Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. 1. Eine folgenschwere Entscheidung
  7. 2. Eine erkannte Geschichte
  8. 3. Ein Stab wird übergeben
  9. 4. Die Jagd beginnt
  10. 5. Das Mädchen in der Falle
  11. 6. In der Höhle der Ghoulas
  12. 7. Kein Mensch
  13. 8. Die Stimme des Drachen
  14. 9. Im Herzen der Wüste
  15. 10. Gerettet
  16. 11. Der Ifrit in der Maske
  17. 12. Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher
  18. 13. Die richtige Richtung
  19. 14. Durch die Weiße Wüste
  20. 15. Die Stadt im Fels
  21. 16. Im Drachenhort
  22. 17. Schlechte Nachrichten
  23. 18. Im Bauch des Riesen
  24. 19. Wohin?
  25. 20. Nach Nabija
  26. 21. Das Heer der Schatten
  27. 22. Verborgen vor allen Augen
  28. 23. Drachentöter
  29. 24. Aus der Wand gelesen
  30. 25. Ende und Anfang

Über den Autor

Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich auch in seinen Romanen wider: klassische Fantasy-Geschichten um Drachen und Magie, die ebenso sehr an den HERRN DER RINGE an orientalische Märchen erinnern.

Aus der Bibliothek
der ungeschriebenen Bücher

AKRAM EL-BAHAY

Flammenwüste

ROMAN

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BASTEI ENTERTAINMENT

Für Julia, Max, Henry und Anton

1. Eine folgenschwere Entscheidung

Die Flammen loderten auf, als der Kaffeemeister das langstielige Mokkakännchen von der Feuerstelle nahm. Rasch füllte er die tiefschwarze Flüssigkeit in eine kleine Tasse und bahnte sich mit ihr seinen Weg durch die dichte Menschenmenge, die sich im hinteren Teil des Kaffeehauses versammelt hatte.

Rauch aus einem Dutzend Wasserpfeifen bildete einen dichten Vorhang. Es war beinahe Mittag, doch das Licht von außen drang schläfrig durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden in den Raum, der in ein schummriges Halbdunkel getaucht war.

Gespannte Stille herrschte unter den Gästen. Sie alle warteten darauf, dass der berühmte Erzähler Nûr ed-Din endlich mit der nächsten Geschichte begann. Seit dem ersten Angriff war das Interesse der Menschen an den alten, fast vergessenen Erzählungen über Drachen wieder erwacht und viele, die heute gekommen waren, hofften, dass die Worte des Erzählers diese Feuer speienden Wesen wieder in das Reich der Märchen und Legenden verbannen würde, wo sie ihrer Meinung nach auch hingehörten.

Vor einem halben Jahr hatten Händler von einer ausgebrannten Karawanserei berichtet, die an der alten Gewürzstraße lag. Es war bekannt, dass alle Kaufleute, die dort Rast machten, wertvolle Ware mit sich brachten. Daher suchte man die Schuld für den Überfall zunächst bei den Haschirim, jenen unbarmherzigen und grausamen Wüstenkriegern, die seit Jahr und Tag das Land unsicher machten. Der Sultan schickte Soldaten, um die Schuldigen aufzuspüren, aber seine Männer kehrten mit leeren Händen zurück. Nicht eine Spur der Angreifer war zu finden gewesen. Es schien, als wären Feuer und Zerstörung vom Wüstenwind herangetragen worden.

Der Vorfall geriet in Nabija bereits in Vergessenheit, als zwei Monate darauf andere Händler von einer zweiten niedergebrannten Karawanserei berichteten. Erneut schickte der Sultan seine Soldaten und abermals kehrten die Männer erfolglos zurück. Nur kurze Zeit später fiel ein dritter Karawanenhof den Flammen zum Opfer. Doch diesmal fanden die Händler unter den Toten einen Mann, der sich noch für ein paar Atemzüge ans Leben klammerte. Nur ein Wort brachte er vor seinem Ende hervor: Drache!

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht über das Land, begleitet von Entsetzen, Unglauben … und Neugier.

Anûr, der Enkel des Erzählers, schielte neidisch auf die Mokkatasse, die der dicke Kaffeemeister seinem Großvater reichte. Während Nûr an dem Gebräu nippte, betrachtete Anûr die Menge. Er erkannte einige der Zuhörer von gestern wieder, andere waren schon seit dem Morgen hier. Sie alle wollten hören, was sein Großvater über Drachen zu erzählen wusste.

