Verwirrt sah ich mich um, musterte die schwarze Mauer vor mir. Das fiese Loch, durch das der Pfeil geflogen war, war verschwunden. Glatter Stein. Kalt und unheimlich wie der Rest der gesamten Festung. Sie war riesig. Zehn Hauslängen hoch. Mindestens. Ihre gezackten Zinnen sahen aus wie die Zähne eines Ungeheuers. Keine Fenster. Nichts.
Ich wusste, dass schon viele Flugschiffe versucht hatten, diese Mauern zu überwinden. Doch die Steinwände wuchsen mit. Egal wie hoch das Schiff auch kam: Da war stets dieser undurchdringliche, alles dominierende Wall.
Der Schrei war eher seitlich gekommen. Von rechts. Ich drehte mich im Liegen um und musterte die Gegend.
Die Oberfläche der Wolke war hubbelig wie eine Hügellandschaft und strahlend weiß wie frisch gefallener Schnee. Ich spürte den Regen in ihrem Inneren rumoren. Sie war vollgesogen mit Wasser. Dass sie dabei eine riesige Festung auf dem Buckel trug, behinderte sie nicht sonderlich.
Alles wirkte so, wie es sein sollte. Blauer Himmel, weiße Wolke, finstere Mauer. Nur hockte mittendrin eine dunkle Gestalt.
Ich stutzte. Sah genauer hin. Tatsächlich. Da saß jemand an der Stelle, wo eigentlich die Eisskulptur stehen müsste. Ich hatte sie bei meinen vorherigen Besuchen bewundert. Ein gruseliges Ding. Es zeigte einen Mann auf Knien, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und gen Himmel schrie.
Statt der Figur hockte da jetzt … ein Mann? Ein Junge? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall war er ganz in Schwarz gekleidet, was ihn jetzt nicht unbedingt vertrauenserweckender aussehen ließ. Mal ganz davon abgesehen, dass er schrie.
Hatte er Schmerzen? Nein. So klang das weniger. Eher wie Wut. Oder Trauer?
Was er auch fühlen mochte und aus welchen Gründen er so fürchterlich schrie: Er jagte mir damit eine Heidenangst ein. Es war ein Laut, der hier fehl am Platz war. Ein Laut, der aus den Tiefen seiner Seele hervorbrach.
Ich sah ihm eine Weile reglos dabei zu. Er kniete, sodass seine Beine von den wabernden Wolkenfetzen verschluckt wurden. Die Arme hatte er ausgebreitet, als wollte er fliegen. Da er zum Himmel blickte, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, doch das war ohnehin nebensächlich.
Er schrie nämlich weiterhin. Wenn ich dachte, er hörte auf, fing er erneut an.
Mir wurde es unheimlich. Und zwar noch unheimlicher, als mir sowieso schon zumute war. Diese Festung hatte einst dem Wolkenvolk gehört. Das gab es allerdings längst nicht mehr. Hier sollte also niemand mehr sein.
Vor siebzehn Jahren waren die Bewohner wie Regen vom Himmel gefallen. Einer nach dem anderen. Über Wochen. Tage. Sie waren meilentief gestürzt und unten auf der Erde aufgeschlagen. Kein einziger hatte diesen Sturz überlebt. Ich war damals noch ein Säugling und kannte »den großen Blutsturz« nur aus Erzählungen. Doch schon allein die Erinnerungen an die Geschichten ließen mein Blut zu Eis werden.
Es müssen gruselige Wochen gewesen sein.
Von einem Tag auf den anderen hörten die Stürze schließlich auf. Mein Vater war der Meinung, dass alle Himmelsmenschen gefallen waren. Es gab niemanden mehr, der hätte stürzen können. Meine Mama vertrat, wie so viele, die These, das Wolkenvolk sei einfach verschwunden. Puff. Wie so manche Wolke, die sich in den heißen Sonnenstrahlen auflöste. Für sie war es unvorstellbar, dass wirklich ein ganzes Volk in den Tod gestürzt war. Blieb die Frage: Wo war es dann abgeblieben?
Der Grund für den Absturz der Himmelsleute blieb jedoch ein Rätsel.
