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1. Auflage 2016
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-021430-9
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pdf: ISBN 978-3-17-030823-7
epub: ISBN 978-3-17-030824-4
mobi: ISBN 978-3-17-030825-1
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Für meine Eltern
Hellmuth Beutel: Du hast mit deinem Buch den Versuch unternommen, Pflege als eine kunstvolle Wissenschaft zu beschreiben. Beschreiben und auch darzustellen – konkret beschreiben, was möglich ist, aber auch die Offenheit darzustellen, was bei den Mitarbeitern in Heimen implizit als Werte in der Pflegearbeit erkennbar ist. Implizit meint die Haltungen – wie man auf Menschen zugeht – was nach meiner Meinung nicht messbar ist, aber spürbar. Und so definiere ich denn auch die kunstvolle Wissenschaft der Pflege als das, was explizit mitteilbar ist, und dann kommt dieses große, sehr wirksame Erfahrungswissen der Menschen zur Wirkung, die dort die Zuwendung, die Betreuung, die Pflege, sprich: die Arbeit mit diesen Menschen, die wir als pflegebedürftig bezeichnen, leisten.
Jutta Kaltenegger: Ich finde dieses Bild von der »kunstvollen Wissenschaft« sehr schön. Das würde man in der Pflege auch ganz ähnlich ausdrücken. Und dieses Bild ergibt sich aus der Tatsache, das hast Du schon sehr schön beschrieben, dass man bestimmte Dinge in der Pflege messen kann, aber den Großteil der Pflege nicht messen kann. Das ist einer der Gründe, warum ich den Begriff des Wohlbefindens oder der Lebensqualität so wichtig finde. Weil, die Qualität von Pflege objektiv zu messen, ist äußerst schwierig und nur in ganz wenigen Fällen möglich und auch nur durch ein sehr technisches Verfahren. Ich kann schon feststellen, ob eine Person vielleicht zu wenig gegessen oder getrunken hat.
Hellmuth Beutel: Ob sie einen Dekubitus hat.
Jutta Kaltenegger: Ja. Wobei der Dekubitus einer der relativ wenigen objektiven Anzeiger für Pflegequalität ist. Bei dem Thema Sturz ist es schwieriger, weil Menschen sich nicht immer für die Gesundheit entscheiden, sich auch nicht immer für die Gesundheit entscheiden können und der Bezugspunkt für die Arbeit aus Sicht der Pflegenden – und wohl aus Sicht der meisten Menschen – das Wohlbefinden der Person sein sollte. Und dann geht es nicht um die Erreichung irgendwelcher objektiver Idealzustände, die ich ja bei mir selber im Zweifel auch nicht erreichen kann, sondern darum, mit Menschen zu schauen: »Was ist Ihnen eigentlich wichtig? Wo sehen Sie Ihre Probleme? Worin können wir Sie als Pflegeperson unterstützen?« Und damit könnte man auch ein Stück aus diesen Bewertungsschemata aussteigen, die sich sehr stark an objektiven Parametern orientieren. Professionelle Pflege ist aber in erster Linie Beziehungsarbeit.
Hellmuth Beutel: Also ich führe das dann gleich weiter und übernehme die Kriterien, die wir in der Psychotherapie als Basiskriterien sehen und die vor vielen Jahren, aber immer noch sehr aktuell Carl Rogers erforscht hat. Das gilt uneingeschränkt auch für die Pflege. Erstens: Die Empathie, die Qualität der Einfühlung in die Welt, in die Gefühlswelt, in die Geschichte des zu Pflegenden. Dann die Haltung der Wertschätzung, die spürbar, aber nicht messbar ist. Und schließlich auch die Echtheit und Selbstkongruenz dessen, der diese Arbeit leistet. Und die Mitarbeiter, die in den Einrichtungen diese Arbeit leisten, brauchen gewisse Bedingungen, um sich als Person ganz in diesen Hilfeprozess, in diesen Pflegeprozess einzubringen. Ich nenne das eine personbezogene Unternehmenskultur und die hat gewisse Kriterien. Da nenne ich: Diese Einrichtung hat ethische, auch moralische Visionen. Dieses Unternehmen hat Integrität, hat herausfordernde Aufgaben, die erstens sehr stark personzentriert sind, dann mitarbeiterzentriert und drittens institutionszentriert. Diese Auflistung habe ich übernommen von Henry Ford, der das vor vielen Jahren für die Wirtschaft formuliert hat. Er hat sie die drei klassischen »Ps« genannt: »First person, then product, then profit«. Leider habe ich manchmal den Eindruck, dass heute diese Skala genau auf den Kopf gestellt wird, dass die Ökonomie diktiert und »first profit«, das heißt Gewinn und Wachstum geleistet werden muss. Und dann erst in der Folge die Mitarbeiter- oder Pflegebedürftigenzentrierung sichtbar wird.