»Drachen«, hörte er seinen Großvater schließlich die Geschichte beginnen, »sind so alt wie die Welt selbst. In ihnen brennt dasselbe Feuer, das noch heute tief im Inneren der Erde lodert und das am Anfang aller Tage das Land zum Schmelzen und die Ozeane zum Kochen gebracht hat. Es ist das Feuer, aus dem die Welt geschaffen wurde. Lange haben die Drachen friedlich Seite an Seite mit den Menschen gelebt … bis der große Krieg über die Welt kam. Ein weit entferntes Reich, heute von den Menschen längst vergessen, erhob sich damals. Von dort kamen fremde Soldaten, auf der Suche nach einem mächtigen Zauber. Ein Zauber, der seinem Beherrscher mehr Stärke verleihen würde als das tödlichste Schwert und das größte Heer. Die Armee des fremden Königs war gewaltig und brachte Tod und Zerstörung über die Völker der Wüste. Die Menschen Nabijas indes waren nicht schutzlos, denn sie kämpften gemeinsam mit den stolzen und tapferen Menschen aus Hambar, der schwimmenden Stadt auf dem Roten See, und den Seefahrern von Nubiéd, die ihnen zur Hilfe geeilt waren. Doch während der Krieg tobte, geschah etwas im Lager der Feinde, das alles verändern sollte. Der König …« An dieser Stelle brach Nûr ab und hustete gekünstelt.

Anûr musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sein Großvater hatte heute schon drei Geschichten erzählt, und Anûr ahnte, was jetzt kam.

Der alte Erzähler hustete noch einmal und klopfte sich nun auch auf die Brust. Das war das verabredete Zeichen für Anûr, zu ihm zu kommen und ihm aufzuhelfen. »Es geht nicht mehr«, keuchte er so übertrieben, dass sich Anûr sicher war, die Zuhörer würden das Schauspiel durchschauen. Doch die Blicke der Leute waren ebenso bestürzt wie sorgenvoll, während sich Nûr hochrappelte und zum Beweis seiner Schwäche auf seinen Enkel stützte. »Ich muss mich etwas ausruhen.«

Aufgeregtes Gemurmel entsprang unter den Leuten. »Aber Ihr müsst weitererzählen. Was passierte mit den Drachen?«, rief ein Mann, so mager wie die streunenden Katzen der Stadt, der von seinem Sitzkissen aufgesprungen war.

»Vielleicht könnte mein Enkel weitererzählen.« Nûr klopfte seinem Enkel schwach auf die Schulter. »Er weiß fast ebenso viel über die alten Geschichten wie ich.«

Anûr seufzte leise. Es war das übliche Schauspiel, das sein Großvater aufführte, wenn er eine Pause wollte. Dann tat er so, als hätte er einen Schwächeanfall, und ließ ihn die Geschichte beenden, wenn es die Zuhörer wollten. Aus Mitleid mit dem armen Alten, der meist im Hinterzimmer schnarchte, zeigten sich die Leute später beim Bezahlen für die Erzählung häufig sogar besonders spendabel.

Anûr sah seinem Großvater nach, der wankend in einem Hinterzimmer des Kaffeehauses verschwand, dann drehte er sich zu den Gästen des Kaffeehauses um und hob fragend die Augenbrauen. Er konnte zwar viele der Geschichten besser als sein Großvater erzählen, der hier und da schon mal eine Wendung vergaß. Doch nicht immer wollten die Leute, dass der Lehrling die Geschichte fortführte, und wenn sie ihm hier nicht zuhören wollten, sollte ihm das recht sein. Er könnte genauso gut die Stadt erkunden.

»Der Junge soll erzählen«, rief jedoch ein Mann, der an der Wand lehnte, und zustimmendes Gemurmel erhob sich um ihn herum.

Also keine Gelegenheit, Nabija endlich kennenzulernen. Anûr zuckte enttäuscht mit den Achseln und ließ sich auf dem großen Holzstuhl nieder, auf dem zuvor sein Großvater gesessen hatte. Die Menge wurde schnell wieder still, und er führte die Erzählung fort. »Doch im Lager der Feinde geschah etwas, das alles verändern sollte. Der König der Feinde starb und Nyan, sein Magier, nahm seinen Platz ein. An dem Tag, an dem Nyan die Macht übernahm, wurde das fremde Heer stärker und die Menschen Nabijas verloren an Kraft, denn Nyan verfügte über eine machtvolle Waffe. Verrat.«