Seit siebzehn Jahren standen die Wolkenstädte leer. Geheimnisvolle tote Mahnmale einer längst vergangenen Zeit. Wir vom Erdenvolk hatten danach einen Teil des Himmels erobert. Hatten uns angepasst. Möglichkeiten entdeckt, in dieser feindlichen Welt zu überleben. Alles dank der Wolle unserer Wolkenschafe.
Die Tiere waren das Einzige, was vom Wolkenvolk übrig geblieben war. Erdenbewohner hatten sie Wochen nach dem großen Blutsturz auf einer Wolke gefunden. Einhundertzweiundsechzig Schafe. Zunächst konnte niemand etwas mit ihnen anfangen. Es muss ein schwieriges Unterfangen gewesen sein, die ersten Tiere einzufangen. Aber dann entdeckten Wissenschaftler das Geheimnis der Wolle – und für uns Erdenbewohner stand der Himmel frei.
Mir waren die vielen Löcher in der Geschichte stets ein Dorn im Auge. Zeit meines Lebens stellte ich ungemütliche Fragen: Wie waren wir ohne Wolle hoch zu den Festungen gelangt? Wer hatte die Idee gehabt, die Schur auf diese Weise zu verarbeiten? Ich hatte mir jedes Mal eine Menge Ärger eingehandelt, wenn ich nachgebohrt hatte. Die Reaktion meiner Umgebung hatte mich dabei noch misstrauischer werden lassen.
Das war jedoch noch lange nicht das einzig Rätselhafte.
Bis heute hatte niemand die Wolkenstädte betreten. Das war viel zu gefährlich, wie man an meinem Beispiel gut sehen konnte. Außerdem kam auch niemand rein. Es gab keine Eingänge.
Nur glatte schwarze Mauern. Bei jeder der sechs Himmelsfestungen.
Das Wolkenvolk war tot, und seine Festungen bewahrten das Geheimnis seines Niedergangs. Bis heute.
Ich schluckte, als ich allmählich die Tragweite meines Problems begriff. Ich kannte jeden Hirten. Jeden Menschen, der in die Kunst der Wolle eingeführt worden war. Wirklich jeden, der hier oben herumspazieren konnte.
Der Typ hingegen war mir unbekannt. Folglich konnte er kein Erdenmensch sein. Und folglich …
Unfassbar!
Nur zögernd richtete ich mich auf. Zum einen hatte ich Angst, plötzlich von einem riesigen Speer aus den unheimlichen Festungsmauern durchbohrt zu werden. Zum anderen wollte ich lieber nicht die Aufmerksamkeit des mysteriösen Mannes auf mich ziehen. Obwohl er kaum älter aussah als ich.
Was, wenn er mich angriff? Glaubte man den Erzählungen, hatten wir vom Erdenvolk vor dem großen Blutsturz nichts mit dem Wolkenvolk zu schaffen gehabt. Sie waren auf uns gefallen. Mehr Berührungspunkte hatte es nicht gegeben.
Dieser Typ war jedoch äußerst real, selbst wenn er sich momentan wie ein Irrer benahm und auch so aussah. Um ehrlich zu sein, war ich momentan alles andere als scharf darauf, mich mit einem wütenden Wolkenbewohner auseinanderzusetzen. Klar. Solch eine Zusammenkunft war garantiert historisch. Einzigartig. Das war ein Eisdrache aber auch. Und dem war ich gerade schon über den Weg gelaufen. Das reichte mir fürs Erste mit Begegnungen der Kategorie »extrem unheimlich«.
Ich musste ein Geräusch gemacht haben, denn der Mann hörte abrupt mit der Schreierei auf und wirbelte herum. In der gleichen Bewegung kam er auf die Füße, was gruselig aussah. Als sei er eine Marionette, die an ihren Fäden hochgezogen wurde. Erst jetzt bemerkte ich, dass er einen langen, dunklen Mantel trug, der wie Seide um ihn herumfloss und wie Rabenfedern schimmerte. Schön und schrecklich zugleich.
Waren das Eiskristalle, die da von ihm abfielen? Und was zur Hölle zog er da hervor? Scheiße! Ein Schwert!