Dann bin ich der Meinung, dass die Mitarbeiter im Rahmen einer Fehlerkultur arbeiten dürfen sollen, also die Vorgabe, keine Fehler machen zu dürfen, ist kontraproduktiv. Wenn menschliche Handlungen, menschliches Tun geleistet wird, passieren einfach Fehler, und in einer Fehlerkultur, gerade auch in der Pflege, sind Unterlassungen oder Versäumnisse immer wieder möglich. Aber sie gehören in eine Kultur hinein, in der das offen besprochen werden kann und als Verbesserungsvorschlag dann in der Diskussion ist. Meine These in einer Einrichtung war früher immer: »Ihr dürft Fehler machen, aber bitte jeden nur einmal«.
Dann finde ich es sehr wichtig, dass die Mitarbeiter Eigenverantwortung haben im Sinne der fraktalen Systeme, also gruppenbezogen, teambezogen arbeiten können, wo sie mit geringem äußeren Aufwand eigene Steuerung und eigene Verantwortung übernehmen. Das heißt, sie arbeiten und leben in einer erkennbaren Freiheit, haben Verantwortlichkeit, finden Anerkennung und Wertschätzung. Insgesamt sollte auch in einer Einrichtung das Merkmal sein, dass das Gesamtwohl im Gleichgewicht vor einzelnen Spitzenleistungen stehen soll, also gemeinwohlorientierte Dienstleistung des Einzelnen zum Menschen und auch zur Institution hin. Und im Endeffekt, das beschreibst Du auch, das geht in den Bereich des Messbaren, dass die Qualitätsentwicklung auch durch Zielvereinbarungen, die messbar und dokumentierbar sein können, festzustellen sind.
Diese Merkmale kommen aus meiner Sicht vor bei innovativen Organisationen mit stabilem, transformativem Leiten und Führen des Unternehmens und insgesamt nenne ich das eine personbezogene Dienstleistung, die als personbezogen sowohl dem pflegebedürftigen Menschen als auch dem Mitarbeiter dient.
Jutta Kaltenegger: Du hast jetzt ein sehr umfassendes und sehr komplexes Bild von einer bestimmten Organisationskultur aufgemacht, von der ich sagen würde, dass sie unumgänglich ist. Ich kann nur Lebensqualität und letztlich Pflegequalität produzieren, wenn ich auf die Person achte, wenn die Person im Mittelpunkt steht und nicht andere Dinge. Du hast gesagt, manchmal drehen sich die Wertigkeiten nach Deiner Meinung um, und heute wäre das »P« des Profits gelegentlich an erster Stelle. Ich denke, man kann da teilweise auch von ökonomischem Druck sprechen. Wobei sich der »Pflegemarkt« inzwischen sehr differenziert hat und es durchaus eine gewisse Zahl an Unternehmen gibt in der Pflege, die privat geführt sind und profitorientiert arbeiten, und ein anderer Teil versucht, kostendeckend zu arbeiten, sodass sich da eigentlich eine relativ komplexe ökonomische Situation ergeben hat, unter dem Druck möglichst kostensparend zu produzieren, weil die Preise ja nicht frei wählbar sind, sondern verhandelt werden. Und da fehlt mir ein »P«, wobei das ja in den anderen »Ps« drinsteckt, nämlich die »Professionalität des Managements« von Pflegeeinrichtungen. Ich glaube, dass man da noch viel machen kann.
Hellmuth Beutel: Ich nehme das gerne auf. Also Gewinnorientierung nein, Kostendeckung ja. Ich denke, wir haben auch Verantwortung für die Menschen, die die Kosten aufbringen durch Steuern, durch Pflegeversicherungsbeiträge. Also Kostendeckung ja, aber da und dort ist eben die Gewinnorientierung, mindestens als Gefahr, erkennbar und sollte wahrgenommen werden.
Liebe Jutta wenn ich es zusammenfassen darf, hast Du ein Buch geschrieben, das ein Handbuch für eine personbezogene Pflege geworden ist. Ich danke Dir für dieses Tun, und ich wünsche den Menschen, die es lesen, viele Anregungen und Impulse, die sie für diese personbezogene Pflege befähigen und unterstützen.
