Buch
Es ist die größte Arktisexpedition aller Zeiten. Seit September 2019 driftet der Forschungseisbrecher »Polarstern« über ein ganzes Jahr fest eingefroren in das arktische Meereis durch die zentrale Arktis über den Nordpol – angetrieben nur von der Kraft der natürlichen Eisdrift. Die Expedition befindet sich auf Gedeih und Verderb in den Händen der Natur und ist gewaltigen Herausforderungen ausgesetzt: ständigen Eisrissen, der dramatischen Auffaltung riesiger Gebirge aus Eis, gewaltigen Schneestürmen, extremer Kälte, der undurchdringlichen Schwärze der monatelangen Polarnacht und den häufigen Begegnungen mit gefährlichen Eisbären. Und mittendrin bringt die Corona-Pandemie die Expedition an den Rand des Abgrunds. Markus Rex beschreibt fesselnd, wie sein Forscherteam die unvorstellbaren Strapazen meistert und dabei bahnbrechende Erkenntnisse über die Klimaprozesse der zentralen Arktis gewinnt, welche uns den dramatischen Klimawandel dort besser verstehen lassen.
Autor
Markus Rex leitet die Atmosphärenforschung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, und ist Professor für Atmosphärenphysik an der Universität Potsdam. Er hat bereits unzählige Expeditionen in Arktis, Antarktis und andere entlegene Regionen der Welt unternommen, um die komplexen Klimaprozesse zu erforschen, die dort zu teils dramatischen Klimaveränderungen führen. Er ist der Kopf des MOSAiC-Vorhabens und Expeditionsleiter für die einmalige ganzjährige Expedition der »Polarstern« in die zentrale Arktis, an der 90 Institutionen aus 20 Ländern beteiligt sind. Erstmals bringt MOSAiC einen Forschungseisbrecher im Winterhalbjahr und während der Dunkelheit der Polarnacht in die direkte Umgebung des Nordpols.
MARKUS REX
EINGEFROREN
AM
NORDPOL
DAS LOGBUCH VON DER »POLARSTERN«
In Zusammenarbeit mit
Marlene Göring
C. Bertelsmann
cbertelsmann.de/Rex1
© Peter Palm
Für Friederike, Tim und Philipp
Inhalt
Prolog
Teil I: Herbst
Kapitel 1: Es beginnt
Kapitel 2: Auf dünnem Eis
Kapitel 3: Ein neues Zuhause
Teil II: Winter
Kapitel 4: Allein am Ende der Welt
Kapitel 5: Sturm in der Polarnacht
Kapitel 6: Weihnachten im Eis
Teil III: An Land
Kapitel 7: Auf Messers Schneide
Teil IV: Frühling
Kapitel 8: Wieder im Eis
Kapitel 9: Das große Schmelzen
Teil V: Sommer
Kapitel 10: Hochsommer auf dem Eis
Kapitel 11: Der Nordpol – und eine neue Scholle
Kapitel 12: Es geht nach Hause
Epilog
Dank
Register
»Ungesehen und unbetreten, in mächtiger Todesruhe schlummerten die erstarrten Polargegenden unter ihrem unbefleckten Eismantel vom Anbeginn der Zeiten. In sein weißes Gewand gehüllt, streckte der gewaltige Riese seine feuchtkalten Eisglieder aus und brütete über Träumen von Jahrtausenden.
Die Zeiten gingen; tief war die Stille.
Da – in der Dämmerung der Geschichte, fern im Süden – erhob der erwachende Menschengeist sein Haupt und schaute über die Erde; gegen Süden begegnete ihm Wärme, gegen Norden Kälte, und hinter die Grenzen des Unbekannten verlegte er dann die beiden Reiche: das der allverzehrenden Hitze und das der vernichtenden Kälte.
Aber vor dem stets wachsenden Drange des menschlichen Geistes nach Licht und Wissen mußten die Grenzen des Unbekannten Schritt für Schritt zurückweichen, bis sie im Norden an der Schwelle des großen Eiskirchhofs der Natur, der endlosen Stille der Polargegenden, stehen blieben. Bisher hatten keine unüberwindlichen Hindernisse sich den siegreich vordringenden Scharen in den Weg gestellt, und sie zogen getrost weiter. Aber hier machten die Riesen Front gegen sie, im Bunde mit den ärgsten Feinden des Lebens: dem Eise, der Kälte und der langen Winternacht.«
So beginnt der große Entdecker und Polarforscher Fridtjof Nansen seinen Expeditionsbericht 1897. Der menschliche Entdeckergeist hat seitdem fast allen Winkeln unseres Heimatplaneten ihre Geheimnisse entrissen und sie mit modernstem wissenschaftlichen Instrumentarium vermessen und studiert. Aber die Polarregionen setzen unserem Forscherdrang noch immer Grenzen. Das Licht unserer Erkenntnis verliert sich in der zentralen Arktis in den Wintermonaten bis zum heutigen Tag. Zu undurchdringlich ist das Eis auf dem Arktischen Ozean dann, zu widrig die äußeren Bedingungen. Kein Forschungseisbrecher konnte bislang hierhin vorstoßen. Noch nie hat ein Eisbrecher das komplexe System der zentralarktischen Klimaprozesse ganzjährig studiert.
In einer gewaltigen internationalen Gemeinschaftsleistung haben sich 20 Nationen verbündet, um mit der MOSAiC-Expedition, dem multi-disziplinären Drift-Observatorium für das Studium des Arktischen Klimas, die Geheimnisse der Arktis zu entschlüsseln, mit der Polarstern erstmals einen modernen Forschungseisbrecher ganzjährig in die zentrale Arktis zu bringen und auch im Winter die direkte Umgebung des Nordpols zu untersuchen. In einer Expedition, die die Grenzen des Machbaren verschiebt, überwintert Polarstern fest eingefroren im Eis der Zentralarktis, unterstützt von einer Flotte von sechs weiteren Eisbrechern und Forschungsschiffen, und sammelt ein ganzes Jahr lang die Daten, die wir so notwendig brauchen.
Denn die Arktis ist das Epizentrum des Klimawandels. Nirgendwo sonst erwärmt sich unser Planet so rasant wie hier – mindestens doppelt so schnell wie im Rest der Welt und im Winter sogar noch viel ausgeprägter. Vieles davon verstehen wir bis heute nicht. Unsere Klimamodelle haben ihre größten Unsicherheiten in der Arktis. Hier weicht das, was verschiedene Klimamodelle für die Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts vorhersagen, bis zu einem Faktor drei voneinander ab – im pessimistischen Szenario für die zukünftigen Treibhausgasemissionen reichen diese Vorhersagen von 5 Grad Celsius Erwärmung bis zu sage und schreibe 15 Grad. Viele Modelle sagen voraus, dass die Arktis in wenigen Jahrzehnten im Sommer eisfrei sein wird. Andere nicht. Keiner weiß, ob und wann das passieren wird. Aber wir brauchen robuste und verlässliche wissenschaftliche Grundlagen für die so dringenden und tiefgreifenden gesellschaftlichen Entscheidungen zum Klimaschutz.
