum Gehirn übertragen und von diesem Befehle erhalten. In der Zirbeldrüse, dachte er, konzentrieren sich alle Signale und bewirken Änderungen im Gehirn. Gerade an dieser Stelle könnte deswegen die immaterielle Seele optimal wirken und an allen leiblichen Hebeln ziehen.
Glaubt man an eine körperlose Seele, die unsterblich ist, dann ist eine solche Lösung des Leib-Seele-Problems etwas zu platt, da am Ende irgendeine magische Wirkung der unstofflichen Seele über die Materie notwendig wird. Viel eleganter ist daher die Lösung von Leibniz, der einen vorherbestimmten Gleichklang zwischen Seele und Leib postulierte. Beide bewegen sich in Parallelwelten in einer "prästabilierten Harmonie" wie zwei Uhren oder Automaten, die synchron von Gott gestartet wurden. Anscheinend steuert die Seele den Körper, dies ist jedoch nur ein Trugschluss. Die getrennte Dimension der Seele nennt Leibniz sogar einen "geistigen oder formalen Automaten".[2] Und da Leibniz auch die Erfolge der Variationsrechnung kannte, bewegte sich die Welt am physikalischen Optimum, in der besten aller möglichen Bahnen (was Leibniz bald den Hohn von Voltaire bescherte).
Die Singularians beziehen sich bei ihrem Dualismus nicht auf Descartes, Leibniz oder gar Plato, sondern auf die heutige Computertechnologie. Diese bietet mit ihrer Trennung zwischen Hard- und Software eine ausgezeichnete Alternative für die Aufklärung des Leib-Seele-Problems. Der Leib, das ist nur die Hardware, die etwas zufällig durch den Evolutionsprozess gestaltet wurde. Die Software, das ist die Steuerung. Es ist das implizite Programm, das alle unsere Aktionen regelt. Das neuronale Programm ist in der Vernetzung des Gehirns und in den Kopplungsstärken versteckt. Man muss dieses Programm nur "ablesen" und übertragen, um einen Körperersatz zu erhalten.
Das Gehirn arbeitet analog
Vor Jahren saß ich in einem Vortrag, bei dem ein Biologe gewisse Zellprozesse mit den Worten erklärte, die Zelle würde "errechnen", was die passende Antwort zu einem Proteinsignal wäre und diese dann ausführen. Wir haben uns so sehr an den Computer gewöhnt, dass die Welt um uns herum gleichsam wie zahlreiche vernetzte Computer erscheint. Man könnte z.B. denken, dass das Solarsystem nur ein Riesencomputer ist, der alle Kräfte zwischen Sonne und Planeten in Echtzeit auswertet und die Lösung der entsprechenden Differentialgleichungen blitzschnell bereitstellt. Wenn wir physikalische Prozesse als Rechenprozesse umdeuten, sieht man überall Gespenster (Rechenmaschinen), sei es im Himmel oder in der Zelle, eine nicht zulässige Projektion unserer menschlichen Erwartungen.
Mit dem Gehirn wird eine ähnliche Umdeutung angestellt. Eigentlich ist ein Zerebrum ein über Jahrmillionen entwickeltes biologisches System, um den Körper am besten durch den täglichen Existenzkampf zu bringen. Bakterien lassen es sich gut gehen - ohne Gehirn und Kognition. Raubtiere müssen aber etwas listiger als die Beute sein. Gehirn und Kognition sind nur das Ergebnis des unkontrollierten Wettrüstens zwischen Raub- und Beutetieren.
Denken ist nicht rechnen - es ist das, was das Gehirn tut. Und das ist ein physikalischer Prozess, bei dem Signale hin und her flitzen, bis an einer Stelle "Angreifen" oder "Wegrennen" ausgelöst wird. Die Tatsache, dass wir heute in der Lage sind, mit Computern solche makroskopischen Verhaltensmuster teilweise grob so zu imitieren, dass Roboter sich wie etwas Lebendiges verhalten können, verwandelt das Gehirn noch immer nicht in einen Computer. Vor allem nicht in einen Digitalrechner mit einer Von-Neumann-Architektur, bei dem gespeichertes Programm und Prozessor deutlich voneinander getrennte Sachen sind.