Das Wort »Heim« ist zwiespältig: Einerseits schwingt in dem Begriff der Aspekt von Vertrautheit mit. Man denkt an Geborgenheit, Gemütlichkeit, nach Hause kommen; an »Heimat«, »heimelig« oder »anheimelnd«. Jeder Mensch hat ein Heim oder wünscht es sich. Manche bringen es gar zum »Eigenheim«. Der Begriff »Heim« steht aber auch für Einrichtungen, in denen Menschen aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Alter auf Dauer gepflegt oder betreut werden. In dieser Bedeutung von Heim schwingt immer auch der Gedanke an Institution mit: lange Gänge, Zeitdruck, Verlust von Autonomie, Abgeschlossenheit. Pflegeheime üben den alltäglichen Spagat zwischen den beiden Begriffsbedeutungen. Sie haben den Anspruch, Wohn- und Lebensraum zu bieten, vielleicht sogar »Heimat«. Sie versuchen, die Autonomie und Selbständigkeit von Bewohnern zu fördern und loten dabei in der stetigen Abwägung von Wünsch- und Machbarem die Grenzen institutioneller und auch finanzieller Zwänge aus. Leider wird diese in der Regel recht erfolgreiche Anstrengung der Heime in der Öffentlichkeit selten ausreichend gewürdigt. Das Image der Pflegeheime ist in den meisten Fällen schlechter als ihre tatsächliche Arbeit. Verstärkt wird das Negativimage der Heime regelmäßig durch Berichte über Pflegeskandale oder die Darstellung überforderter oder überlasteter Altenpflegerinnen seitens der Medien. So verwundert es nicht, dass die meisten älteren Menschen in Befragungen angeben, dass sie lieber in ihrer Häuslichkeit gepflegt werden möchten, anstatt in ein Pflegeheim überzusiedeln. Allerdings spiegelt die Realität der Medien den Alltag in Pflegeeinrichtungen nur verzerrt wider. Pflegeheime bieten eine Vielzahl an Potenzialen und Chancen, die Lebensqualität der Menschen, die dort leben, zu erhalten und zu fördern.
Das vorliegende Buch entstand vor dem Hintergrund meiner über 20-jährigen Berufserfahrung als Altenpflegerin in stationären Einrichtungen und einer gemeinsamen Forschungsarbeit zur Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen im Rahmen meines Hochschulstudiums mit dem Abschluss Diplom-Pflegewirtin. Die Frage, wie die Lebensqualität von Menschen in stationären Einrichtungen verbessert werden kann, begleitet mich seit Beginn meiner beruflichen Laufbahn. So war es nur schlüssig, das Thema für meine Diplomarbeit zu wählen. In meiner damaligen Kommilitonin Gitta Grupp fand ich eine hervorragende Mitautorin und Sparringspartnerin für die Diplomarbeit. Antworten auf die Frage nach der Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen fanden wir in der sich stetig verbreiternden Forschungsliteratur zu diesem Thema, in zwei Heimen und bei Bewohnerinnen und Bewohnern selbst, die uns Einblick gewährten in ihr Erleben und das, was ihr Leben als pflegebedürftige Person in einem Pflegeheim lebenswert macht.
Das Buch ist ein Praxisbuch. Es soll Perspektiven auf und für Lebensqualität in stationären Einrichtungen sichtbar machen; und es soll Praktiker und Leitungskräfte in der stationären Altenhilfe motivieren und ermutigen, die Potenziale für Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen zu erkennen, herauszuarbeiten, zu entwickeln und in die öffentliche Diskussion einzubringen. Doch ohne theoretische Grundlagen kann es keine gute Praxis geben. Praxis ohne Theorie kann sich nicht begründen. Sie weiß nicht, woher sie kommt und wohin ihr Weg führen soll. In diesem Sinne ist es auch ein Theoriebuch. Es liefert Hintergründe und Faktenwissen aus der zugrunde liegenden Diplomarbeit und aus der aktuellen Lebensqualitätsforschung. Und es zeigt Wege auf, wie dieses Wissen in Praxis überführt werden kann. Dazu ist auch ein Blick auf das gesellschaftliche Umfeld und die Rahmenbedingungen nötig, denn natürlich ist gute Praxis auch das Resultat einer ausreichenden Finanzierung des professionellen Engagements, das Praktiker und Leitungskräfte Tag für Tag für die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen in stationären Einrichtungen erbringen.
Die theoretische Heranführung und Einführung in das vielschichtige Thema Lebensqualität bildet den ersten Teil des Buchs. Dabei werden kurz die Rahmenbedingungen von Pflege beleuchtet und die Entwicklungsgeschichte der Lebensqualität historisch nachgezeichnet. Kapitel 4 bietet einen Überblick über die aktuelle Forschung innerhalb der unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen, die sich der Lebensqualität widmen. Dabei zeichnet sich ab, dass eine sozialwissenschaftliche Herangehensweise Lebensqualität eher an objektiven Lebensbedingungen orientiert, wie der Gesundheit oder dem sozioökonomischen Status. Und dass die Psychologie und die Gesundheitswissenschaften Lebensqualität eher aus der Sicht der betroffenen Person beleuchten. Für die Perspektive auf die Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen sind beide Herangehensweisen bedeutsam. Deshalb werden im Anschluss daran integrative Ansätze von Lebensqualität vorgestellt, die auch in der Gerontologie eine große Rolle spielen. Kapitel 5 widmet sich dem Thema Demenz und Lebensqualität und schließt den theoretischen Teil des Buchs ab.