Klimamodelle beruhen auf Daten und auf einem genauen Verständnis der Prozesse im Klimasystem, die wir im Computer so realitätsnah wie möglich nachbauen müssen. Nur so erzielen die Modelle robuste Ergebnisse. Aber wie will man das tun für eine Region, in der unsere modernen Instrumente noch nie zur Beobachtung des Klimasystems eingesetzt werden konnten? Mangels Beobachtungen müssen die Modelle hier Ad-hoc-Annahmen darüber treffen, wie die Prozesse funktionieren und wie sie ablaufen. Man könnte auch sagen: Sie müssen raten. Dies führt zu den gewaltigen Unsicherheiten in den Prognosen.
Dabei ist die Arktis die Wetterküche für Wetter und Klima in Europa, Nordamerika und Asien, den Gegenden, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung lebt. Der Temperaturkontrast zwischen der kalten Arktis und den wärmeren mittleren Breiten treibt das Hauptwindsystem der Nordhemisphäre an und bestimmt zu einem erheblichen Teil unser Wetter. Die schnelle Erwärmung der Arktis verändert diesen Temperaturkontrast. Das Ergebnis sind vermehrte und intensivere Extremwetterlagen in unseren Breiten. Und was eine sommerlich eisfreie Arktis für unser Klima bedeuten würde, lässt sich zurzeit kaum mit Sicherheit sagen, zu unbekannt sind die arktischen Prozesse.
Wie erreicht man also die zentrale Arktis im Winter, wenn das Eis so dick ist, dass auch unsere besten Forschungseisbrecher es nicht durchbrechen können? Unsere Expedition folgt den Fußstapfen des großen Polarpioniers Fridtjof Nansen, des Entdeckers der arktischen Eisdrift. Nansen hatte aus den nördlich von Grönland aufgefundenen Trümmern der vor Sibirien im Eis gescheiterten Jeannette-Expedition von 1879 auf ein quer über die Polkappe führendes Förderband aus Eis geschlossen: die Transpolardrift. Diese nutzte er, um tiefer als jemals jemand zuvor in die Zentralarktis vorzustoßen. Er ließ sich mit der Fram, einem eigens gebauten hölzernen Segelschiff, vor der sibirischen Küste im Ursprungsbereich des Förderbandes vom Eis gefangen nehmen und wurde von dem Eisstrom quer über die Polarkalotte innerhalb von drei Jahren bis in den Nordatlantik getragen.
Diesem Ansatz folgen auch wir mit der MOSAiC-Expedition. Wir arbeiten mit dem Eis statt gegen das Eis. Das Konzept: Wenn wir uns an der richtigen Stelle ins Eis einschließen lassen, wird uns die Transpolardrift ohne jedes weitere Zutun quer durch die Zentralarktis tragen und uns so den Zugang zu dieser sonst abgeschotteten Region auch im Winter verschaffen. Dabei sind wir für eine lange Phase im Winter und Frühjahr fest und unentrinnbar in das driftende Eis eingeschlossen.
Der Verlauf der Expedition liegt vollständig in den Händen der Natur. Sie ist auf Gedeih und Verderb den Naturgewalten ausgesetzt, keiner kann sagen oder beeinflussen, wo uns die Eisdrift hintragen und wie die Expedition verlaufen wird. Wir verlassen uns auf die Natur. Nicht wir bestimmen den Kurs und den Verlauf der Reise, die Kräfte der Natur tun das. Bei einem solchen Unterfangen ist nichts planbar, alles entwickelt sich aus dem Gang der Expedition. Gewaltige Herausforderungen stellen sich uns dabei: Eisrisse, die dramatische Auffaltung riesiger Gebirge aus Eisplatten, die sich übereinanderschieben, heftige Stürme, extreme Kälte, die undurchdringliche Schwärze der monatelangen Polarnacht, gefährliche Eisbären und nicht zuletzt die Corona-Pandemie. Wir sind bereit.
Herbst
Polarstern auf dem Weg ins Eis.
© Markus Rex
Es beginnt
Die Polarstern liegt erhaben an der Pier von Tromsø, ihr gewaltiger Rumpf in der anbrechenden Dunkelheit erleuchtet von einer Lichtinstallation zu unserem festlichen Abschied. Es ist so weit! Ich stehe an Bord und schaue auf die feiernde Menge an Land. Die Decks auf Steuerbord, unserer Landseite, sind voll mit Leuten. Wir: Das sind die etwa 100 Wissenschaftler, Techniker und Mitglieder der Schiffscrew, die das Wagnis eingehen, sich monatelang im Eis einfrieren zu lassen – allein am Ende der Welt, auf der größten Arktis-Expedition jemals.
Ich blicke nach unten. Zur Feier unserer Abfahrt haben Künstler eine bewegliche Eisscholle aus Licht auf den Beton des Piers projiziert, im Abenddunkel leuchtet das Festzelt auf der Werft. Hier haben uns Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft Otmar Wiestler und die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) Antje Boetius mit Reden verabschiedet, eine Ehrung für uns und unser Vorhaben – und ein Zeichen dafür, wie wichtig das Thema Arktis und Erderwärmung für Politik und Gesellschaft geworden ist. Viel Presse ist gekommen. Eben noch haben wir unten angestoßen, uns besonders herzlich von unserer AWI-Direktorin verabschiedet, die sich viele Jahre so nachdrücklich für unsere Expedition eingesetzt, vieles mitgeplant und ermöglicht hat – und nun allzu gerne selbst mit uns mitfahren würde. Sehe ich da eine kleine Träne? Das muss am steifen Wind in Tromsø liegen! Auch Uwe Nixdorf, Leiter unserer Logistikabteilung und Mastermind hinter dem Logistikkonzept der Expedition, und Klaus Dethloff, Vater der MOSAiC-Idee, stehen unten und sehen mit Stolz, wie unsere Pläne nun Wirklichkeit werden. Eine Expedition wie unsere kann kein Land und keine Institution allein stemmen; viele, viele Menschen haben lange dafür gearbeitet und gekämpft – jetzt teilen wir die große Freude, dass sich all das gelohnt hat. Die Gäste unserer Abschiedsfeier halten ihre Gläser zum Zuprosten in die Luft – denn zwischen uns und ihnen liegt jetzt meterhoch der Schiffsrumpf der Polarstern. Unten winken Freunde und Familie, darunter meine Frau, meine beiden Söhne. Auch wir winken. Viele Augenpaare suchen ein letztes Mal den Blick ihrer Liebsten. Aber die Stimmung ist zu ausgelassen für Tränen, und wehmütige Gedanken haben gar keinen Platz.