Ich kam hoch, hob hastig die Arme und trat einen großen Schritt zurück. »Hey, hey«, sagte ich mit meiner besten Hirtenberuhigungsstimme. »Ganz langsam. Ich tu dir nichts.«
Die Frage war ohnehin, wer hier wem was tun wollte. Ich war siebzehn Jahre. Zierlich. Im Vergleich zu ihm winzig und eher schwach.
Denn jetzt, als der Typ stand, sah er aus, als könnte er mit einem einzigen Handschlag Bäume fällen und dabei Tee trinken, ohne was zu verschütten. Hatte ich erwähnt, dass er Furcht einflößend war?
Wir starrten uns an. Da wir noch gut zehn Schritte auseinanderstanden, konnte ich seine Augenfarbe nur undeutlich erkennen. Blau? Ich bemerkte die zotteligen dunkelbraunen Haare, den dunklen Bartschatten auf seinen Wangen und den irren Blick. Besonders den irren Blick.
Wäre er ein Schaf, hätte ich jetzt sanft gegurrt und Dinge wie »Alles wird gut, mein Kleiner« oder »Na, na, wer wird denn gleich so garstig sein?« gesagt. Angesichts des komischen Eisschwertes in seinen Pranken nahm ich von dieser Art der Beruhigung Abstand und machte mich stattdessen ganz klein. Süß und knuffig auszusehen half in dem Fall besser als jedes noch so sanft gesprochene Wort. Ich hätte mich eh nur um Kopf und Kragen geredet. Wie immer. Außerdem hatte mir meine Mama eingebläut, nicht mit Fremden zu sprechen. Und dieser Typ hier war definitiv völlig fremd. Fremder ging nicht.
Sein schwarzer Mantel war ein scharfer Kontrast zum weißen Untergrund. Es waren tatsächlich kleine Eiskristalle, die sich in seinen Haaren verfangen hatten. Auch seine Haut wirkte wie aus Glas. Sie war etwas heller als bei uns Erdenmenschen. Zum Glück glitzerte er nicht wie der Eisdrache. Dann wäre ich kreischend weggelaufen.
Mir war nur allzu bewusst, dass wir uns an der Stelle der Eisskulptur befanden. Der schreiende Mann. Ein Kunstwerk. Doch das war … weg. Einfach fort. Stattdessen hockte dort dieser Typ.
Nein! Ich weigerte mich, diesen Gedanken wirklich in Betracht zu ziehen. Es war albern. Lebendig werdende Eisskulpturen gab es nicht. Auf der anderen Seite gab es auch keine Leute mehr vom Wolkenvolk – und hier hockte einer von ihnen. Oder?
Was war denn schlimmer? Atmende Eisskulpturen oder lebendige Leute vom Wolkenvolk?
Bitte, flehte ich in Gedanken. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ich hatte schon eine Menge merkwürdiger Dinge erlebt und gesehen, aber das war eine ganz neue Stufe.
Ehrlich gesagt war der Mann vor mir schön. Auf eine fremde, seltsame Art. Theoretisch mochte ich markante Gesichtszüge eher weniger, aber bei ihm passte das Gesamtkonzept. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich.
Im Gegensatz zu mir hatte er riesige Augen, für die jede Frau töten würde. Darüber lange, dunkle Wimpern und perfekt geschwungene Augenbrauen. Kein Vergleich zu meinen struppigen Büschen. Ich hatte es aufgegeben, sie bändigen zu wollen. Hier oben gab es andere Probleme als mein Aussehen. Außerdem sah mich eh niemand.
Bis jetzt.
»Ich bin Aya Teufelsbraut von der Hirtengilde, Tochter von Sinus Münzentanz, Vorsitzender der Händlergilde«, stellte ich mich schließlich steif vor. Ich machte eine Mischung aus Knicks und Verbeugung und kam mir dabei reichlich dämlich vor.
Wenigstens erreichte ich, dass er langsam sein Schwert sinken ließ, bis die tödliche Spitze von der Wolke verschluckt wurde. Hilfe! Das Teil war fast so lang wie ich. Wie konnte er das überhaupt heben?