Das Kapitel 6 fungiert gewissermaßen als Scharnier zwischen Theorie und Praxis. Hier stelle ich ausführlich die sechs Dimensionen für Lebensqualität vor, die ein wesentliches Ergebnis unserer Diplomarbeit darstellen. Die Dimensionen stammen aus der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen und wurden in den Bewohnerinterviews bestätigt. Sie sind somit eine wissenschaftlich fundierte Folie für die Beschreibung der objektiven Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen. Der zweite Teil des umfassenden Kapitels widmet sich dem subjektiven Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner, denn Lebensqualität wird im vorliegenden Buch als Ergebnis aus objektiven Lebensbedingungen und subjektiver Bewertung und Wahrnehmung gesehen. In diesem Teil werden die Ergebnisse der Bewohnerinterviews aus der Diplomarbeit vorgestellt, und es wird deutlich, wo die Grenzen der Beeinflussung des subjektiven Wohlbefindens durch bestimmte Merkmale einer Einrichtung liegen.
Kapitel 7 ist das Praxiskapitel. Es bietet Pflegeeinrichtungen einen Werkzeugkasten an, um das Thema Lebensqualität in stationären Einrichtungen umzusetzen. Hier bekommen Einrichtungen Anregungen zu den Dimensionen und werden die Instrumente zur Ermittlung der objektiven Lebensqualität und des subjektiven Wohlbefindens von Bewohnern vorgestellt, die aus der Diplomarbeit hervorgegangen sind. Auf diese Weise können Einrichtungen sich ganz praktisch an die Bewertung, Darstellung und Förderung der Lebensqualität von Bewohnerinnen und Bewohnern machen.
• Pflege ist teuer. Ein Heimplatz kostet aktuell in der Bundesrepublik
Der Preis von Pflege
Deutschland etwa 2.500 bis 4.500 €. Davon finanziert die Pflegeversicherung, je nach Pflegestufe, zwischen 1.064 und 1.612 €. Den Restbetrag müssen die pflegebedürftigen Menschen und teilweise auch deren Familien selbst aufbringen. Reicht das Geld nicht aus, werden Pflegeheimbewohner am Ende ihres Lebens unfreiwillig zu Sozialhilfeempfängern.
• Pflege ist billig. Der Anteil der Ausgaben für Pflege am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in Deutschland unterschiedlichen Statistiken zufolge zwischen 0,15 und 0,9%. Der Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Michael Isfort beziffert den Anteil der staatlichen Ausgaben für Pflege am BIP auf 0,2%. In Schweden liegt dieser Anteil laut Isfort mit 2,0% zehnmal darüber. Deutschland zählt im internationalen Vergleich zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an 65-Jährigen und Älteren. Im Verhältnis dazu befinden sich die staatlichen Ausgaben für Pflege auf einem vergleichsweise sehr niedrigen Niveau, sodass Pflegewissenschaftler von einer Unterfinanzierung der Pflege sprechen. Abbildung 1 verdeutlicht den Zusammenhang im europäischen Vergleich.
Abb. 1: Anteil der Ausgaben für Altenpflege am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU-Länder in den Jahren 2007 und 2008 (Quelle: Eurostat, Online-Datencode: spr_exp_fol)
Lebensqualität in Pflegeeinrichtungen ist eine Leistung der Heime. Doch wird man den Heimen nicht gerecht, wenn man die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen in Pflegeeinrichtungen ausschließlich am Outcome der Einrichtungen selbst festmacht. Heime als »Produzenten« von Lebensqualität produzieren diese unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen, über die sie nicht selbst bestimmen. Sie handeln innerhalb eines festgelegten Rahmens. Diesen Rahmen gestaltet in der Bundesrepublik der Staat, indem er die Produktionsbedingungen und die Zuteilung finanzieller Ressourcen gesetzlich festlegt. Für ein umfassendes Verständnis von Lebensqualität in Pflegeheimen ist es daher unausweichlich, zunächst einen Blick auf den Rahmen zu werfen, innerhalb dessen Pflegeeinrichtungen Lebensqualität produzieren. Dabei ist es sinnvoll, zunächst die Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen dem Sozialstaat, dem freien Markt und den Familien in den Blick zu nehmen. Und damit zunächst die Frage, weshalb der Staat überhaupt regulierend in die Erbringung von Pflegeleistungen eingreift?
Der vollkommene Markt
Adam Smith (1723–1790) gilt als Begründer der Nationalökonomie. Seiner Wirtschaftstheorie zufolge regulieren sich freie Märkte durch das Wirken von vier Prinzipien auf so vollkommene Weise selbst, dass als Ergebnis das größtmögliche Glück aller herauskommt. Diese vier Prinzipien sind:
• Das Prinzip des freien, uneingeschränkten Tausches: Märkte funktionieren am besten, wenn das Prinzip des freien Handels nicht durch staatliche oder sonstige Regulationen beschränkt wird.
• Das Prinzip der vollkommenen Konkurrenz: Der Wettbewerbsgedanke geht davon aus, dass im freien Spiel aus Angebot und Nachfrage zum Wohle aller Marktteilnehmer die beste Kombination aus Preis und Leistung einer Ware entsteht.