Denn: Es geht los! Die Band spielt, die Gangway hebt sich, die Leinen werden eingeholt, und mit einem langen Tuten des Schiffshorns setzt sich Polarstern gemächlich in Bewegung. Schon bald können wir die Menschen im Hafen nicht mehr ausmachen. Unsere Freunde verschwinden im Dunkel, die Musik der Feier verschluckt der Wind.
Ich bleibe noch lange an Deck stehen und blicke über den Fjord. In der Dunkelheit ziehen die Lichter der Küste und später die der norwegischen Inseln vorbei. Heimeliges Leuchten in gemütlichen norwegischen Häusern. Ganz so wie in dem Häuschen, in dem ich mit meiner Familie wohne, im fast dörflichen Kern von Potsdam-Babelsberg. Lange werde ich diesen Ort nicht mehr sehen. Während dort an Land für die Menschen und ihre Familien gerade ein normaler Tag zu Ende geht, werden wir an Bord auf lange Zeit keine normalen Tage mehr haben, unsere Familien nicht treffen. Was wird uns wohl die nächsten Monate erwarten?
Die letzten Wochen vor der Expedition fühlen sich im Rückblick fast irreal an, so flirrend voll mit den letzten Vorbereitungen waren sie. In meinem Haus sah es aus wie in einem Expeditionsvorbereitungslager, überall türmten sich Haufen mit Dingen zum Packen. Vor allem aber wurde die verbleibende Zeit mit meiner Familie von Tag zu Tag wertvoller. Langsam ist es in unser aller Bewusstsein gesickert: Im nächsten Jahr werden wir uns insgesamt neun Monate nicht sehen, Weihnachten, Neujahr und alle unsere Geburtstage getrennt feiern. Trotzdem sind meine beiden Söhne, neun und elf Jahre alt, begeistert von der Expedition. Sie wissen alles darüber und fiebern mit. Das macht es einfacher für mich und tröstet etwas über die lange Trennung hinweg. Meine Frau kennt mich nicht anders – ich bin schon immer auf langen Expeditionen gewesen –, und auch sie teilt meine Begeisterung dafür. Wenigstens können wir uns während der Expedition Nachrichten schicken, anders als frühere Generationen von Polarforschern.
Am 23. September begrüßt die Arktis uns mit einem prachtvollen Polarlicht.
© Markus Rex
Ich bin in diesen Tagen in Gedanken oft bei Fridtjof Nansen und seinem Team, die vor 126 Jahren zu einer ganz ähnlichen Forschungsreise aufgebrochen sind – und in einer gewaltigen Pionierleistung mit ihrem hölzernen Segelschiff, der Fram, gezeigt haben, dass so eine Expedition überhaupt funktioniert. Sie brachen damals ins komplett Unbekannte auf, ohne jede Kommunikation zur Außenwelt und ohne zu wissen, ob sie jemals lebend zurückkommen würden. Wie mag es ihnen damals in den Tagen vor dem Aufbruch ergangen sein, was hat sie bewegt? Welche bangen Gefühle müssen diese Männer (ja, damals waren es nur Männer, das ist heute anders) und ihre Familien bei ihrem Abschied gehabt haben – und um wie viel besser haben wir es heute!
Und jetzt sind wir wirklich unterwegs! Das Kielwasser, das Polarstern aufwirbelt, schlägt erst schaumige Wellen und wird dann immer kleiner, bis es schließlich im Meer aufgeht und seine Bahn ganz verschwindet. Es tut gut, dabei zuzusehen. Als ob auch die Jahre der Planung und die letzten stressigen Tage im Hafen von Tromsø sich immer weiter von uns entfernen.
Sosehr uns die Eindrücke der letzten Tage an Land überflutet haben, geben sie jetzt der Ruhe Platz, die jeder auf einem Schiff empfindet, das durch den Ozean langsam und beständig seinem Ziel entgegengleitet. Besonders, wenn man dabei beobachtet, wie das Kielwasser im dunklen Nichts des nächtlichen Meeres verschwindet.
Langsam macht sich bei mir die Erkenntnis breit, dass wir tatsächlich unterwegs sind, dass wir ab jetzt auf uns gestellt sind. Was für die eigenen Socken, Stirnlampe und Wollmütze gilt, trifft auch auf Ausrüstung und Proviant für die Expedition zu: Wir sind jetzt auf Gedeih und Verderb auf das angewiesen, was wir dabeihaben. Unterwegs kaufen geht nicht. Nachsenden funktioniert nicht. Hilfe von außen können wir nicht mehr erwarten.
INFO
Seit 1982 fährt die Polarstern in die entlegensten Winkel der Erde. Sie hat viele Aufgaben. Zum einen versorgt sie die deutsche Forschungsstation in der Antarktis: die Neumayer-III-Station auf dem Ekström-Schelfeis nahe der Atka-Bucht. Außerdem ist das Schiff nahezu permanent im Forschungseinsatz in den Polargebieten, wo es Eis, Meer und das Leben darin, biogeochemische Prozesse, die Atmosphäre und das Klima erforscht. So verbringt Polarstern im Schnitt 310 Tage des Jahres fernab ihrer Heimat Bremerhaven.
Polarstern ist einer der fähigsten Forschungseisbrecher weltweit: Das Schiff besitzt eine starke doppelte Wand und den typischen abgerundeten Rumpf, mit dem es ohne Probleme durch 1,5 Meter dickes Eis brechen kann. 20 000 PS geben ihm genug Kraft, um sich auch durch massiveres Eis zu rammen.
Der Eisbrecher ist eine schwimmende Forschungseinrichtung: In seinem Innern befinden sich neun Labore mit hochspezialisierten Instrumenten. Für MOSAiC wurde das Schiff unter anderem mit einem neuen wissenschaftlichen Containerdeck im Bug ausgestattet. ✱
Paradoxerweise ist das eine beruhigende Erkenntnis. Die Welt ist mit einem Mal ganz klein. Es mangelt an Möglichkeiten und Handlungsoptionen, aber gerade das ist seltsam entspannend. Hektisch kreisende Gedanken, was unbedingt noch auf den letzten Drücker erledigt oder besorgt werden muss, werden sinnlos. Vor dem Ablegen haben wir in immer kürzer werdenden Zeiteinheiten gedacht, zuletzt in Stunden und Minuten – jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Die Expedition dauert ein Jahr. Sie ist kein Sprint, sie ist ein Marathon. Und den geht man mit Ruhe und Gelassenheit an. Ich packe noch ein paar meiner vielen Kisten aus, dann gehe ich ins Bett und schlafe ab der ersten Minute wie ein Stein. Das Schiff wiegt einen wunderbar in den Schlaf, da ist Verlass auf Polarstern.
