und andere Geschichten
© 2020 Brunnen Verlag GmbH
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Petra Hahn-Lütjen
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Spoondesign, Olaf Johannson
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch 978-3-7655-0750-2
ISBN E-Book 978-3-7655-7596-9
Vorwort
Unerhörte Botschaft
Drei Rosen
Abstellmöglichkeit
Du bist zu Hause
Nicks Verstehen
Der Mitsummer
Gipfel
Bügelfrei: Kurzgeschichte in zehn Verhaltensregeln
Hiobs Töchter
Vierter Juli
Da nich für
Déjà vu
Wer Manfred Siebalds Liedtexte kennt, weiß, dass der Autor mit Einfällen, Sprachreichtum und hintersinnigen Formulierungen gesegnet ist: Lyrik von Gott und seiner Welt.
Wen wundert es, dass er sein Sprachtalent auch in Erzählkunst verwandeln kann? Die zwölf Kurzgeschichten sind ein besonders feinsinniges Lesevergnügen.
Präzise, alltägliche Beobachtungen, doppelbödige Bilder, Parabeln oder historische Miniaturen führen uns in eine Welt voller Menschlichkeit, Humor und versteckten göttlichen Impulsen.
Kann man wirklich jemanden ungestraft in den Keller sperren oder einen Menschen mit dunkler Hautfarbe im Bus anpöbeln? Ja, man kann. Aber was folgt daraus? Wer kennt eigentlich Hiobs Töchter? Und wieso feiert Helens Kunde zweimal im Jahr Geburtstag?
Kennen Sie auch ein Mitglied aus der Gemeinschaft der nervenden Mitsummer? Vor allen Dingen: Nie die Brille auf dem Sessel ablegen!
Lassen Sie sich vom Gastgeber Siebald zu einem gemütlichen Leseabend verführen, bei ihm zu Hause. Und selbst das hat einen tieferen Sinn.
Albrecht Gralle, Autor
Das Haus zwischen den zwei großen Zedern sieht eigentlich ganz freundlich aus. Die mit wildem Wein bewachsenen gelben Klinkerwände, die geschwungenen schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern (in Herzform) und die Sandsteinornamente über dem Balkon (Rosetten, in deren Mitte ein Kopf mit edlem Profil traurig in den Vorgarten schaut) geben ihm einen etwas altertümlichen Anblick, aber die Glyzinien, die sich um die Regenrinnen ranken, und die hohen Hortensiensträucher davor sind gerade in voller Blüte und grüßen den Besucher schon von Weitem in einladenden Farben.
Die Bewohnerin allerdings – allem Anschein nach die einzige Seele in diesem Haus – ist alles andere als einladend. Bei meinem ersten Klingeln an der Gartenpforte hatten die durch die Gegensprechanlage gebellten Worte »Wer ist da?« mich nicht nur innerlich zusammenzucken lassen. Noch bevor meine Vorstellung zu Ende war – dass ich von der Anwaltssozietät Trost & Partner komme und eine wichtige Nachricht für sie habe –, knackte es in dem kleinen Lautsprecher, und von da an war Funkstille.
Die Sozietät, in der ich angestellt bin, hat mir den strikten Auftrag gegeben, den Brief nur persönlich zu überreichen. Ich darf ihn nicht einfach in den Briefkasten werfen, ihn keinesfalls unter der Eingangstür durchschieben oder ihn gar bei Nachbarn abgeben. Das ist bei uns eine Art unumstößliches Gesetz. Nicht dass es juristische Gründe für die persönliche Übergabe gäbe – es hat einfach mit dem Selbstverständnis unserer Kanzlei zu tun, wie es von ihrem Gründer formuliert wurde: »Wir sind keine Paragrafen-Automaten. Wir haben es mit Menschen zu tun. Alles, was diesem Grundsatz dient, ist erlaubt. Alles, was den Menschen aus den Augen verliert, ist verboten.«
Was habe ich in den letzten drei Wochen nicht schon alles unternommen, um dieser Frau die wahrscheinlich beste Nachricht ihres Lebens persönlich zu überbringen. Zu allererst versuchte ich sie anzurufen, um meinen Besuch anzukündigen, aber die einzige Telefonnummer, die ich auf einem alten Briefbogen in der Korrespondenz ihres Bruders fand, war tot – »Kein Anschluss unter dieser Nummer«. Im Telefonbuch war sie nicht gelistet, und auch die Internet-Suchmaschinen gaben keine Nummer her. Gespräche mit den Nachbarn (die genauso ratlos waren wie ich) ergaben, dass sie wohl aus Sparsamkeit alle Kommunikationswege gekündigt hatte, weil die hohen Hypotheken auf ihrem Haus ihr zu schaffen machten.