• Das Prinzip des Eigennutzes: Menschen streben nach ihrem eigenen Nutzen. Doch sie werden in ihrem Eigeninteresse gezwungen, für andere nützlich zu sein und somit die Gemeinschaft zu fördern.
• Das Prinzip der unsichtbaren Hand: Märkte regulieren sich vor dem Hintergrund der vorher genannten drei Prinzipien selbst. Der Markt zwingt Menschen nicht zu einem bestimmten Verhalten, legt aber zur Wahrung ihres Eigeninteresses ein bestimmtes Verhalten nahe. Wenn Ein Bäcker beispielsweise aus Eigennutz drei Euro für eine Brezel verlangt, werden die Käufer andere Bäcker aufsuchen, um ihren Appetit auf eine Brezel zu stillen.
Leider sind Märkte nicht vollkommen
Die Theorie von Adam Smith klingt zunächst überzeugend. Leider gibt es damit ein paar Probleme. Was bei einer Brezel im Prinzip funktioniert, wird bei Leistungen wie beispielsweise Bildung, Gesundheit oder der Absicherung privater Lebensrisiken schwierig. Warum ist das so? Menschen verhalten sich bei Kaufentscheidungen nicht immer rational. Vielleicht haben sie zu wenige Informationen oder sie verstehen komplexe Wirkungszusammenhänge nicht. Möglicherweise besteht auf Seiten der Verkäufer eine besondere Marktmacht, etwa bei Benzin. Oder Konsumenten sind in besonderer Weise abhängig und können keine souveränen Kaufentscheidungen treffen, etwa bei Gesundheits- und Pflegeleistungen.
Wenn bei Gütern die Gesetze des freien Marktes nicht ohne Weiteres funktionieren, greifen Staaten regulierend ein. Solche Güter werden meritorische Güter genannt. Meritorische Güter sind Güter, die ein Mensch unabhängig von seiner individuellen Leistung verdient. Die Einschätzung darüber, welche Güter als meritorisch gelten, unterscheidet sich innerhalb der Staaten sehr stark und kann sich im Laufe der Zeit verändern. Üblicherweise zählen Bildung, Kultur, Verkehrswege, Gesundheit und die Absicherung von Lebensrisiken zu den meritorischen Gütern und werden entweder direkt durch den Staat zur Verfügung gestellt oder staatlich finanziert oder subventioniert.
Die Entscheidungen darüber, in welchem Ausmaß und in welchem
Hilf Dir selbst: Der liberale Wohlfahrtsstaat
Bereich der Staat regulierend in das Marktgeschehen eingreift, fallen sehr unterschiedlich aus. Der schwedische Wohlfahrtsforscher Gösta Esping-Andersen unterscheidet drei unterschiedliche Typen von Wohlfahrtsstaaten. Der liberale Wohlfahrtsstaat ist geprägt durch einen hohen Anteil privater Absicherung von Lebensrisiken und einen geringen Anteil sozialstaatlicher Leistungen. Sozialleistungen fallen in liberalen Wohlfahrtsstaaten eher gering aus und genießen ein geringes Ansehen. Der freie Markt soll durch seine ihm eigenen Kräfte die Wohlfahrt der Bürger befördern. Erst wenn der Markt scheitert, greift der Staat regulierend ein. Beispiele für ein solches liberales Wohlfahrtsmodell sind die USA, Kanada oder Australien.
Dem gegenüber steht der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat. Hier
»Vater Staat«: Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
wird Gleichheit auf höchstem Niveau angestrebt. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen begründen sich in diesem System auf den universellen Bürgerrechten und nicht auf einem Leistungsanspruch aus einem Sozialversicherungsverhältnis, wie es beispielsweise in der Bundesrepublik der Fall ist. Zudem wird die Unabhängigkeit des Einzelnen von der Familie gefördert. Soziale Leistungen werden nicht in erster Linie an die Familie übertragen, sondern als soziale Dienste öffentlich angeboten. Dies betrifft beispielsweise die Kinderbetreuung und die Pflege und Betreuung Pflegebedürftiger. Für Frauen bedeutet dies, dass sie sich eher für eine Vollerwerbstätigkeit entscheiden können. Frauen profitieren zudem davon, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat zur Erreichung der Vollbeschäftigung ein umfassendes Netz sozialer Einrichtungen mit einem hohen Professionalisierungsgrad vorhält, das einerseits die Betreuungs- und Sorgeaufgaben erfüllt, die sonst der Frau zufallen würden, und das andererseits Arbeitsplätze innerhalb eines professionellen Dienstleistungssektors bietet. Beispiele für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat sind die nordeuropäischen Länder, besonders Schweden.
Den dritten Typus von Wohlfahrtsstaat repräsentiert die Bundesrepublik.