Der erste Morgen auf See. Noch sehen wir aus dem wolkenverhangenen Himmel einige norwegische Inseln am Horizont hervorblitzen, bis sie gegen Mittag ganz verschwinden. Gleichzeitig setzt das Handynetz aus. Die Funkwellen der Zivilisation erreichen uns nicht mehr. Wacker stampft die Polarstern durch die recht aufgewühlte See. Wir umrunden gegen elf Uhr vormittags das skandinavische Nordkap und nehmen Kurs auf Nordosten, hinein in die Barentssee, die spätsommerlich eisfrei und offen vor uns liegt.
Es ist gut, die Bewegung des Schiffes zu spüren, das so vertraute Rollen und Stampfen, mit dem Polarstern unterwegs ist. Mich zieht es auf das Peildeck, das höchste Deck oberhalb der Schiffsbrücke, in den steifen Wind, das stampfende Schiff unter mir, der Blick ringsum frei bis zum Horizont. Es ist einer meiner Lieblingsplätze auf der Polarstern.
Wir machen im offenen Wasser sehr gute Fortschritte entlang der Nordostpassage und laufen mit gut 13 Knoten gegen den Wind. Der frischt im Laufe des Tages auf, und in vier Metern mittlerer Wellenhöhe rollt Polarstern munter voran. Die eine oder andere See überspült unser Arbeitsdeck, und die ersten Fälle von Seekrankheit machen sich bei den Teilnehmern bemerkbar. Trotzdem ist die Stimmung an Bord ausgezeichnet. Nach den langen Jahren der Vorbereitung sind jetzt alle enthusiastisch und fiebern dem Eis entgegen.
Bild mit Beschriftung: cbertelsmann.de/Rex2
© Alfred-Wegener-Institut / Martin Kuensting (CC-BY 4.0) und Tim Wehrmann
Mittlerweile haben wir uns an Bord eingerichtet: Das Gepäck haben alle im Spind auf der Kammer verstaut, vor den Türen in den Gängen reihen sich die klobigen Arbeitsschuhe und die gepolsterten Polarstiefel für die Einsätze im Eis. Immer zwei Leute teilen sich eine Kammer, wie die Kajüten auf Polarstern traditionell genannt werden: Doppelstockbett, kleine Sitzecke mit Tisch, ein kleines abgetrenntes Bad, viel mehr gibt es nicht. Meine Einzelkammer besteht aus einem Schlafraum und einem Büro mit gemütlicher Sitzecke.
Aber wir verbringen nicht viel Zeit auf Kammer. Schon jetzt auf der Anfahrt arbeiten wir den ganzen Tag. Die Labore müssen ausgestattet, Kisten ausgepackt und Instrumente justiert werden. Bei so viel Gelaufe zwischen den Decks, Laboren und Ladungscontainern kommen jeden Tag viele Schritte zusammen, auch wenn wir uns auf viel weniger Raum bewegen als sonst an Land.
Gestern Nachmittag ist die Akademik Fedorov in Tromsø gestartet, unser Begleitschiff für den ersten Teil der Reise. Eigentlich sollte sie mit uns gemeinsam ablegen, musste dann aber noch auf Ausrüstung warten, die zu spät den Hafen erreicht hat. Jetzt ist die Fedorov, das Flaggschiff der russischen Polarforschungsflotte, mit uns Richtung Eis unterwegs. Sie trägt zusätzliches Equipment und Helfer, die wir für den Aufbau unseres Forschungscamps und das Ausbringen des Distributed Networks, der Messstationen auf kleineren Schollen in bis zu 50 Kilometern Entfernung rund um unsere Basis, brauchen. Sie wird Polarstern vor dem Andocken an unserer Scholle auch noch einmal bebunkern, um den Treibstoff zu ersetzen, den wir während der Anfahrt verbrauchen – so dass wir mit vollen Tanks in den langen Winter gehen.
Das nächste Ziel für uns lautet: Umrundung von Kap Tscheljuskin, dem nördlichsten Punkt des eurasischen Festlands und der entscheidenden Stelle der Nordostpassage. Wenn wir dieses Kap passieren, liegt die Laptewsee vor uns; irgendwo nördlich von ihr wollen wir uns vom Eis gefangen nehmen lassen. Vorher müssen wir aber noch den Rest der Barentssee und die Karasee durchqueren.
Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder zwingt einen das Eis, sich nahe der Küste zu halten und dort auf offene Passagen zu hoffen. Dieser Weg führt durch die Karastraße zwischen Nowaja Semlja und der Waigatsch-Insel nahe dem Festland hindurch, das enge Tor in die Karasee. Oder man umfährt Nowaja Semlja nördlich und kämpft sich dann durch die nördliche Karasee nach Osten voran. Welche Variante möglich ist, bestimmt das Eis.
Wegen ihrer schwierigen Eisverhältnisse wird die Karasee auch »Eiskeller der Arktis« genannt, eine Bezeichnung, die auf den deutsch-baltischen Naturforscher Karl Ernst von Baer in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Von einem Eiskeller ist hier aber keine Spur: Die Karasee liegt fast komplett eisfrei und offen vor uns! Wir nehmen also den einfachen und schnelleren Weg und halten auf Kap Semlja zu, die Nordspitze Nowaja Semljas. Was für ein Unterschied zu den Zeiten Fridtjof Nansens, des großen Vorbilds für unsere Expedition!
Was Fridtjof Nansen 1893 bis 1896 wagte, hat für unsere Expedition Modell gestanden. Nansen hat die natürliche Drift des Eises entdeckt und war der Erste, der sich mit seinem Schiff von ihr treiben ließ; genau so, wie wir es vorhaben. Er stieß so tiefer in die Arktis vor als irgendjemand vor ihm – zu einer Zeit, als durchaus noch Vorstellungen kursierten, dass sich am Nordpol ein eisfreier Ozean oder sogar ein unentdeckter Kontinent befinde.
Fridtjof Nansen war der Entdecker der Transpolardrift (dicker Pfeil in der Abbildung), welche Teil der natürlichen Drift des Eises in der Arktis ist. Die Pfeile links oben stellen den Beaufort-Wirbel dar, die Schraffur entspricht der typischen Eisausdehnung im Sommer.