Anûr berichtete, wie sich die Menschen zuvor mit vielen der Drachen zu einem Bündnis zusammengeschlossen hatten. Doch er erzählte seinen Zuhörern auch, wie Nyan Zwietracht in den Reihen der Menschen und ihrer Feuer speienden Verbündeten säte, während sich seine eigenen mit treulosen Menschen und Drachen füllten. Letztere waren es schließlich, die Nabija das meiste Leid brachten. Anûrs Beschreibung davon, wie das Drachenfeuer den Menschen das Fleisch von den Knochen fraß, ließ die Zuhörer frösteln, obwohl es warm war in dem überfüllten Kaffeehaus, und sich die Wangen vieler Zuhörer nicht nur vor Aufregung röteten.

»Es dauerte nicht lange und Nyans Heer hatte weite Teile der Wüste erobert. Selbst die Dschinnen und Ifriten und all die anderen Wesen der Wüste fürchteten seine Macht und zogen sich weit zurück, hinein in Gegenden, die kein Mensch zu betreten wagte. Die letzten Soldaten des Sultans konnten die vollkommene Zerstörung ihres Landes nicht mehr viel länger aufhalten. Doch mit einem Mal endete der Krieg. Von einem Tag auf den anderen zog Nyans Armee ab und kehrte in die Tiefe Wüste zurück. Die Menschen von Nabija konnten kaum glauben, dass der Krieg vorüber war. Erleichterung breitete sich unter ihnen aus. Nur einer mahnte zur Vorsicht. Es war Schakschuka, der Magier des Sultans von Nabija. Er fürchtete, dass Nyan den Zauber gefunden hatte, den er und sein König vor ihm so unerbittlich gesucht hatten und den er in Nabija versteckt geglaubt hatte. Schakschuka warnte den Sultan, dass Nyan damit unbesiegbar werden würde. Auf sein Drängen hin schloss sich das kriegsmüde Heer von Nabija mit seinen Verbündeten zu einer letzten Schlacht zusammen und stellte sich Nyan. Drei Tage soll die Schlacht gedauert haben. Menschen kämpften gegen Menschen und Drachen gegen Drachen.« Anûr machte eine kunstvolle Pause und nippte an der Mokkatasse, die sein Großvater stehen gelassen hatte. Wenigstens noch lauwarm, dachte er und sah sich um. Alle Augen im Raum waren auf ihn gerichtet. Er spürte, wie seine Worte Fäden sponnen. Ein Netz, in dem sich seine Zuhörer verfingen. Seine Worte malten ihnen Bilder in die Köpfe. Ein guter Erzähler lässt seine Zuhörer mit den Ohren sehen, sagte sein Großvater immer. Oh ja, ein Blick in die Gesichter der Leute zeigte Anûr, dass sie längst nicht mehr die Kaffeestube vor sich sahen.

»Zum Schluss führte ein einzelner Mann die Entscheidung herbei«, fuhr Anûr mit dunkler Stimme fort. »Tausende hatten bereits ihr Leben gelassen. Doch Schakschuka gelang es in einem letzten verzweifelten Versuch, Nyan zu stellen und zu besiegen. Der geheimnisvolle Zauber, um dessen Willen dieser Krieg geführt worden war, ging verloren. Und auch die Drachen verschwanden, gleich, auf welcher Seite sie zuvor gekämpft hatten. So gingen sie in das Reich der Geschichten ein. Ihre Geschichten wurden zu Legenden. Aus den Legenden entstanden Mythen. Und aus den Mythen wurden schließlich Märchen.« Anûr blickte sich um. »Das war die Geschichte von den Drachen und dem Krieg gegen Nabija. Danke für eure Aufmerksamkeit. Bitte vergesst nicht, uns etwas in den Beutel zu werfen.«

Es dauerte einen Moment, bis auch die letzten Zuhörer begriffen hatten, dass die Erzählung vorbei war. Murrend erhoben sie sich von ihren Kissen und sprachen mit gedämpften Stimmen über die Geschichte. Viele von ihnen warfen Münzen in Anûrs Beutel.