Außerdem: Das Gehirn arbeitet "analog". Analogrechner sind gut bekannt: Eine Taschenuhr mit Ziffernblatt ist ein Analogrechner. Mit Widerständen und Kondensatoren kann man Schaltungen entwerfen, die Gleichungen lösen. D.h. ein physikalisches Analogon wird aufgebaut, das sich grob so verhält wie das zu untersuchende System, beispielsweise ein Flugkörper. Ist die Übereinstimmung gut, kann man an der Schaltung Parameter ändern und eine Vorhersage über das Flugverhalten treffen. Ein Analogrechner ist daher nur eine Simulation eines physikalischen Prozesses, mit einem anderen kleineren und einfacher zu handhabenden System.
Das ist die wirklich schlechte Botschaft für die Singularians: Das Gehirn ist kein Digitalrechner und die Trennung zwischen Soft- und Hardware ist überhaupt nicht vorhanden. Man kann das "Programm", das "Ich", nicht vom materiellen Substrat trennen. Wir sind, was wir sind, weil unsere Zellen nicht rechnen, sondern chemisch und physikalisch interagieren. Wir sind eben die Hardware, die uns trägt. Versagt die Hardware, ist leider Schluss.
Man könnte sich trotzdem fragen, ob wir das Gehirn mit einem analogen einfacheren System abbilden könnten. Aber angesichts der Komplexität und Selbstorganisation des Gehirns ist es unvermeidlich, dass kein kleineres physikalisches System die Vorgänge im Gehirn Eins zu Eins abbilden kann. Das kompakteste Modell meines Gehirns ist mein Gehirn selbst.
Digitale Simulation des Gehirns?
Wir sind also nur der Leib, der seine Seele trägt. Auch wenn man sich auf ein Gedankenexperiment einlassen und die von Ray Kurzweil erhoffte Möglichkeit eines Uploads des Bewusstseins in eine Maschine annehmen würde, müsste man nach dem Upload den Kurzweil aus Fleisch und Blut z.B. fragen, ob er mit der Vernichtung seines Körpers einverstanden wäre, da er doch ohnehin bereits in die Maschine "übertragen" worden sei. Man könnte außerdem aus Sicherheitsgründen Kurzweil auf zehn Roboter übertragen, von denen z.B. acht fehlerlos arbeiten würden. Wer wäre dann der echte Kurzweil?
Letzteres Problem beiseite gelassen könnten Singularians behaupten, dass eine Analogschaltung (wie das Gehirn) durch einen universellen Digitalrechner simuliert werden kann. Man würde nicht versuchen, das Gehirn materiell Eins-zu-Eins zu kopieren, sondern nur seine Funktionsweise. Dagegen spricht, dass eine vollständige Simulation eines so komplexen Systems nicht mit vertretbarem Aufwand zu schaffen wäre.
Heute wissen wir, dass viele physikalische Vorgänge chaotisch ablaufen. Dies bedeutet nur, dass kleinste Unterschiede der Anfangsbedingungen später zu beliebig großen Abweichungen des Systemzustands führen. Ein Digitalrechner diskretisiert die Anfangsbedingungen und propagiert immer einen Restfehler. Wenn wir z.B. nur die Interaktion zwischen N geladenen Teilchen betrachten, die frei im Raum schweben, und ihre Bewegung simulieren möchten, müssten wir das sogenannte N-Körper-Problem rechnerisch bewältigen. Die präzise Ortung eines einzigen der N-Partikel ist ein Problem in der Komplexitätsklasse PSPACE (eine Klasse von Problemen, die die berühmte Klasse der NP-Probleme wie das Traveling-Salesman enthält). D.h. bereits bei einer solchen Simulation eines simplen analogen Systems im dreidimensionalen Raum würde eine kombinatorische Explosion entstehen, sobald wir versuchen, das analoge System so genau wie möglich digital zu simulieren.[3]
Wir könnten also sogar mit einer perfekten Kopie von Ray Kurzweil starten, aber wir könnten nicht mit realistischem Aufwand alle seine Neuronen präzis simulieren (die ja viel komplexer als ein N-Körper-Problem sind). Wer möchte eine Kopie von sich selbst haben, die dann in Zeitlupe und fehlerbehaftet vor sich hin dümpelt?