Ich hatte nach dem ersten erfolglosen Versuch sicher zwanzigmal geklingelt, aber keine Antwort mehr bekommen. Rund-um-die-Uhr-Wachen vor dem Haus hatte ich durchgehalten – in der Hoffnung, ich könnte sie bei einem nächtlichen Spaziergang erwischen. Bis zu Lautsprecherdurchsagen von meinem Wagen aus war ich gegangen (ich hatte mir extra ein batteriegetriebenes Megafon ausgeliehen), aber vielleicht war sie ja im Laufe der Jahre schwerhörig geworden. Auf eine große Kastanie am gegenüberliegenden Straßenrand war ich abends geklettert und hatte im mühsam erlernten Morse-Alphabet Taschenlampen-Lichtsignale in die Fenster gesendet. In Höhe dieser Fenster hatte ich tagsüber dann Luftballonaktionen veranstaltet, um auf mich aufmerksam zu machen, und große Poster (»Sie sind reich!« und »Nachrichten von Ihrem Bruder«) hatte ich mir vor den Bauch und auf den Rücken geschnallt und als Sandwich-Man die Straße hinauf- und hinuntergetragen. Ich hatte zwei kleine Skateboard fahrende Jungen mit Kaugummis bestochen, damit sie klingelten und mit ihren unverfänglichen Stimmen die Bewohnerin zum Öffnen bewegten. Aber auch deren Versuche wurden ignoriert. Und die Polizei, die ich gebeten hatte, mir Einlass zu verschaffen, hatte abgewinkt: Das sei nur zulässig, wenn eine eindeutige Straftat vorliege oder Gefahr im Verzug sei.
»Frau Renata Dauth« steht auf dem Umschlag, und wenn Frau Renata Dauth wüsste, was dieser Umschlag enthält, würde sie wahrscheinlich die Haustür aufreißen, mir den Umschlag aus der Hand schnappen, mich herzen … Köpfen würde sie mich jedenfalls ganz sicher nicht – wie es angeblich den Überbringern schlechter Botschaften im Mittelalter erging. Aber sie gibt mir nicht einmal die Chance, ihr die gute Botschaft zu überbringen. Ihr Bruder Rex, von dem sie in den Kriegswirren getrennt wurde und der bei Verwandten in den U.S.A. aufwuchs, hat sie zur Alleinerbin seines beträchtlichen Vermögens eingesetzt – und zur Empfängerin einer hohen Lebensversicherung. Sagenhafte 3,16 Millionen Dollar beträgt die Gesamtsumme, die bereits auf einem eigens für sie eingerichteten Konto liegt und die sie angesichts der Hypotheken auf ihrem Haus sicher gut gebrauchen könnte.
Wie sein Anwalt John Evans uns mitgeteilt hat, ist Rex ein überaus fleißiger Mensch gewesen, hat früh das Zimmermannshandwerk erlernt und im Laufe der Jahre im Nordosten der Staaten eine große Firma aufgebaut, die sich auf erschwingliche Häuser für die unteren Einkommensschichten spezialisiert. Der Name »Whosoever Inc.« deutet bereits an, dass jedweder Mensch auf der Suche nach einem Zuhause darauf vertrauen kann, ein solches günstig gebaut zu bekommen. Dass das Unternehmen trotz der sozialen Niedrigpreise noch Gewinn macht, liegt einfach an der Menge der Bauprojekte. In den Jahrzehnten, in denen Rex, ohne dass seine Schwester etwas davon mitbekam, das jetzt ihr zustehende Geld erarbeitet hat, hat er wohl seine Gesundheit ruiniert – hat er sich für sie geopfert. Vor drei Monaten ist er gestorben, aber durch seinen Tod könnte Renata Dauths Leben jetzt noch einmal richtig durchstarten.
Ich werde dranbleiben – auch nach diesem wieder mal frustrierenden Tag. Es würde mir ja schon genügen, wenn sie mich und meine Botschaft nicht länger ignorierte, und dafür muss ich mir halt noch etwas mehr Mühe geben. Ich habe da immer noch ein paar Ideen in der Hinterhand. Im Fortgehen (für heute) träume ich wieder davon, dass eines Tages das eigentlich Selbstverständliche passiert: dass die arme reiche Frau aus dem gelben Haus auf die Straße stürzt, hinter mir herrennt und ruft: »Halt – bleiben Sie doch stehen!« Schon oft habe ich mir diese Szene vorgestellt, und in Gedanken kenne ich auch schon die Begleitmusik: Das eiserne Gartentor wird genau so singen und eilige Schritte werden genau so auf den Bürgersteig trommeln, wie ich es jetzt gerade hinter mir höre.
Tatsächlich … eine Rose. Stephan tritt ein paar Schritte zurück und legt den Kopf in den Nacken, um das riesige Glasfenster noch besser in den Blick zu bekommen. Rund ist es, und es hat so etwas wie Blütenblätter: sechzehn Segmente, die von der Mitte aus immer breiter werden. Die feingliedrigen Steinrippen zwischen den Glaselementen geben dem Ganzen ein strenges, ordentliches Aussehen.