© Tim Wehrmann
Jahrhundertelang haben mutige Menschen versucht, einen Weg durch das Nordpolarmeer zu bahnen. Das große Unbekannte hinter der Eiskante regte die Fantasie an und faszinierte. Der Forscherdrang, zu erkunden, was in diesen unentdeckten Weiten liegt, hat viele Entdecker und ihre Mannschaften das Leben gekostet. Nicht aber Nansen. Mit einem nur 13-köpfigen Team stach der Norweger mit seiner dreimastigen Fram in See. Nansen hatte die Fram so konstruieren lassen, dass sie dank ihrer starken Außenwand, ihres abgerundeten Rumpfs und einer noch nie erreichten, enorm stabilen inneren Konstruktion vom Packeis nicht zerdrückt, sondern einfach hochgehoben werden konnte; sogar das Ruder ließ sich einziehen.
Nansen, der fünf Jahre zuvor als 27-Jähriger und mit nur vier Begleitern das grönländische Inlandeis auf Skiern überquert hatte, brachte von dort das Wissen der Inuit mit, wie man am besten in der Arktis überlebt. Die Nansen-Schlitten, die wir auch auf unserer Expedition verwenden, sehen im Grunde nicht anders aus als die, die er für die Fram-Expedition nach Inuit-Vorbild bauen ließ: flach, damit das Gewicht der Ladung gut verteilt wird, und mit beweglichen Streben, die verhindern, dass der Schlitten bricht, wenn er über die raue, kantige Eisoberfläche gezogen wird. Als Proviant hatte Nansen jede Menge Trockenfrüchte an Bord schaffen lassen, eine Nahrung, die seine Besatzung vor dem gefürchteten Skorbut bewahrte, auch wenn man damals den Zusammenhang der Krankheit mit Vitaminmangel noch gar nicht genau kannte.
Fridtjof Nansen (Mitte) nimmt gemeinsam mit Hjalmar Johansen und Sigurd Scott Hansen Messungen zur Sonnenfinsternis vor. Polarregion, April 1894.
© Norwegische Nationalbibliothek
All das sollte ihm bei seinem Plan helfen: Als Erster wollte Nansen statt gegen das Eis mit ihm durch das Nordpolarmeer reisen. Absichtlich fuhr er ins Packeis vor Sibirien, um sich von ihm über den Nordpol zurück bis nach Grönland treiben zu lassen. Auf die Idee dazu hatten Nansen ein paar Hosen aus Ölzeug gebracht: Die waren 1884 zusammen mit weiteren Trümmern der gescheiterten Jeannette-Expedition auf einer Scholle vor Julianehåb an der Küste Grönlands gefunden worden. Die Jeannette war aber auf ihrer Mission, von Kalifornien aus über die Beringstraße tief in die Arktis vorzustoßen, in der Ostsibirischen See vom Eis eingeschlossen und dort zerdrückt worden. Wie kamen also deren Wrackteile von Sibirien nach Grönland? Nansen folgerte, dass es eine natürliche Drift des Eises quer über die Arktis geben müsse, die die Trümmer der Jeannette von Sibirien bis nach Grönland getragen hatte.
Dieses bekannte Porträt von Fridtjof Nansen nahm Henry van der Weyde um 1890 auf.
© Norwegische Nationalbibliothek / Henry van der Weyde
Nansen lag richtig: Meereis ist nicht statisch, sondern bewegt sich durch den Arktischen Ozean. Heute kennen wir diese Drift recht genau. Durch die zentrale Arktis führt die transpolare Drift aus den Bereichen nördlich von Sibirien bis in den atlantischen Sektor der Arktis. Nördlich von Grönland verzweigt sich diese Drift, ein Teil dreht in die Framstraße ab (in der Nansens Fram vom Eis ausgespuckt wurde und die deshalb nach ihr benannt ist); der andere Teil der Eisdrift verläuft in den Beaufortwirbel, in dem sich das Meereis vor den Küsten Grönlands, Kanadas und Alaskas im Uhrzeigersinn dreht.
Teilnehmer der Nansen-Expedition auf Walrossjagd im Treibeis. Karasee, September 1893.
© Norwegische Nationalbibliothek / Fridtjof Nansen
Viele von Nansens Zeitgenossen hielten es für eine wahnsinnige Idee, ein Schiff freiwillig ins Packeis zu führen, und warfen ihm vor, unverantwortlich zu handeln. Aber Nansen ließ sich nicht beirren. Am 24. Juni startete er mit der Fram in Christiania, dem heutigen Oslo – und das Team beendete die Expedition mit allen an Bord wohlbehalten drei Jahre später in Tromsø, derselben Stadt, von der aus wir gestartet sind. Allerdings traf die Fram ohne Nansen und seinen Begleiter Hjalmar Johansen dort ein: Während das Schiff seine Drift im Arktischen Ozean von der nördlichen Laptewsee bis nach Spitzbergen fortsetzte, machten sich Nansen und Johansen im zweiten Frühjahr der Expedition auf den Weg Richtung Nordpol, auf Skiern und mit Schlitten. Den Nordpol erreichten sie zwar nicht – aber sie stellten einen neuen Rekord auf, indem sie den bis dahin höchsten nördlichen Breitengrad erreichten. Nansen und Johansen kehrten ebenfalls wohlbehalten aus dem Eis zurück, zufällig fast gleichzeitig mit der Fram. Und auch die strich einen Rekord ein: Sie sollte das einzige Holzschiff bleiben, das je so hoch im Norden unterwegs gewesen ist.
Nansens Partner Hjalmar Johansen vor Frederick Jacksons Kabine. Franz-Josef-Land, Juni 1896.
© Norwegische Nationalbibliothek / Frederick Jackson
Vor allem aber brachte Nansen unbezahlbare Erkenntnisse über die Arktis mit, die unsere Arbeit heute erst möglich machen, und er hat unsere eigene Expedition mit der Polarstern inspiriert. Was ihn so faszinierend macht: Er war nicht nur ein Macher, sondern auch ein nachdenklicher, fast melancholischer Mensch. Die gewisse Überheblichkeit anderer Entdecker lag ihm fern, von denen so einige meinten, nichts von den ursprünglichen Bewohnern der Arktis lernen zu können. Weshalb sie mit Pferdeschlitten statt mit Hundegespannen loszogen und auf ihren Schiffen lieber Tafelsilber geladen hatten als Kajaks – wie es für Arktisbewohner üblich war, um sich im Notfall aus dem Eis zu retten. Eine Einstellung, die viele Entdecker vor und nach Nansen in den Tod geführt hat. Nansen stand der unerbittlichen Natur in den Polargebieten demütig gegenüber. Er ging nicht wie andere unter bei dem heroischen Versuch, die Natur zu bezwingen. Er war erfolgreich, gerade weil er sich geduldig auf ihre Gegebenheiten eingestellt hat. In seinem Expeditionsbericht hat er seine Routen und Abenteuer aufgeschrieben, aber er macht sich auch viele Gedanken über die Natur und unsere Rolle darin. Nach seiner Zeit als Polarforscher machte er eine zweite Karriere als Diplomat und wurde für seinen Einsatz für Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Eine beeindruckende Persönlichkeit.