Singularians könnten erwidern, dass es vielleicht andere Berechenbarkeitsmodelle gibt, bei denen eine solche Simulation eines Gehirns möglich wäre. Es ist aber bis jetzt kein Modell vorgeschlagen worden, das "Super-Turing"-Eigenschaften bei der Bewältigung von echten Problemen entfalten könnte. In der Informatik ist die Möglichkeit von digitalen Computern, die Befehle über reelle Zahlen ausführen, abstrakt durchgespielt worden.[4] Solche Maschinen mit unendlicher Genauigkeit würden manche Algorithmen enorm beschleunigen.
Es sind auch künstliche neuronale Netze vorgeschlagen worden, deren Kopplungsgewichtungen reelle Zahlen sind. Verwendet man solche reellen Speicher (mit unendlich vielen Bits) könnte man eine "Super-Turing"-Performanz erreichen. Wie aber solche Speicher arbeiten sollten, und wie man solche Gewichte im Voraus berechnet und anlegt, das ist keineswegs geklärt.[5] Koppelt man Digital- mit Analogrechner leidet außerdem die Kopplung an dem unvermeidlichen Rauschen im analogen Teil. Analogrechner sind "noisy" und manchmal auch chaotisch. Auch das Gehirn selbst ist ein System, bei dem das Rauschen eine große Rolle spielt. Immerhin müssen ständig bis zu 25 Watt Wärme ausgestrahlt werden. Vorläufig gehen die Theoretiker davon aus, dass die Gültigkeit der Church-Turing-These auch den analogen Bereich abdeckt.
Das Paradoxon ist also, dass es keine analogen Rechner gibt, die mehr als Digitalrechner rechnen könnten (sonst würden wir sie verwenden), wobei Digitalrechner keine perfekte Simulation von analogen Rechnern ohne eine kombinatorische Explosion bewältigen können. Anders gesagt: Die Church-Turing-These geht davon aus, dass ein Gehirn nicht mehr als ein Digitalrechner rechnen kann. Aber ein Digitalrechner kann ein spezifisches Gehirn (Kurzweils Gehirn z.B.) nicht ohne kombinatorische Explosion perfekt simulieren.
Bleiben nur die Quantencomputer, die für bestimmte Probleme eine exponentielle Beschleunigung anbieten könnten. Hier beißt sich die Simulation aber wieder selbst in den Schwanz, da manche Physiker wie Roger Penrose davon ausgehen, dass Quantenphänomene im Gehirn eine große Rolle spielen. Eine ganze Arbeitsgruppe am Berliner Wissenschaftskolleg bearbeitet im Jahr 2013 den Schwerpunkt "Quantenmechanische Prozesse in biologischen Systemen". D.h. die Biologie wird eben immer komplizierter, sobald man sie tiefer durchdringt und die Simulation eines konkreten Gehirns (meines oder deines) rückt immer weiter in unendliche Ferne, Quantencomputer hin oder her.
Ars longa, vita brevis
Wenn man die Argumentation der Singularians zerpflückt, bleibt am Ende nur die eine Sache übrig: der Wunsch, den Tod zu vermeiden und als Software ewig weiter leben zu können.
Sigmund Freud hat sich auch mit der Todesangst beschäftigt und in seinem Werk "Die Zukunft einer Illusion"[6] das religiöse Bedürfnis der Menschen unter die Lupe genommen. Durch die wissenschaftlichen Entdeckungen wird die Natur eben zur Natur reduziert und es sind keine weiteren religiösen Erklärungen notwendig. Die Religion hat aber eine gesellschaftliche Funktion, die vor allem den Menschen mit seiner Ohnmacht gegenüber Tod, Altern und Krankheit versöhnt. Ähnlich hatte Karl Marx in Bezug auf die griechischen Götter bereits 1857 argumentiert[7] :
»Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen (Mythologie) zugrunde liegt, mit Selfaktors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulkan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier? Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben.«
Dass es aber Religion trotzdem gibt, ist erklärungsbedürftig, obwohl Marx nicht so weit wie Freud geht, die Religion und das im Himmel Weiterleben als Neurose zu bezeichnen, die uns die Welt erträglich macht: "Alles Gute findet endlich seinen Lohn, alles Böse seine Strafe, wenn nicht schon in dieser Form des Lebens, so in den späteren Existenzen, die nach dem Tod beginnen."