Die Familie macht’s: Der konservative Wohlfahrtsstaat
Das sogenannte konservative Wohlfahrtsmodell stellt in gewisser Weise einen Mittelweg zwischen den beiden anderen Wohlfahrtstypen dar. Das konservative Modell setzt auf das Subsidiaritätsprinzip. Dies bedeutet konkret, dass der Staat in erster Linie auf das »Solidarsystem Familie« setzt und erst in zweiter Instanz auf gesamtgesellschaftliche Solidarität. Dies funktioniert jedoch nur bei einer konservativen Arbeitsteilung der Familien: Der Mann ernährt als Hauptverdiener die Familie, während die Frau unentgeltlich die familiären Fürsorgeaufgaben übernimmt. Hier wird der enge Zusammenhang zwischen Familienpolitik und Sozialpolitik deutlich: Das Ehegattensplitting und die Ungleichverteilung der Einkommen von Männern und Frauen sowie der mehr als zögerliche Ausbau einer flächendeckenden Kinderbetreuung in Deutschland festigen die konservative Arbeitsteilung. Mit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurde der Vorrang der häuslichen vor der institutionellen Pflege gesetzlich untermauert, das heißt, die Aufgabe der Pflege wurde explizit in der Familie, sprich: bei der Frau verankert.
Ziel der konservativen Wohlfahrtspolitik ist es, so die Politikwissenschaftlerin Cornelia Heintze, die Kosten für die Pflege möglichst gering zu halten. Tatsächlich sind die staatlichen Ausgaben für Pflege seit Einführung der Pflegeversicherung gesunken, wie die Statistik in Abbildung 2 zeigt.
Abb. 2: Entwicklung des Anteils der Ausgaben für Altenpflege am BIP in Deutschland (Quelle: statista)
Merkmale des konservativen Wohlfahrtsmodells
Der konservative Wohlfahrtsstaat ist durch einige besondere Merkmale gekennzeichnet. Dies wird am Modell der Pflegeversicherung gut deutlich:
• Der Vorrang von informeller vor professioneller Pflege ist im Grundsatz »ambulant vor stationär« gesetzlich verankert. Das Pflegegeld soll einen finanziellen Anreiz für innerfamiliäre Pflegearbeit setzen.
• Der Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Pflegeversicherung ist eng definiert, sodass längst nicht jeder Hilfebedarf, den eine Person aufweist, zu einem Anspruch aus der Pflegeversicherung führt.
• Der Katalog der Pflegesachleistungen ist stark begrenzt und verrichtungsorientiert. Zudem sind die Leistungen der Pflegeversicherung budgetiert, sodass sie in der Regel zur Finanzierung einer umfassenden professionellen Pflege nicht ausreichen.
• Aus dem eng definierten Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem verrichtungsbezogenen Pflegeleistungskatalog lässt sich keine Begründung für eine professionelle Pflege ableiten. Sowohl pflegenden Angehörigen als auch ausgebildeten Pflegepersonen fällt es schwer zu definieren, was professionelle Pflege von Laienpflege unterscheidet, tun doch beide Parteien, abgesehen von Maßnahmen der Behandlungspflege, scheinbar dasselbe.
• Für pflegerische Laien ist die zersplitterte Anbieterstruktur aus gemeinnützigen, privat-gewerblichen und öffentlichen Anbietern schwer zu überblicken, sodass es immer wieder zu Versorgungslücken kommt.
• Es gibt eine starke Tendenz hin zu einem »grauen Pflegemarkt«, in dem zumeist osteuropäische Frauen ohne hinreichende Qualifikation oder Sprachkenntnisse unter teils unwürdigen Bedingungen und im teilweise rechtsfreien Raum Pflege und Betreuungsdienste erbringen.
Es ist nicht leicht zu glauben, dass die stationäre Pflege eine ökonomisch
Zusammensetzung von Heimkosten
besonders günstige Versorgungsform darstellt, wenn man sich die Preise der Heime vor Augen führt. Ein Pflegeplatz kostet in der Bundesrepublik je nach Pflegestufe etwa 2.500 bis 4.500 €. Die Kosten setzen sich zusammen aus …
• … dem Entgelt für die Pflege: Dieses umfasst alle Pflegeleistungen aus dem Bereich der Grundpflege. Ebenfalls darin enthalten sind Leistungen der Behandlungspflege, die in Pflegeeinrichtungen nicht gesondert bei der Krankenkasse geltend gemacht werden dürfen, sowie Leistungen der Sozialen Betreuung, die nicht unter den § 87 B fallen.
• … den Kosten für Unterkunft und Versorgung: Hierunter fallen Kosten für Einkauf und Zubereitung der Mahlzeiten sowie Getränke, Unterkunft, Reinigung und Instandhaltung.
• … Investitionskosten: bestehen aus Kosten für Bau, Renovierung und Umbauten.
Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, Investitionen und Zusatzleistungen trägt der Pflegebedürftige selbst. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass Kosten für Essen und Miete auch dann anfallen, wenn ein pflegebedürftiger Mensch zu Hause lebt. Eine kleine Rechnung stellt dar, was angesichts der hohen totalen Beträge, die ein Heimplatz kostet, mit günstig gemeint ist. Die Entgelte für stationäre Pflege, also der Beitrag der Pflegeversicherung, sind in Tabelle 1 aufgeführt.
im Monat (30 Tage)pro Tag
Tab. 1: Pflegesätze stationär
Der Tagessatz enthält alle pflegerischen Maßnahmen, die in 24 Stunden an einem Heimbewohner geleistet werden. Zum Vergleich: Eine große Toilette durch eine Pflegefachkraft kostet als ambulante Leistung etwa 24 €, eine kleine Toilette etwa 16 €, Hilfe bei Ausscheidungen etwa 10 €, Lagerung und Mobilisation jeweils 5 €, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme etwa 16 €.
Die jeweilige Pflegestufe, die eine pflegebedürftige Person erhält, errechnet sich aus den Zeiten, die für hauswirtschaftliche Verrichtungen und die sogenannte Grundpflege notwendig sind.
• In der Pflegestufe 1 sind dies mindestens 90 Minuten, dabei müssen mindestens 45 Minuten auf die Grundpflege entfallen.
• In der Pflegestufe 2 sind es mindestens 180 Minuten, dabei müssen mindestens 120 Minuten auf die Grundpflege entfallen.
• In der Pflegestufe 3 sind es mindestens 300 Minuten, wobei mindestens 240 Minuten auf die Grundpflege entfallen müssen.
Pflege im Heim ist vergleichsweise billig
Um unsere Rechnung fortzusetzen: Eine alte Dame in der Pflegestufe 1 nimmt jeden Morgen eine große Toilette durch einen ambulanten Pflegedienst in Anspruch. Die Kosten für die Pflege belaufen sich auf 24 € täglich und 720 € monatlich. Der Zustand der alten Dame verschlechtert sich. Sie benötigt nun auch abends eine kleine Toilette und zweimal täglich Hilfe bei den Ausscheidungen. Nun belaufen sich die Kosten für die ambulante Pflege auf 60 € täglich und 1.800 € monatlich. Obwohl dieser Hilfeumfang noch gut mit der Pflegestufe 1 zu vereinbaren ist, sind an diesem Punkt bereits die Kosten für die stationären Pflegesätze in der Stufe 3 überschritten.
In diese Beispielrechnung sind Fahrtpauschalen, Investitionskosten, Ausbildungspauschale und Wochenendzuschläge, die ambulante Dienste berechnen, noch nicht eingerechnet. Zudem hat unsere alte Dame ihre Miete, einschließlich Energiekosten und die Kosten für Lebensmittel zu tragen und sie ist nicht rund um die Uhr versorgt. Würde sie ein Hausnotrufsystem beanspruchen, kämen noch monatliche Kosten zwischen 60 und 70 € hinzu; wenn sie den Notruf betätigt, eine Pauschale von jeweils etwa 40 €. Was ich damit ausdrücken möchte: Pflege ist immer mit hohen Kosten verbunden. Der Vergleich macht deutlich, dass stationäre Versorgung ab einem gewissen Pflege- und Betreuungsbedarf die billigste Versorgungsform darstellt.
Eine weitere Rechnung verdeutlicht, dass Pflege im Heim wesentlich geringer vergütet wird als im ambulanten Bereich ( Tab. 2). Zu diesem Zweck werden die Vergütungen für Pflege auf Stunden umgerechnet.
PflegestufeZeitlicher AnspruchEuro/TagStundenwert
Tab. 2: Stundenpreise stationäre Pflege
Zum Vergleich: Eine große Toilette im ambulanten Dienst durch eine Fachkraft kostet etwa 24 € und dauert 25 Minuten. Hochgerechnet auf eine Stunde ergibt dies einen Wert von rund 50 €. Bei einer Hilfskraft sind es immer noch rund 33 €.
Interessant ist zudem, dass sich die Vergütung pflegerischer Leistungen nicht nur deutlich von der im ambulanten Bereich abhebt. Sie variiert auch innerhalb der Pflegestufen. Die Pflegeminuten der drei Pflegestufen stehen im Verhältnis: 1 zu 2,6 zu 2. Die Vergütung der Pflegestufen steht im folgenden Verhältnis: 1 zu 1,25 zu 1,21. Die Gesundheitsökonomen Güntert und Thiele bemerken hierzu in ihrem Aufsatz »Gibt es eine Unterfinanzierung der Pflege?« (vgl. Bauer und Büscher 2008), dass für den Bereich der Pflegeversicherung offenbar nicht die Aussage gelte, dass Geld der Leistung folge, sondern dass zwischen der Leistung, dem Pflegeaufwand und der finanziellen Abgeltung eine erhebliche Lücke klaffe.