Bislang läuft es ganz gut, dachte er bei sich, als er die Einnahmen grob überschlug. Sein Großvater und er waren erst gestern in Nabija, der Hauptstadt des nach ihr benannten Reiches, eingetroffen. Sie hatten, nachdem die ersten Gerüchte von dem Drachen aufgekommen waren, nicht lange gezögert und sich auf die weite und beschwerliche Reise von der kleinen Küstenstadt im Norden, in der sie lebten, zum Zentrum des Wüstenreichs gemacht. Nabija. Noch nie war Anûr hier gewesen. Hier hofften sie nun, alles hören zu können, was über den Drachen und die Angriffe berichtet wurde … und dabei mit ihren Geschichten ein hübsches Sümmchen zu verdienen. Schließlich galt Nûr ed-Din, bei dem Anûr seit dem Tod seiner Eltern lebte, als einer der besten Erzähler des Reiches und sein Wissen über Drachen war unerreicht.

Auch Anûr liebte Geschichten, er dachte sich sogar eigene aus. Erzählt hatte er jedoch noch nie eine von seinen eigenen, nicht einmal seine Lieblingsgeschichte. Unter den Erzählern war das Erfinden neuer Geschichten nur den Meistern vorbehalten, die mehr als ein halbes Jahrhundert damit zugebracht hatten, die Kunst des Erzählens zu verfeinern.

Nach und nach leerte sich das Kaffeehaus, obwohl sich der Kaffeemeister nach Kräften bemühte, die Leute zum Bleiben zu bewegen. Als er einsah, dass er seine Gäste nicht aufhalten konnte, gab er resigniert auf. Er zog einen Lappen hervor, ebenso schmutzig wie die Schürze, die er umgebunden hatte, und begann, die Tische abzuwischen.

Anûr schob die Münzen zurück in den Beutel, als ihn plötzlich schwere Schritte aufhorchen ließen. Er sah überrascht auf und entdeckte zwei Soldaten, die ihn mit fragendem Blick musterten. Einer von ihnen hielt das Schild in der Hand, das Anûr am Vortag draußen an der Eingangstür angebracht hatte.

»Wir suchen den Geschichtenerzähler Nûr ed-Din«, sagte der größere der beiden Soldaten. »Wir sind im Auftrag des Sultans hier.«

»Nun, ich …«, fing Anûr an, doch dann hielt er inne. Eine Idee nahm Gestalt in seinem Kopf an. Es war eine von der Art, die einen nicht mehr losließ, obwohl man genau wusste, dass sie einen in Schwierigkeiten bringen würde.

Es war nicht das erste Mal, dass sein Großvater an einem der Orte, die sie besuchten, zu den Stadtoberen gerufen wurde, um sie zu unterhalten. Häufig genug beschwerte er sich, dass er keine Lust hatte, einem selbstverliebten Kalifen oder, schlimmer noch, seinen kriecherischen Beamten und Wesiren Privatvorstellungen zu geben, vor allem da Anûr ihn meistens nicht einmal begleiten durfte. Und wenn doch, dann musste er bei den Torwachen oder im Küchentrakt warten. Dabei hätte er einen Palast gerne mal von innen gesehen, besonders den berühmten Sultanspalast.

Er horchte auf das leise Schnarchen aus dem Hinterzimmer. Nûr, das wusste er, hielt für gewöhnlich einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Er würde erst in ein oder zwei Stunden wieder aufwachen. Bis dahin konnte Anûr ihn vertreten und in seinem Interesse die Einladung des Sultans annehmen. Schließlich brauchte der alte Mann seinen Schlaf. Und einen Sultan konnte man nicht warten lassen. Einen Lidschlag später hatte Anûr seine Entscheidung getroffen

»Ihr habt ihn gefunden«, sagte Anûr. »Ich bin Nûr ed-Din.«

Der Soldat warf ihm einen misstrauischen Blick zu und fragte dann den Wirt, ob dies wirklich der Erzähler sei.

Anûrs Herz begann so laut zu klopfen, dass er glaubte, die Soldaten könnten es hören.

Der dickbäuchige Besitzer des Kaffeehauses, der sich an der Theke herumdrückte, ließ den schmutzigen Lappen sinken und zuckte mit den Schultern. »Ein Erzähler? Der Junge? Ja, ja. Er erzählt wirklich gut. Wollt ihr nicht vielleicht einen Kaffee? Oder etwas anderes?«, fragte er hoffnungsvoll, doch der Soldat wandte sich ab. Er musterte Anûr erneut, und Anûr konnte den Zweifel aus seinem Blick lesen. »Du bist jünger als ich angenommen hätte«, sagte er. »Viel jünger.« Er hielt seinen Blick noch einen Moment auf ihn gerichtet, doch dann nickte er und deutete auf die Tür. »Na gut. Komm mit.«

Anûr atmete erleichtert aus. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, seine Lüge würde auffliegen. Er steckte den Beutel mit dem Geld ein und folgte den beiden Soldaten aus dem Kaffeehaus. An der Vorderseite des Gebäudes spendete ein Bogengang angenehm kühlen Schatten. Die Arkaden zogen sich die gesamte Länge der Straße entlang und sie folgten dem Gang, bis er auf eine andere Straße mündete. Sie hielten sich in Richtung der Sultanstraße, der Hauptstraße der Stadt, und erreichten sie schon nach kurzer Zeit.