Eine Pause entstand, in der mich der junge Mann von oben bis unten musterte. Er analysierte meiner Meinung nach, wie gefährlich ich war. Kein besonders angenehmes Gefühl. Erst dann atmete er tief ein und ließ sich langsam auf die Knie sinken. Als hätte er keine Kraft mehr, sich auf den Beinen zu halten.
»Wehe, du fängst wieder mit deinem Gebrüll an«, warnte ich ihn streng. Hatte ich erwähnt, dass ich plappere, sobald ich nervös werde? Ein Umstand, der mir schon die eine oder andere Prügelei eingehandelt hatte. Wolkenschafhirten waren normalerweise harte, raue Kerle. Das mussten sie auch sein, um so lange allein in dieser unwirtlichen Welt zu überleben. Ich war ein weiblicher Paradiesvogel unter den Hirten. Das hieß nur keineswegs, dass sie mir alles durchgehen ließen. Besonders wegen meines nervtötenden Geplappers war es schon öfter ungemütlich für mich geworden.
Der seltsame Typ warf mir auch einen entsprechend irritierten Blick zu. Ich störte mich nicht daran, denn ich hatte mein Ziel erreicht: Er blieb stumm.
In einer Kinderfibel hatte ich gelesen, dass man Raubtieren auf Augenhöhe begegnen sollte. Deshalb ließ ich mich langsam auf die Knie sinken, um ungefährlich zu wirken. Möglichst unauffällig schob ich mir dabei die grüne Wolle unter die Knie. Reine Haltewolle. Mit ihrer Hilfe hielt ich mich des Nachts im Schlaf an Ort und Stelle. Sie pappte schlimmer als jedes Kaugummi.
Der Kerl schien meine Bewegung gesehen zu haben, denn seine Augen wurden größer. Er starrte die Wolle an, dann mich, dann wieder die Wolle.
Anschließend ging alles unglaublich schnell. Innerhalb eines Lidschlags war er auf den Beinen, überwand den Abstand zwischen uns mit fünf Schritten und riss mich um. Ich spürte die Kälte des Eisschwertes an meiner Kehle und seinen heißen Atem im Gesicht.
Dass ich nicht rücklings durch die Wolke plumpste, lag nur an seinem festen Griff. Er hatte sich meinen Kragen geschnappt und schüttelte mich.
»Woher hast du das?«, brüllte er. Vor Wut stahl sich ein Hauch Farbe in sein kristallenes Gesicht.
Ich erstarrte vor Angst und hielt die Luft an. Trotzdem schnitt die scharfe Klinge in meine Haut ein. Nur ganz leicht, aber es reichte, um meinen Puls ins Nirvana zu schießen.
Verdammt, war der schnell. Verdammt, war der unheimlich. Und verdammt – wäre ich doch nur weggelaufen, anstatt ein Pläuschchen zu halten. Und was zum Teufel meinte er? Die Wolle?
Er schüttelte mich erneut, was die Klinge automatisch tiefer in meine Haut trieb. Jetzt spürte ich Blut, das mir am Hals entlanglief. Das Adrenalin in meinen Adern sorgte dafür, dass ich keinen Schmerz verspürte. Gleichzeitig ging ich verzweifelt meine Möglichkeiten durch.
Die waren … eingeschränkt.
Ich wollte mich soeben buchstäblich um Kopf und Kragen reden, als es neben uns knurrte. So finster, so bedrohlich, dass wir beide den Kopf wandten und direkt in Fluses wutfunkelnde Augen blickten. Sie sah aus wie ein Hund, hatte allerdings die Furcht einflößenden Pupillen einer Katze. Geschlitzt und leuchtend, egal ob Tag oder Nacht. Ihr schneeweißes Fell war gesträubt, sodass sie noch größer als sonst wirkte. Dabei ging sie mir schon im Normalfall bis zur Hüfte.
Hinter ihr stand meine Herde und starrte den jungen Mann mindestens genauso empört an wie Fluse, wobei das bei Schafen nur halb so dramatisch aussah. Am finstersten sah dabei Leithammel Donnerwetter aus: Er senkte seine beeindruckenden Hörner und wirbelte wie ein Stier in der Arena mit dem Vorderhuf die Wolken auf.