Ich habe Nansens Aufzeichnungen von der Fram oft gelesen und die beiden dicken Bände für unsere Reise mit an Bord genommen. Wie sehr sich die Welt seit seiner Expedition verändert hat, kann ich also nachlesen, während wir fast denselben Weg vor uns haben wie er vor bald 130 Jahren. Nansen musste sich in der von ihm gefürchteten Karasee mühsam einen Weg entlang der sibirischen Küste bahnen und wurde dabei immer wieder durch Eisfelder behindert, die sich aus der Zentralarktis bis zur Küste erstreckten. Wir aber haben freie Fahrt: In der Karasee schwimmt im Spätsommer 2019 nicht mal genügend Eis für ein Glas Whiskey.
Anders sieht es aus, wenn ich auf den Satellitenbildern ein gutes Stück auf unserem Weg vorausblicke, durch die nördliche Karasee weiter entlang der klassischen Nordostpassage: Den direkten Zugang in die Laptewsee nördlich vorbei an Sewernaja Semlja blockiert eine Eiszunge, die östlich der Inseln gen Süden ragt. Zu der Inselgruppe gehören die letzten größeren Inseln, die auf unserem Planeten entdeckt wurden. Auf Nansens Karten gibt es sie noch nicht. Sie sind dem Kap Tscheljuskin vorgelagert und lagen damals so im Eis eingeschlossen, dass Nansen sich ganz nah am Kap vorbeimogeln musste, ohne die großen und weitgehend vergletscherten Inseln nördlicher im Eis überhaupt bemerken zu können.
Für uns stellt sich jetzt die Frage, wie wir unser Zielgebiet bei den derzeitigen Eisbedingungen am besten erreichen. Sollen wir den eisfreien, aber längeren Weg durch die Wilkizkistraße zwischen Inseln und Festland nah vorbei an Kap Tscheljuskin nehmen – oder den direkten Weg am nördlichsten Punkt von Sewernaja Semlja vorbei, dem Kap Arktitscheski, und dann versuchen, uns hier einen Weg durch das Eis zu bahnen? Oder aber hangeln wir uns zwischen den Inseln durch und queren die Schokalski-Straße, einen engen felsigen Durchlass, um damit wenigstens den Großteil der Eiszunge zu umgehen?
Um dies beurteilen zu können, müsste man die Dicke und Stabilität des Eises kennen. Aber darüber sagen uns die Satellitenbilder leider nichts. Zum Glück waren in diesem Spätsommer zwei Schiffe in der Gegend: die Tryoshnikov, ein Eisbrecher unserer russischen Kollegen, der unsere Treibstoffdepots auf Sewernaja Semlja ausgebracht hat, von denen noch die Rede sein wird, und die deutsche Bremen. Von beiden Schiffen holen wir Informationen über die Bedingungen in der Region ein. Übereinstimmend berichten sie, dass die Schokalski-Straße derzeit schiffbar sei, aber auf ihrer Ostseite durch viele gestrandete Eisberge blockiert wird, die vorsichtig umfahren werden müssten – im dichten Nebel, der dort oft auftritt, kein ganz einfaches Unterfangen.
Über die Eiszunge berichtet uns die Tryoshnikov, dass sie aus sehr festem Eis mit Dicken von teilweise über 150 Zentimetern besteht und besser umfahren werden sollte. Der Kapitän und ich stimmen darin überein, uns zunächst alle drei Optionen offenzuhalten. Wir bleiben aber zunächst weiter auf Kurs zum Kap Tscheljuskin.
Langsam setzt eine gewisse Routine hier an Bord ein. Wir verbringen so viel Zeit wie möglich draußen an Deck. Sehen zu, wie wir durch die Wellen gleiten, freuen uns über die Bewegung, das sichtbare Vorankommen, jetzt, wo wir den Kurs noch selbst bestimmen. Denn damit wird es bald vorbei sein. Wenn wir uns erst vom Eis einschließen lassen, bewegt sich nichts mehr – alles wird statisch und der Kurs vom Eis vorgegeben.
Und doch: Man merkt, dass jeder dem Moment entgegenfiebert, wenn wir auf das Eis treffen. Denn dann beginnt die Hauptphase der Expedition, für die wir alle aufgebrochen sind: die Drift mit dem Eis durch die Arktis. Wir freuen uns darauf.
Am Abend öffnen wir zum ersten Mal die Bar, die wegen ihrer gewöhnungsbedürftigen Dekoration liebevoll »das Zillertal« genannt wird: Tischdeckchen, rotes Licht und die über und über mit Stickern beklebte Theke mit den Logos all der Fahrten, die unserer vorangegangen sind. Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Expeditionsteilnehmer lernen sich nun richtig untereinander kennen. So langsam bilden wir eine eingeschworene Truppe, ein kleiner Haufen Menschen, die die nächsten Monate mehr als tausend Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Seele zusammen im Eis der zentralen Arktis verbringen werden. Wir wissen, dass wir großartige Erlebnisse vor uns haben. Das schweißt sehr schnell zusammen.
Später in der Nacht begrüßt uns die Arktis mit einem der beeindruckendsten Schauspiele, die sie zu bieten hat – dem Polarlicht. Draußen zieht sich ein weiter Bogen aus grünem Licht über den Himmel. Er bewegt sich träge vor dem Hintergrund der funkelnden Sterne, wie ein Vorhang, der im Windhauch sachte Wellen schlägt. Wird an einer Stelle plötzlich aktiv, wickelt sich in eine Spirale auf, wird heller und tropft herunter, wirft Finger aus Licht ins Firmament, wird gleich darauf gemächlich wieder ruhiger, bleicht aus – um ein paar Minuten später aus dem nächsten Lichtfinger an anderer Stelle eine neue Welle über das ganze Himmelsgewölbe zu schicken, sich einzudrehen und wieder abzuflauen. Während das Lichtband über den Zenith schlängelt, fallen dort sternförmige Strahlen herunter, grün, das obere Ende leicht in roten bis violetten Tönen schimmernd. Stundenlang liege ich rücklings auf dem Peildeck und schaue mir das Schauspiel an, während das Schiff in den Wellen voranstampft.
Das Expeditionsteam der ersten Phase im Meetingraum der Polarstern.