Unzählige Menschen drängten sich dort aneinander vorbei. Obwohl die Straße breit war, gab es kaum genug Platz für alle. Händler in prächtigen Kleidern ritten auf Kamelen durch die Menge und sahen dabei aus, als würden sie auf einem Meer aus Leibern schwimmen. Dahinter folgten ihnen ihre Diener auf Eselskarren, mit denen Ware transportiert wurde. Die Straße wurde von Verkaufsständen und Handwerksbuden gesäumt. So ein Gedränge war Anûr nicht gewohnt und er versuchte, so nah wie möglich bei den Soldaten zu bleiben, vor denen sich die Menge wie von Geisterhand teilte, nur um sich direkt hinter ihnen wieder zu schließen. Anûr wurde ständig angerempelt und schaffte es nur mit Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren.

Es herrschte ein solcher Lärm, dass man kaum die eigenen Gedanken verstehen konnte. Anûr hörte zwei alte Eselstreiber über die schlechten Straßen schimpfen und das bisher viel zu kalte Wetter für diese Jahreszeit. Immerhin sei es schon Juli, aber so kühl wie im Februar. Erst jetzt scheine es wärmer zu werden. Sie kamen an dem Geschäft eines Fußbüglers vorbei, der das heiße Eisen mit seinem linken Fuß auf ein Hemd presste und geschickt über den Stoff gleiten ließ. Man solle es nicht für möglich halten, schimpfte der alte Bügler. Da hätte eine Frau gesagt, dass sie für den Preis lieber selbst bügeln würde. Selbst bügeln! Und dann auch noch eine Frau! Er wüsste schon, wohin das führen würde.

Was immer der Fußbügler noch zu sagen hatte, ging im lautstarken Streit zweier Frauen unter, die über den Preis für ein Huhn feilschten. Das Tier schlug wild mit den Flügeln in seinem Käfig und gackerte.

Sie kamen in einen Teil der Straße, in dem vor allem Gewürz- und Obsthändler ihre Stände hatten. In den betörenden Duft von Kardamom und Zimt mischte sich das Aroma von reifen Bananen, saftigen Mangos und goldgelben Honigmelonen. Allerdings stieg Anûr auch der faulige Gestank einiger Früchte in die Nase, denen die lange Zeit in der Sonne nicht gut bekommen war.

Als sich Anûr mit seinen beiden Führern dem Fluss näherte, den die Menschen in Nabija den Musachir, den Reisenden nannten, nahm das Gedränge endlich ab. Er wusste, dass der Fluss die Stadt in zwei Hälften teilte und auf der anderen Seite das königliche Viertel lag. Die meisten Bürger, sofern sie nicht wegen kleinerer Streitigkeiten zu einem der rechtsprechenden Qadi mussten oder gar im Palast zu tun hatten, überquerten den Fluss nur selten.

Eine breite Brücke führte über den Musachir, der so träge durch die Stadt floss, als habe er alle Zeit der Welt für seinen Weg zum Meer. Auf der anderen Seite führte die Straße noch ein Stück weiter, bis sie an einer steinernen Mauer aus weißem, glatt poliertem Sandstein endete. Dahinter ragte der majestätische Kuppelbau des Sultanspalastes auf, der ebenfalls mit weißem Stein verkleidet war. Die Kuppel allerdings glänzte golden und fast schien es, als würde dort eine zweite Sonne die erste überstrahlen wollen.

Die Soldaten führten Anûr über die breite Brücke hinüber zum königlichen Viertel. Die Menschen, die mit ihnen den Fluss überquerten, steuerten fast alle die kleineren Gebäude vor der Mauer an. Die drei jedoch folgten der Straße weiter, bis sie das Tor in der Mauer erreichten, und wurden augenblicklich hindurchgewunken. Die Soldaten führten Anûr in einen großen Garten, den die Stimmen unzähliger Vögel erfüllten. Jasmin säumte die Pfade. Sein schwerer, süßlicher Duft lag über allem und die weißen Blüten funkelten in der Sonne wie kleine Perlen.