Als er eben im Bus seine Sitznachbarin gefragt hat – eine anscheinend frisch vom Friseur gekommene mittelalterliche Dame mit einer eleganten, randlosen Brille –, ob sie wüsste, was das Münster mit Rosen zu tun haben könnte, hat sie fast aufgeregt geantwortet: »Haben Sie noch nie die Fensterrose über dem Haupteingang gesehen? Fünfzehn Meter im Durchmesser, und wenn Sie die erst von innen sehen – ein absoluter Traum von Farben. Jedenfalls bei Sonnenschein.« Bevor sie weiter schwärmen konnte, hat der Bus am Münsterplatz gehalten, und er konnte sich nur hastig bedanken.
Stephan ahnt, dass dieses Fenster aus dem Inneren des Münsters betrachtet völlig anders aussehen wird, und als er dann durch die kleine Tür in dem wuchtigen Portal das hohe, dunkle Kirchenschiff betreten hat und sich umdreht, verschlägt es ihm fast den Atem. Die Rose scheint in einer Farbkaskade zu explodieren – wie eine der Schlussraketen beim Silvesterfeuerwerk. Kräftiges Blau, zartes Grün und strahlendes Gelb kämpfen um die Vorherrschaft, wirken aber dann doch wunderbar zusammen. Das Gelb ähnelt dem der drei Rosen, die er eben spontan in einem kleinen Blumengeschäft an der Längsseite des Münsterplatzes erstanden hat und jetzt, in Folie eingepackt, in der Hand hält.
Aber dies kann nicht der vorgeschlagene Treffpunkt sein, denn dort hinauf kommt man wahrscheinlich nur mit einem Kran, und außerdem geht es in Claras SMS ja um mehrere Rosen. »13 Uhr im Münster bei den 3 Rosen« hat sie geschrieben. Eine hat er gefunden, aber wo sind die anderen?
»Drei Rosen?«, fragt der freundliche Rentner an der Information zurück. »Keine Ahnung. Ich kann Sie höchstens ins südliche Seitenschiff schicken. Da hinten rechts. Da gibt es zwar keine drei Fensterrosen, aber zwei kleinere, die den Alten und den Neuen Bund darstellen.«
»Wie bitte? Was stellen die dar?«
Sein Gegenüber lächelt. »Also, man kann auch sagen: das Alte und das Neue Testament, den ersten und den zweiten Teil der Bibel. Sie erkennen auf dem linken Fenster ein paar Patriarchen des Alten Testaments und eine Reihe von Opferszenen. Auf dem rechten sehen Sie Christus und die vier Evangelisten und mehrere Figuren, die die christlichen Tugenden darstellen. Der Glaskünstler wollte mit dem linken Fenster wohl sagen, dass die Menschen seit jeher versucht haben, sich mit guten Taten bei Gott einzuschmeicheln. Als wollten sie mit ihren Opfern eine Treppenstufe nach der anderen Richtung Himmel steigen. Das rechte Fenster zeigt das Kontrastprogramm: Seit Christus bekommen wir den Zugang zu Gott geschenkt, ohne dass wir ihn uns erst verdienen müssen. Weil Gott jedes seiner Geschöpfe vorbedingungslos liebt, bietet er uns sozusagen einen Aufzug in den Himmel an, in den wir nur einsteigen müssen. Aber ich muss mich wohl entschuldigen – war das jetzt zu viel Theologie für Sie?«
»Nein – ist schon in Ordnung. Vielen Dank für die Auskunft. Das klingt alles sehr interessant, und ich werd mir das ganz bestimmt noch anschauen. Aber im Augenblick such ich erst mal dringend eine Stelle im Münster, wo es genau drei Rosen gibt. Da hat sich nämlich meine Freundin mit mir verabredet. Ich bin extra früh hier angekommen, um sie nicht zu verpassen.«
Der Rentner schaut zunächst ein bisschen säuerlich – wozu hat er sich die Arbeit seiner ausführlichen Erklärung gemacht? –, nickt aber dann verständnisvoll. »Ja, manchmal drängt sich das richtige Leben vor die Theologie. Aber da fallen mir gerade noch die Rosen am Dachsims auf der halben Höhe des Südturms ein. Das sind Ornamente aus Sandstein. Ihre Freundin muss ziemlich gute Kondition haben, wenn sie sich mit Ihnen da treffen will. Bis dorthin sind es – warten Sie, ich zähle die Treppenabsätze – ungefähr hundertsechzig Stufen.«
»Ziemlich gute Kondition.« Da hatte er recht. Stephan kommt schon nach achtzig Stufen ins Schwitzen. Ab und zu gibt es kleine Fenster auf dieser engen Wendeltreppe, oder auch mal winzige Balkone mit Sicherheitsgeländern, von denen aus man einen grandiosen Überblick über die Dächer der Altstadt hat. Die Menschen, die sich durch die Straßen drängen, sehen von oben immer kleiner aus, je höher er steigt. Weil er vor lauter Eindrücken vergessen hat, die Stufen zu zählen, bleibt er mit seinen Blumen in der Hand auf jedem der Balkone kurz stehen und beugt sich nach rechts und nach links, um vielleicht schon Claras Rosen zu entdecken.