© Markus Rex
Polarlichter faszinieren mich immer aufs Neue. Ich habe sie so oft gesehen, aber bislang immer mit klirrend kalter Luft, knirschendem Schnee unter den Füßen und Dampfwolken aus meiner Atemluft verbunden, so wie sich die hohe Arktis im richtigen Winter anfühlt. Im Sommer dagegen sieht man sie dort nicht, da ist es während des Polartags zu hell.
Ich kann mich noch gut an meine ersten Polarlichter im Januar 1992 auf Spitzbergen erinnern. Polarnacht, ich kannte die Arktis noch gar nicht und war mit der Gegend auch noch nicht im Hellen vertraut. Trotzdem hatte ich mich weit von unserer Forschungsstation entfernt, um mir das Schauspiel ungestört von deren Lichtern anzuschauen, natürlich mit Gewehr, wegen der Eisbären. Alles war neu, die eisige Arktisluft, die man im Gesicht auf jedem Millimeter freier Haut spürt – die einen aber nicht frieren lässt, weil sie so trocken ist. Und dann die merkwürdigen Geräusche, die eine Schneefläche bei unter – 30 Grad macht. Wenn man sie belastet, bricht die obere, vom Wind verdichtete Schneedecke manchmal mehrere Meter entfernt und macht dort Geräusche. Es hört sich an wie Schritte, da draußen im Dunkeln, wo die Eisbären sein könnten. Aber dort ist nichts, beruhige ich mich und begreife den Effekt mit der brechenden Schneedecke. Dann quietscht und knirscht es plötzlich einige Meter hinter mir. Ach ja, dort ist ja der Fjord, und die Bewegung des Eises auf ihm macht diese Geräusche. Keine Bären, ich kann also weiter hier stehen und das Polarlicht in der einzigartigen arktischen Luft beobachten.
So habe ich Stunden da draußen verbracht und die Eindrücke in mich aufgesogen. Dabei sind die Polarlichter auf Spitzbergen gar nicht mal die aktivsten – unsere Forschungsstation auf der Insel liegt schon etwas zu weit nördlich. Ich erinnere mich, wie ich in Nordfinnland einem zugefrorenen Fluss stundenlang auf Skiern folgte und das Polarlicht über mir noch intensiver seine Kapriolen und Wellen schlug.
Der Himmel wird unglaublich groß, wenn sich ein Polarlicht darüber erstreckt. Er wird plastisch und wirkt viel mehr als sonst wie ein Gewölbe, wie eine riesige Halbkugel über unserer Erde. Die Formen ändern sich unablässig, mal langsam und behäbig, mal schneller, aber nie hektisch. Polarlichter strahlen eine unglaubliche Ruhe aus.
Es gibt Berichte, eher Sagen, dass Polarlichter von Geräuschen begleitet sind. Ich habe solche nie vernommen und verbinde mit dem Polarlicht eher die absolute Stille der Arktis und ihre geruchlose, eisige Luft.
Und nun liege ich hier auf dem Deck der rollenden Polarstern, und es herrschen sogar Plusgrade, während ich das Schauspiel verfolge. Die Luft ist anders hier auf dem Ozean, viel wärmer und voller Gerüche. Kein Moment ist wie der andere; man kann viele Leben lang in den Polargebieten unterwegs sein und entdeckt doch jedes Mal Neues – wenn man bereit ist, hinzuschauen und die Eindrücke in sich aufzunehmen.
Werden wir dieses Schauspiel ab jetzt in jeder klaren Nacht haben? Nansens Expeditionsteam berichtet davon.
Aber das Polarlicht ist komplex. Es kommt zustande, wenn Sonnenwinde auf die Erdatmosphäre treffen. Da der Sonnenwind aus geladenen Teilchen besteht, hauptsächlich Elektronen und Protonen, werden diese vom Magnetfeld der Erde eingefangen, abgelenkt und in Schüben über den Polargebieten Richtung Erde geschickt. Hier fallen sie in einem Oval um die magnetischen Pole herum auf die oberen Ausläufer unserer Atmosphäre und bringen sie zum Leuchten. Gleichzeitig verändern die Partikel das Magnetfeld selbst, was zu den vielfältigen Bewegungen des Polarlichts führt. Zwei Dinge lassen es aber wenig wahrscheinlich erscheinen, dass wir später noch viele Polarlichter sehen werden – anders als bei den häufigen und spektakulären Himmelsschauspielen auf Nansens Expedition.
Erstens: Das Polarlichtoval bewegt sich in etwa 20 Breitengraden Abstand um den Magnetpol herum – und der Magnetpol wandert über die Jahrzehnte. Zu Nansens Zeiten lag er in Nordkanada, in den letzten Jahren hat er förmlich einen Sprint in Richtung des geografischen Nordpols hingelegt und befindet sich jetzt relativ nah an diesem. Wir werden bald deutlich nördlicher unterwegs sein als Nansen und werden dem Magnetpol also viel näher sein als der Norweger damals. Und damit sind wir sogar zu nördlich für das Polarlicht! Tatsächlich werden wir uns auf dieser Expedition größtenteils jenseits des Polarlichts bewegen, zu weit entfernt, um es gut sehen zu können.
Zweitens unterliegt der Sonnenwind einem elfjährigen Zyklus. Während Nansen genau in einer sehr aktiven Phase des Sonnenwinds unterwegs war, fällt unsere Expedition in dessen Minimum.
Allzu viele Polarlichter werden wir später wohl nicht zu sehen bekommen. Also schauen wir in dieser Nacht sehr lange in den Himmel. Bald werden wir das Eis erreichen.
Auf dünnem Eis
In der Nacht haben wir Nowaja Semlja hinter uns gelassen, durchfahren nun die Karasee mit Kurs Nordost und halten auf die Inselgruppe Sewernaja Semlja zu. Dahinter liegt sie: die Eiskante. Auf unserem Weg dorthin machen wir im offenen Wasser weiter gute Fortschritte und laufen mit jetzt etwa 12 Knoten gegen steifen Wind an. Die See ist belebt und lässt die Polarstern munter schaukeln. Die Sonne zeigt sich kaum – wie immer in diesen Tagen.
Die Eiszunge, die wir vorher auf der Ostseite Sewernaja Semljas beobachtet haben, hat sich auf den neuesten Satellitenkarten etwas zurückgezogen. Also beschließen wir, diese Route zu nehmen: nördlich um Sewernaja Semlja herum, um dann zu versuchen, die Eiszunge östlich der Inselgruppe zu durchbrechen, um so in das offene Wasser der Laptewsee zu gelangen. Wir nehmen also Kurs auf Kap Arktitscheski, den nördlichsten Punkt der Sewernaja Semljas.