Als sie schließlich das Tor des Palastes erreichten, schlug Anûrs Herz so schnell, als wäre er den ganzen Weg gerannt. Er rief sich all die Geschichten ins Gedächtnis, die er in langen Stunden auswendig gelernt hatte. Geschichten, die in diesem Palast spielten. Oft hatte er sich ausgemalt, wie es wohl im Inneren aussehen mochte. Gespannt, ob die Wirklichkeit mit der Pracht seiner Fantasie mithalten konnte, trat er über die Schwelle in die Vorhalle, die nach dem gleißenden Mittagslicht zunächst dunkel wirkte. Anûr blinzelte … und ihm stockte der Atem.

Die Vorhalle war vollständig mit glänzendem Marmor ausgelegt. Während der Boden weiß war, hatten die Wände eine gelb-rötliche Farbe. Ganz so, als ob die Abendsonne den Wüstensand zum Leuchten bringen würde. Es wirkte beinahe, als stünde man während eines Sonnenuntergangs mitten in der Wüste. Es war viel schöner, als er es sich je hätte ausmalen können.

Die Soldaten führten Anûr vorbei an breiten Treppen, die in die oberen Stockwerke führten und hin zu einem kleinen zweiflügeligen Tor. Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider. »Dahinter warten die Gäste des Sultans«, sagte der Größere der beiden. »Bleib hier, bis du geholt wirst.« Mit diesen Worten öffnete der Soldat einen der Torflügel.

Plötzlich überkamen Anûr Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich als sein eigener Großvater auszugeben. Er wandte sich um und sah zum Ausgang. Für einen Moment dachte er an Nûr, und daran, was er wohl sagen würde, wenn er hiervon erfuhr. Dann jedoch schob er den Gedanken beiseite. Irgendwie erschien es ihm richtig, vor den Sultan zu treten. Als wäre das etwas, das er tun musste. Anûr nickte dem Soldaten zu, atmete tief ein und ging durch das Tor.

2. Eine erkannte Geschichte

Eine Wasserpfeife stand genau in der Mitte des großen Zimmers und hinter ihr saß ein alter Mann auf einem Kissen, der mit offensichtlichem Genuss rauchte. Als das Tor hinter Anûr zufiel, blickte er auf.

»Hallo, junger Mann«, sagte er fröhlich. »Wollt Ihr Euch zu mir setzen und eine Pfeife mit mir trinken? Es dauert wohl noch etwas, bis wir zum Sultan vorgelassen werden. Er besitzt den besten Tabak, den es in der Wüste gibt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, läutete der Alte eine silberne Glocke, die auf einem kleinen Tisch stand. Einen Moment später öffnete sich eine Tür, die unscheinbar in der Wand zu Anûrs Rechten versteckt lag, und ein Diener erschien. Der Mann wisperte ihm etwas zu, und nur wenige Augenblicke später kehrte der Diener mit einer großen, blauen Wasserpfeife zurück.

Anûr ging ein wenig unsicher auf den alten Mann zu und setzte sich neben ihn auf ein freies Kissen. Während der Palastdiener die Pfeife vor ihm abstellte, sie mit Tabak stopfte und anrauchte, sah Anûr sich in dem Raum um. In der Mitte lagen Kissen in jeder Farbe, die sich Anûr vorstellen konnte, aber ansonsten war der Raum recht leer. Vermutlich um dem Blick auf die aufwendig bemalten Wände nicht zu verdecken. Durch mehrere kunstvoll geschnitzte Ebenholzläden links und rechts in den Wänden wehte eine sanfte Brise aus dem Garten herein und der Duft der Blumen vermischte sich mit dem süßen Aroma des Tabaks. Gegenüber dem Tor, durch das Anûr den Raum betreten hatte, befand sich ein zweites, ungleich größeres. Es schien aus purem Gold zu bestehen und Anûr bestaunte für einen Moment das feine Muster, das sich über die Flügel zog.

Nachdem der Diener Anûr den Schlauch mit einem neuen Mundstück gereicht hatte und verschwunden war, breitete sich eine unbehagliche Stille aus. Anûr überlegte fieberhaft, was er sagen sollte, während ihn der Alte mit wachen, blauen Augen musterte.

»Wie es scheint, seid Ihr der andere Ratgeber«, beendete dieser schließlich das Schweigen.

»Der andere Ratgeber?«, wiederholte Anûr fragend. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Der Zweifel daran, ob es richtig gewesen war, sich als sein Großvater auszugeben, meldete sich lautstark zurück.