Wie glücklich die Invertebraten, da man nur bei diesen so etwas wie Trauer über den Tod findet! Elefanten spielen fasziniert mit den Knochen von verendeten Elefanten. Delfine tragen ein verendetes Kalb noch tagelang auf dem Rücken, so wie auch Menschenaffen leblosen Nachwuchs weiter pflegen. Der Tod eines Menschenaffen wirkt auf die ganze Horde sehr störend und manche Handlungen der Tiere ähneln Wiederbelebungsversuchen.[8]
Über den eigenen Tod aber können diese Tiere nicht trauern. Manche Anthropologen sehen deswegen in den ersten rituellen Bestattungen den Ursprung des echten, bewussten, sozialen Verhaltens. Bei Neandertalerfunden hat man nicht nur Werkzeuge, sondern auch Gräber entdeckt. Anscheinend waren auch Neandertaler so weit gekommen wie der Homo sapiens später, dem die eigene Sterblichkeit schmerzlich bewusst geworden ist.
Das ist die große Ironie der Geschichte der menschlichen Intelligenz. Durch Evolution entstanden, überragt menschliche Intelligenz die Intelligenz aller anderen Tiere. So ist Selbstbewusstsein, das "Ich", ein zufälliges Abfallprodukt des Existenzkampfes. Mit einer "Theory of Mind" ausgestattet, die dem Menschen erlaubt, das Verhalten der anderen Tiere vorherzusagen, wurde er zum Raubtier par excellence, aber eben auch ein deprimiertes Raubtier mit Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit.
Die Obsession der Menschheit mit dem Tod und mit der Seele hat zur Religion, zur Philosophie und zu den Singularians geführt. Oder wie Arthur Schopenhauer es treffend anmerkte: "Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie."[9] Und der Singularität.
Das Betriebssystem des Gehirns im aktiven Ruhezustand
Im wachen Zustand kann das Gehirn nie aufhören, Gedanken zu produzieren. Unablässig flechtet der Webstuhl im Kopf seine Hirngespinste. Offenbar sind jetzt identifizierte gekoppelte Gehirnareale für unser geistiges Innenleben zuständig, wenn Sinneseindrücke unbeachtet bleiben.
Es ist intuitiv klar, dass wir das Gehirn im Wachzustand nicht ausschalten können, auch dann nicht, wenn wir es möchten. Unsere Gedanken pendeln hin und her zwischen dem, was wir mit den Sinnesorganen wahrnehmen, und dem inneren Monolog. So wie das Herz das Blut pumpt das Gehirn unaufhaltsam Gedanken.
Das Gehirn: Viel beschäftigt mit Nichts-Tun
Die einzelnen Neuronen überwachen ständig ihren Input und sind jederzeit bereit zu feuern. Sie sind also dauernd im kritischen Zustand und entladen sich ab und zu spontan. Nicht zuletzt deswegen verbraucht das Gehirn ständig etwa 20% des Energiehaushalts des Körpers. Während aber das Herz ohne weiteres im Training doppelt so schnell schlagen kann, können Teile des Gehirns bei anstrengenden Aufgaben ihren Energieverbrauch nur um weniger als 5% steigern, wobei der Gesamtverbrauch des Organs in etwa konstant bleibt. Wir können nicht auf Kommando intelligenter werden!
Es ist schon seit Jahren bekannt, dass auch im "Ruhezustand" (d.h. wenn ein Proband sich einfach entspannt) verschiedene Areale im Gehirn eine gekoppelte Aktivität aufweisen, d.h. sie tun etwas gemeinsam. Solche Korrelationen wurden zuerst in Experimenten mit der Positron-Tomographie entdeckt, können aber mit den heutigen FMRI-Geräten (Functional Magnetic Resonance Imaging) viel feiner aufgelöst werden. Der Proband wird in das FMRI-Gerät hineingelegt und wechselt zwischen Phasen des Ausruhens und Phasen, in denen eine bestimmte Aufgabe gelöst wird.
Die resultierenden FMRI-Bilder geben Auskunft über die bei der Aufgabe aktivierten Gehirnareale, d.h. diejenigen, die mehr Sauerstoff als vorher verbrauchen. Im entspannten Zustand ist es aber nicht so, dass der gesamte Kortex gleichmäßig und zufällig aktiv wäre. Man beobachtet Kortexareale, die regelmäßig synchron umschalten. Man nennt diese gekoppelten Areale das "default mode network" oder auf Deutsch: das Ruhezustandsnetzwerk des Gehirns [10] . Ganz im Widerspruch zu Lao Tse, der meinte: "Nichts zu tun, ist besser, als geschäftig nichts zu tun", ist das Gehirn, energetisch gesehen, sehr geschäftig beim Nichts-Tun.