Ich hatte jetzt mit vielen Reaktionen gerechnet. Dass mich der Typ als Geisel nahm oder nach Fluse schlug und mich dabei zu Boden stieß. Mein Todesurteil. Doch er tat etwas völlig anderes. Wie in Hypnose ließ er meinen Kragen los, machte einen Bogen um Fluse und eilte zu meinen Wolkenschafen.
Fassungslos beobachtete ich, wie sich meine Schafe um ihn scharten und ihn beschnüffelten. Wären sie Hunde gewesen, hätten sie vor Begeisterung mit den Schwänzen gewedelt. Als Schafe begnügten sie sich damit, ihn anzustupsen.
Was …?
Auch Fluse gefiel das wenig, denn sie knurrte böse. Bevor sie ihm allerdings in den Hintern beißen und sich eine Schlacht mit seinem Schwert liefern konnte, legte ich ihr mahnend eine Hand auf den Nacken. Ruhig Blut, sagte ich ihr damit. Sie hatte ein noch hitzigeres Temperament als ich, was im Allgemeinen keine gute Kombination war. Wir galten als gefürchtetes Hirtenduo. Zu Recht.
»Die Wolle kommt von denen da«, beantworte ich schließlich mit einiger Verspätung die Frage des Fremden. Er hockte auf den Knien und hatte meinem Leithammel einen Arm um den Hals geschlungen, sein Gesicht in seine dicke Wolle gedrückt. Donnerwetter ließ es zu und wirkte dabei sogar noch erfreut. Verräterschafe. Allesamt.
Meine gesamte Herde scharte sich jetzt um den Fremden und ließ sich streicheln. Hallo? Wer war hier ihr Hirte? Er oder ich?
Erneut glimmte pure Wut in mir auf, doch ich kämpfte sie nieder. Es war total albern, neidisch oder zornig auf den Typen zu sein. Dumm und kindisch. Und dennoch … mir gefiel das alles nicht. Hinzu kam, dass sich die Wolke unter mir anders verhielt als normal. Sie vibrierte ganz leicht. Als zitterte sie. Senkte sie sich ein Stück ab? Verrutschte die Festung um einen Millimeter? Ich war unsicher. Was es auch sein mochte: Es war jedenfalls ein unangenehmes Gefühl.
Ich warf der Mauer neben mir einen scharfen Blick zu. Da rührte sich nichts. Anscheinend spielten mir meine Nerven schon Streiche.
Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf den Fremden. Der tätschelte erst jedes einzelne Schaf, bevor er sich mir zuwandte. Er starrte mich an, als sähe er mich mit neuen Augen. Dann nickte er.
»In Ordnung, Aya Teufelsbraut von der Hirtengilde. Ich lasse dich leben.«
»Wie nett von dir.« Ich hoffte, er verstand Ironie und deutete mit einem Zeigefinger auf Fluse. »Sie dich auch, wenn du dich ab jetzt benimmst. Erst fragen, dann die Antwort abwarten. Wenn du sie doof findest, kannst du mich erneut angreifen, wobei ich dir das in keinster Weise empfehlen würde. Fluse hat spitze Zähne und unfassbar schlechte Laune.«
Er musterte den Hirtenhund, der ihm dramatisch die besonders tödlichen Fangzähne zeigte. Er sah eher unbeeindruckt aus. »Fluse«, wiederholte er leise. Dann sah er mich an. »Du hast eine Festungsbestie Fluse genannt?«
Festungsbestie? Ich hatte keinen Schimmer, was das sein sollte. »Keine Festungsbestie«, stellte ich richtig. »Sie ist ein Hütehund. Und ein sehr guter.«
Er ignorierte meine Worte und steckte stattdessen sein riesiges Schwert weg, indem er es unter seinen Mantel stopfte. Wie, bei allen Schafen dieser Welt, passte das darunter? Und wo verstaute er das Ding?
Nachdem die Waffe aus meinem Blickfeld verschwunden war, entspannte ich mich. Dem Fremden musste es ähnlich ergehen, denn er lehnte sich an Donnerwetter. Der ließ das zu, was wirklich bemerkenswert war. Das durfte noch nicht mal ich!
Ich ahnte natürlich, warum die Tiere und der Fremde so vertraut miteinander waren. Den Gedanken fand ich jedoch viel zu schauderhaft. Wolkenschafe. Die Tiere stammten von hier. Offenbar waren sich meine Schafe und der Mann schon mal begegnet.