Die Barents-, Kara- und Laptewsee sind flache Randmeere auf dem sibirischen Kontinentalschelf. Das Meer ist hier selten tiefer als 200 Meter, und oft genug zeigt das Echolot nur wenige Dutzend Meter bis zum Meeresgrund. Die Polarstern hat aber selbst schon elf Meter Tiefgang – und die Seekarten für diese Region sind trügerisch und unvollständig.
Auf dem Weg durch die Karasee passieren wir zwei kleine Inseln, die Uschakow- und die Wiese-Insel. Unser Navigationsoffizier hat anhand der Seekarten einen Kurs festgelegt, der uns sicher zwischen ihnen hindurchleiten sollte. Hier sollten Wassertiefen jenseits von 150 Metern herrschen. Doch plötzlich sinkt die Anzeige des Lots rapide ab: 100 Meter, 80 Meter, 60 Meter … nur noch 35 Meter! Der Wachoffizier reißt auf der Brücke das Steuer hart nach Backbord, weg von der Wiese-Insel auf Steuerbord. Jetzt nimmt die Tiefe schnell wieder zu. Das ist gut gegangen. Noch ein zweites Mal müssen wir ausweichen: Bis heute ist die flache Karasee nur schlecht kartiert.
Es ist früher Morgen, als wir Kap Arktitscheski in nur etwa 20 Kilometern Entfernung umrunden. Sehen können wir es nicht, denn der Himmel ist wolkenverhangen und diesig. Dadurch verpassen wir unsere letzte Gelegenheit, noch einmal Land zu sichten. Nun sind wir in der Laptewsee, und das Eis kann nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Wir nehmen zunächst Kurs auf Südost, um die Eiszunge noch etwas nach Süden zu umgehen, dann drehen wir entschlossen nach Osten, direkt auf das Eis zu. Alle erwarten nun gespannt den Moment, in dem wir die Eiskante erreichen. Ab mittags drängen sich die meisten an Deck oder stehen auf der Brücke und spähen gebannt in die Ferne.
Die Arktis besitzt eine ganz eigene subtile Schönheit. Diese ist vielleicht nicht so bombastisch und auf den ersten Blick überwältigend wie die der Antarktis mit ihren atemberaubenden Eisbergen, dem mächtigen, nach Superlativen heischenden Eisschild und den brummenden Pinguin- und anderen Tierkolonien, den größten der Welt.
Auf die Arktis muss man sich einlassen. Was ihre Schönheit ausmacht, ist die unendliche Weite des Eises. Die absolute Ruhe, nur durchbrochen von den leisen, knirschenden und quietschenden Geräuschen, mit denen sich Eisbrocken aneinanderschieben. Die klirrende Luft, das sachte Treiben der Schneekristalle über den weiten Eisflächen, die einzigartigen Lichtstimmungen, die sich im Laufe des Jahres ganz allmählich ändern.
Natürlich gibt es auch hier die lauteren, dramatischen Eindrücke, etwa wenn sich Presseisrücken mit massiver Wucht auffalten, mächtige Eisbären vorbeiziehen oder das Polarlicht in überirdischen Formen über den Himmel zieht. Aber wenn man mich fragt, was die Arktis ausmacht: Es sind eher die leisen Eindrücke, die genaues Hinsehen und aufmerksames, langsames Aufnehmen erfordern. Das zieht mich immer wieder hierhin zurück.
Allmählich treiben die ersten Eisschollen im offenen Wasser neben uns vorbei, noch klein und zerbrechlich, dann werden sie größer und mehr. Gleich auf einer der ersten von ihnen, voraus auf Backbord, entdecken wir einen Eisbären. Er sitzt seelenruhig da und betrachtet neugierig das Schiff. Als unser blau-weiß-orangefarbener Stahlkoloss näher auf ihn zukommt, wird ihm die Sache doch irgendwann unheimlich: Er springt ins Wasser und schwimmt mit kräftigen Zügen davon.
Und dann, ziemlich plötzlich, gegen drei Uhr, sehen wir voraus nur noch Weiß.
Wir können die Eiskante am Himmel entdecken, noch bevor wir sie erreichen. Über uns ist der Himmel grau. Aber dort voraus ist er hellweiß, scharf abgegrenzt von dem graueren Bereich über uns – das ist der Eisblink.
Dieser Effekt kommt zustande, weil Eis das meiste Licht auf die Wolken zurückwirft – anders als das dunkle, offene Meer, in dem wir uns noch bewegen. So zeichnet die weite Eisfläche ein fast inverses Bild am Himmel und lässt ihn hell aufleuchten. Genauso geht es auch andersherum: Wenn man sich tief im Eis befindet, zeichnet sich offenes Wasser am Horizont als bedrohliches Grau am bewölkten Himmel ab, der eigentlich weiß ist: der Wasserhimmel. Wer den Effekt nicht kennt, meint den Aufzug eines gewaltigen Unwetters zu sehen – in Wirklichkeit ist es einfach nur das Fehlen der Beleuchtung der Wolken von unten an Stellen, an denen kein Eis darunterliegt. Seefahrer nutzen den Wasserhimmel gerne, um Rinnen offenen Wassers im Eis aufzuspüren, durch die das Schiff besser vorankommt. So können sie freie Wege erahnen, lange bevor sie sie tatsächlich sehen.
Und dann erreichen wir endlich die Eiskante. Das Schiff bäumt sich auf. Ein Zittern geht durch den Rumpf, als wir auf die harten Eisschollen treffen. Und unsere Polarstern tut, was sie am liebsten tut: Sie bahnt sich wacker ihren Weg durch das Eis. Es kracht und knirscht, rumpelt und wirft das Schiff hin und her, aber Polarstern hält das nicht auf. Nur manchmal kommt sie an einer massiven Scholle kurz ins Stocken, bis sie sich hindurcharbeitet und wieder Fahrt aufnimmt.
Auf die dickeren Schollen gleitet sie etwas auf und bricht mit ihrem Gewicht das Eis unter sich – genau für diese Methode sind Eisbrecher mit ihrem flachen, gewölbten Bug gebaut. Vom Bug ausgehend bildet sich voraus Riss um Riss, entlang denen die Polarstern das Eis auseinanderdrückt. Die Trümmer der zerbrochenen Schollen stellen sich an der Bordwand senkrecht auf, während sich das Schiff hindurchschiebt. Wir kommen hier sogar im Eis oft noch mit sieben Knoten voran. Nur die dickeren Stellen bremsen uns auf zwei bis drei Knoten ab, selten auch bis zum Stillstand.
Am 25. September erreicht Polarstern die Eiskante östlich von Sewernaja Semlja.
© Alfred-Wegener-Institut / Stefan Hendricks (CC-BY 4.0)
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