Die Pflegeversicherung verspricht pflegebedürftigen Personen, die einen Anspruch auf Pflegeleistungen haben, eine qualitativ hochwertige Pflege auf dem Stand der aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse. Pflegeeinrichtungen verpflichten sich zur Erbringung dieser wissenschaftlich begründeten, professionellen Pflege, wenn sie einen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen abschließen. Doch was ist professionelle, wissenschaftlich begründete Pflege und welche Handlungen umfasst sie? In der Öffentlichkeit und auch innerhalb unserer Berufsgruppe wird Pflege oft als das verstanden, was Pflegepersonen an der pflegebedürftigen Person unmittelbar »tun«. Altenpflegerinnen und -pfleger waschen pflegebedürftige Personen, sie bringen sie zur Toilette und unterstützen sie beim Essen und Trinken. Dieser verrichtungsorientierte Blick auf Pflege resultiert aus dem eng gefassten Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung. Pflegebedürftig sind demnach
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist eng gefasst
»Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höheren Maße« der Hilfe bedürfen.
Der enge und verrichtungsorientierte Pflegebegriff führt bei pflegebedürftigen Personen zu Versorgungslücken, da er sich nicht am Bedarf der pflegebedürftigen Person orientiert, sondern an einem Katalog budgetierter Leistungen. Solche Leistungen, die nicht in diesem Leistungskatalog verankert sind, werden nicht vergütet. Dies sind beispielsweise:
Viele pflegerischen Leistungen werden nicht vergütet
• fallbezogene Informationssammlung
• Planung des pflegerischen Angebots gemeinsam mit der betroffenen Person und ggf. deren Angehörigen
• komplexes Krankheitsmanagement insbesondere chronischer Erkrankungen
• Beratung zu gesundheitlichen, versorgungsorganisatorischen und pflegerischen Fragestellungen
• Unterstützung in der Bewältigung von Krankheit und Pflegebedürftigkeit
• fallbezogene Koordination des gesamten pflegerischen, therapeutischen und medizinischen Versorgungsmanagements
• Krisenintervention und Sterbebegleitung
• die Durchführung fallbezogener und bedarfsgerechter Maßnahmen aus dem Bereich der Grundpflege (Auch »waschen« kann nicht jeder, was schnell deutlich wird, wenn man bedenkt, welch unterschiedliche Herangehensweisen etwa die Körperpflege einer demenzkranken Person im Vergleich zu einer Person mit den Folgen eines Schlaganfalls erfordert)
• die Erfolgskontrolle der durchgeführten Pflege
Für diese Angebote besteht jedoch auf Seiten der pflegebedürftigen Personen ein hoher Bedarf. Im hohen Lebensalter sind die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit, das Vorhandensein einer Pflegebedürftigkeit und das Leben in einer Pflegeeinrichtung relativ sichere Vorhersagefaktoren für die subjektive Lebensqualität. Der Verlust der Gesundheit, der Selbständigkeit und die Übersiedlung in eine Pflegeeinrichtung wirken sich mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf das Wohlbefinden einer Person aus. Ein Einzug ins Heim bedeutet immer den völligen Verlust des gewohnten Lebensalltags, und er resultiert fast immer daraus, dass die Person ihren Alltag in der eigenen Häuslichkeit nicht mehr bewältigen konnte. Menschen, die in eine Pflegeeinrichtung einziehen, befinden sich in aller Regel an einem fortgeschrittenen Entwicklungspunkt einer oder mehrerer chronischer Krankheiten, in deren Verlauf sie Alltagskompetenzen und die Fähigkeit zur Selbstversorgung verloren haben. Das bedeutet, dass sich pflegerische Maßnahmen nicht im luftleeren Raum abspielen, sondern immer im engen Kontext einer gesundheitlichen Gesamtsituation und deren Verarbeitung durch die Person gesehen werden müssen.
Es geht in der professionellen Pflege demnach nicht darum, eine pflegebedürftige
Pflege ist mehr als »Waschen«
Person jeden Morgen von Kopf bis Fuß zu waschen, weil sie sich selbst vermeintlich oder tatsächlich nicht mehr waschen kann, so wie es der Leistungskatalog der Pflegeversicherung vorsieht. Es geht vielmehr darum, gemeinsam mit der betreffenden Person herauszufinden, auf welche Weise ihre gesundheitliche Situation ihr Leben, ihr Wohlbefinden und ihre Alltagsbewältigung beeinflusst und welche Ziele und welches pflegerische Angebot daraus mit und für sie abgeleitet werden können. Professionelle Pflege orientiert sich nicht an Verrichtungen, sondern an Personen, ihren Bedürfnissen und ihrem pflegerischen Bedarf. Sie sollte zudem theoriegeleitet und wissenschaftlich fundiert sein. Die Pflegeversicherung verspricht und fordert solch eine professionelle Pflege, vergütet jedoch nur Verrichtungen.