Wie kann man solche gekoppelten Gehirnareale beobachten? Man bittet den Probanden, sich im FMRI-Gerät auszuruhen. Dann selektiert man im FMRI-Bild ein kleines Gebiet und der Computer berechnet automatisch, welche anderen Gehirnareale eine korrelierte Aktivität zum markierten Bereich zeigen, d.h. ihre Aktivität steigt oder fällt synchron mit dem selektierten Gebiet.
Im FMRI-Gerät wird die Durchblutung der Gehirngebiete indirekt gemessen, und diese kann dann mit der neuronalen Aktivität derselben gleichgestellt werden. Ergänzend kann man die Probanden nach jeder Messung fragen, an was sie gerade gedacht haben. Meistens geht es um autobiographische Erinnerungen, Planung für die Zukunft, Rekapitulation von Ereignissen, d.h. alles, was unseren "Bewusstseinsstrom" ausmacht. Mit diesem "Bewusstseinsstrom" haben sich James Joyce und andere Schriftsteller auseinandergesetzt und ihn sogar als Erzählmethode perfektioniert. Denn wir wissen es: Unsere Gedanken springen hin und her und sind nie völlig ruhig zu stellen.
Die spontan gekoppelten Gehirnareale
All die beim Gehirn im Ruhezustandsnetzwerk verknüpften Areale namentlich zu erwähnen, sagt nur gestandenen Neurobiologen oder Medizinern etwas. Daher verweise ich die Leser lieber auf Abb. 1, die eine Draufsicht auf das Gehirn darstellt, zusammen mit den markierten Bereichen, die zum Ruhezustandsnetzwerk gehören.
Dazu zeigt Abb.2 von oben aufgenommene Bilder von Gehirnschichten, wobei farblich markierte Bereiche der Namens-Abkürzung in jeder Spalte entsprechen (die erste Spalte in der Tabelle ist beispielsweise mit LTL markiert, für "linker Temporallappen"). In Abb. 2 werden die Namen aller untersuchten Regionen angegeben, ihre Position im Gehirn und auch ihre Korrelationen untereinander, wenn das "default network" zum Tragen kommt.
Der linke Temporallappen z.B. zeigt einen Korrelationsindex von 0,41 mit dem rechten Temporallappen und 0,16 mit dem dorsalen medialen präfrontalen Kortex (Korrelationindex 1,0 bedeutet völlige Übereinstimmung, Korrelation 0 bedeutet nur zufällige Synchronie). Insgesamt zeigt Abb. 2, was unter einem Ruhezustandsnetzwerk verstanden wird, da die Korrelationen zwischen den Arealen deutlich unterschiedlich von Null sind (nicht einzeln, aber als gesamte Gruppe betrachtet).[11] Korrelationen über 0,30 sind rot markiert.
Dennoch könnte man sich über die Interpretation des Ruhezustandsnetzwerks streiten, da es noch nicht völlig klar ist, warum gerade diese Areale eine korrelierte Aktivität zeigen. Es könnte ja sein, dass das Ganze nur ein zufälliges Zusammenticken darstellt, weil dieselben Arterien diese Gebiete mit Blut versorgen (die Vaskularitäts-Hypothese). Aber entsprechende Experimente haben dies nicht bestätigt.
Wichtiger für eine Bewertung des Nutzens des Konzepts ist, ob man damit etwas Relevantes messen kann. Und in der Tat: Man kann die Synchronie des Ruhezustandsnetzwerks als Indikator für das Vorhandensein einer inneren Gedankenwelt verwenden, z.B. bei Patienten auf der Intensivstation.[12] Vanhaundenhuyse und Mitarbeiter konnten zeigen, dass die Synchronie des Ruhezustandsnetzwerks eine Diskriminierung zwischen bewussten und minimal bewussten Patienten von komatösen und vegetativen Patienten erlaubt. Es wäre damit möglich, Lock-in-Syndrom-Patienten in Zukunft auf diese Weise zu identifizieren, wobei es bereits andere gängige Methoden gibt.
Das kartesische Theater und das Bewusstsein
Seit Jahren befindet sich Christof Koch auf einem Kreuzzug, um den Sitz des menschlichen Bewusstseins zu entdecken[13] . Die Untersuchung von Patienten, bei denen Teile des Kortex nach einer Embolie beschä