»Ich meine, mit was kennt Ihr Euch gut aus?«, hakte der Alte nach. »So weit ich gehört habe, können die Berater des Sultans ihm bei einem Problem nicht weiterhelfen.« Wieder ließ er seinen wachen Blick über Anûr schweifen. »Deshalb hat er nach Experten geschickt. Was also ist Euer Fachgebiet?«

»Geschichten …«, stammelte Anûr, dem es gar nicht behagte, dass der Sultan nach einem Ratgeber suchte. Wollte der Herrscher von Nabija etwa nicht bloß einige Geschichten über Drachen hören? Zu seiner eigenen Beruhigung nahm er einen tiefen Zug aus der Wasserpfeife, und der milde Geschmack von Äpfeln breitete sich in seinem Mund aus.

»Ah, sehr klug von ihm«, sagte der alte Mann. Dann tat er es Anûr gleich und zog an seiner Pfeife. »Die alten Erzählungen bergen viele Wahrheiten in sich. Solches Wissen kann immer nützlich sein.«

»Wisst Ihr, um was für ein Problem es geht?«

Der Alte zog eine Augenbraue hoch. »Nun, ich denke, es dürfte mit ziemlicher Sicherheit um den Drachen gehen, der Feuer speiend durch das Land zieht. Ich frage mich schon eine ganze Zeit, woher er wohl kommen mag. Wo wir gerade beim Woher sind: Ihr seid nicht von hier, oder? Ich erkenne es an Eurer Kleidung. Ich denke, Ihr stammt von der Nordküste. Aus der Wasserstadt, vermute ich.«

Anûr sah auf sein tiefblaues Gewand und nickte. Seine Heimatstadt lag direkt am Meer, nahe einer mächtigen Flussmündung. Die vielen Arme des Flusses machten das Land um die Wasserstadt zum fruchtbarsten des ganzen Wüstenreichs.

»Dann habt Ihr einen weiten Weg zurückgelegt, um zum Sultan zu gelangen«, sagte der Alte.

»Wir waren bereits in der Stadt, als die Soldaten mich gebeten haben, mit ihnen zu kommen.«

»Wir? Ihr seid nicht allein in Nabija?«

»Ich, äh, ich meine, mein Großvater und ich verdienen unser Geld mit dem Erzählen von Geschichten. Ich weiß gar nicht, wieso der Sultan gerade mich hergebeten hat.«

Der alte Mann sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, dann kehrte die freundliche Miene wieder in sein Gesicht zurück. »Eine ausgezeichnete Zeit, um die alten Legenden unters Volk zu bringen. Ich sage immer: Nur wer seine Vergangenheit kennt, weiß, was die Zukunft bringt.«

»Und was ist Euer … Fachgebiet?«, fragte Anûr, der vermeiden wollte, dass der Alte noch weitere Fragen stellte.

»Alles und nichts. Ja, so könnte man es wohl nennen. Ich kenne mich ein wenig in allem aus. Mein Name ist Buck.«

Sehr erfreut, wollte Anûr sagen, doch gerade als er den Mund öffnete, erkannte er den Namen. Er sprang auf und stieß dabei die Wasserpfeife um. »Der Buck, der den berühmten Kriegshafen von Nubiéd gebaut hat? Der Buck, der dem Sultan mit seiner ausgefeilten Kriegstaktik geholfen hat, die einrückenden Haschirim zu besiegen? Wann war das noch? Vor fünfzig Jahren?«

»Es sind höchstens vierzig«, antwortete Buck etwas säuerlich und warf ihm einen missmutigen Blick zu. Doch dann lachte er und half Anûr, die Wasserpfeife wieder aufzustellen.

Anûr sah ihn verlegen an. »Das habe ich nicht so gemeint. Es ist nur so, dass ich schon als Kind Geschichten von Euch gehört habe.«

»Und davon war sicher die eine Hälfte falsch und die andere übertrieben.« Der Alte rieb sich seine lange Nase. »Ihr habt mir übrigens noch gar nicht verraten, wie Ihr heißt?«

»An … nûr. Mein Name ist Nûr ed-Din.«

Bucks Augen verengten sich für einen kurzen Moment. »Ich habe mal von einem Geschichtenerzähler namens Nûr ed-Din gehört. Doch ich dachte, er sei viel älter. Mehr mein Jahrgang. Vielleicht …«

In diesem Moment wurde die Unterhaltung zu Anûrs Erleichterung unterbrochen. Das Tor, durch das Anûr den Empfangsraum betreten hatte, öffnete sich und ein prunkvoll gekleideter, klein gewachsener Mann kam hindurch, der sich ihnen als Jalil, Großwesir des Sultans, vorstellte. Er erinnerte Anûr an einen dicken Hund auf zu kurzen Beinen.