Erst jetzt registrierte ich, dass sein Gesicht mit jeder verstreichenden Minute weniger kristallen wirkte. Es nahm menschlichere Züge an. Das hieß nur nicht, dass er dadurch gesünder aussah. Die Haut war jetzt statt bläulich eben grau. Kränklich. Als wäre er vollkommen erschöpft.
Ich ließ die Stille einen Moment zu, um mich zu sortieren. Dann nahm ich einen weiteren Anlauf, um mein Gegenüber besser kennenzulernen. »Wie heißt du?« Ich rechnete eher weniger mit einer Antwort, aber da irrte ich.
»Enron.« Er sprach seinen Namen leise und eher zögernd aus. Als hätte er ihn schon lange nicht mehr benutzt.
Ich wartete, ob er noch einen Nachnamen oder seine Gildenzugehörigkeit hinzufügte, doch er schwieg. Stattdessen schloss er die Augen und legte den Kopf in Donnerwetters Wolle ab.
Ich überlegte eine Millisekunde, ob die nächsten Fragen klug waren. Da mir allerdings ohnehin klar war, dass ich sie so oder so stellen würde, konnte ich das auch gleich tun. Stets mit der Tür ins Haus fallen. So kannte man Aya Teufelsbraut.
»Bist du vom Wolkenvolk? Woher kommst du? Wie lange lebst du schon hier auf dieser Wolke? Wieso habe ich dich noch nie gesehen? Und, was bei allen Wolkenschafhintern dieser Welt, machst du hier so allein?«
Die Frage, die ich umging, war: Bin ich schuld daran, dass du auf einmal hier herumspazierst? Bei meinem Pech hatte ich versehentlich etwas gesagt oder getan, was ihn … ja, was? Durch die Zeit geschleudert hatte? Wiederbelebt hatte? Eine Eisskulptur lebendig gemacht hatte?
Ich kramte kurz im Gedächtnis herum, aber außer dass ich den Drachen abgeschossen hatte, fiel mir nichts ein. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Und wenn ja: Wieso passierten nur mir solche Sachen?
Enron öffnete ganz kurz die Augen, um mich zu mustern. Sie waren hellbau mit weißen Einsprengseln darin. Eisaugen. Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich, als müsste er sich eine fiese Antwort verkneifen. Die Stille wurde unangenehm.
»Du siehst scheiße aus«, sprach ich schließlich das Offensichtliche aus. »Bist du krank?«
Er überging meine Provokation und starrte lediglich trüb vor sich hin. »Wo sind sie alle?«, flüsterte er stattdessen.
Meinte er das Wolkenvolk? Mein Magen zog sich zusammen. Wusste er das nicht? »Keine Ahnung«, sagte ich vorsichtig. Ich ließ mich in einigem Abstand zu ihm nieder und spielte nervös mit einem Wolkenfetzen. »Die Wolkenfestungen sind verlassen. Schon sehr lange.«
Seine Züge entgleisten. Er wirkte erschrocken, verwirrt. »Wie lange?«
Ich zögerte mit meiner Antwort. Woher kam er, wenn er solche Fragen stellte? »Das Wolkenvolk fiel vor siebzehn Jahren vom Himmel. Es gab keine Überlebenden. Zumindest dachten wir das. Du bist der erste Himmelsmensch, der mir begegnet ist.«
Er starrte mich an, als wäre ich verrückt geworden. Das wenige Blut, das sein bleiches Gesicht menschlicher gemacht hatte, sackte ihm in die Füße. Er wurde beinahe durchscheinend.
Ihn so zu sehen war erschütternd. Gerade noch war er ein gefährlicher Krieger gewesen, der mich hatte töten wollen. Jetzt wirkte er einsam. Allein.
»Verloren«, flüsterte er. »Wir sind verloren.«
Mit diesen Worten sank er zur Seite, als hätte er keinerlei Kraft mehr in sich. Einige Wolkenfetzen flogen beim Aufprall hoch wie aufgewirbelter Staub. Dann lag er da. Vollkommen reglos. Die Augen geschlossen. Wie tot.