»Seid willkommen«, sagte er und musterte die beiden so abschätzig, als gehörten sie zu den Bettlern, die sich auf dem Suq der Stadt herumtrieben. »Seine Hoheit bittet euch nun zu sich.« Jalil führte sie zu dem goldenen Tor und klopfte wichtigtuerisch dagegen.

Anûr atmete tief ein. Gleich würde er den berühmten Thronsaal sehen. Die Torflügel öffneten sich wie von Geisterhand. Zwei Wachen erschienen, und als sie Jalil erkannten, traten sie beiseite. Der Großwesir stapfte auf seinen kleinen Beinen durch das Tor, und Buck und Anûr folgten ihm schweigend.

Obwohl die Eingangshalle an Größe und Pracht schon ungeheuerlich gewesen war, übertraf der Saal sie bei Weitem. Der Boden war ebenso wie die Wände aus weißem Marmor und so glatt poliert, dass man sich in ihm spiegelte. Staunend sah sich Anûr um. An den Wänden, hoch über seinem Kopf, zog sich ein schwarzes Muster entlang. Ein wenig erinnerte es ihn an eine alte, vergessene Schrift, und für einen Moment schien es ihm tatsächlich, als würde er in dem Muster ein Wort erkennen. Er glaubte, ein seltsam vertrautes Wispern zu hören. Tiefes Unbehagen ergriff ihn, und er musste sich schütteln.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Buck flüsternd und folgte seinem Blick. Anûr glaubte, ein Glitzern in den Augen des Alten zu erkennen, als sie das Muster bemerkten.

»Ich weiß nicht«, murmelte Anûr. »Fühlt Ihr nichts?«

Der Alte schüttelte den Kopf und klopfte Anûr aufmunternd auf die Schulter. »Ihr seid nervös. Tief durchatmen«.

Die Schritte der drei Männer hallten laut in dem Saal wider, und Anûr fühlte sich, als wäre er in eine seiner Geschichten geschlüpft. Eingesponnen in die eigenen Worte. In der Mitte des Thronsaals befand sich ein Kreis aus hohen, schlanken Säulen, die bis zur Kuppel hinaufreichten. »Die Decke ist eines meiner Werke«, flüsterte Buck ihm zu und deutete nach oben. Anûr blickte empor. Er konnte Wolken sehen, die über den blauen Grund des Himmels schwebten. Im ersten Moment dachte er, die Decke wäre offen und die Säulen würden frei stehen; doch dann begriff er, dass das Dach aus einem durchsichtigen Material bestand.

»Ist das Glas?«, fragte er ehrfürchtig.

Buck schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Natürlich nicht. Glas würde in tausendundeine Scherbe zerspringen, wenn man versuchte, ein derart großes Stück davon über den Thronsaal zu spannen. Nein, die Decke ist aus reinem Ambus.«

»Ambus?«

»Es ist eine Art Silber, doch es lässt sich hauchdünn ausrollen. Ich habe die Decke für den Vater des Sultans gebaut. Er hätte mich damals beinahe geköpft, weil ich mich zunächst weigerte. So viel Ambus, wie ich gebraucht habe, ist fast das ganze Reich in Gold wert.«

Anûr sah ihn nachdenklich an. »Wenn Ihr das für den Vater des Sultans gebaut habt …«

»Damals war ich eben noch ziemlich jung«, fiel ihm Buck hastig ins Wort.

Sie hielten auf den Thron zu, der sich an der gegenüberliegenden Wand auf einem Podest befand. Links und rechts des Throns erkannte Anûr prächtig gekleidete Wachen, die goldene Speere in den Händen hielten. Sie standen zwischen niedrigen Säulen, die zu beiden Seiten des Throns Nischen vom Rest des Saals abtrennten. Dort erkannte Anûr gepolsterte Sitzbänke.

Auf dem schwarzen Zedernholzthron aber saß der Sultan, der Herrscher von Nabija. Vor ihm hatten sich seine Emire und Wesire, seine Minister und Kämmerer versammelt. Der Sultan erhob seine Stimme, als er die Neuankömmlinge bemerkte. Voll und ruhig hallte sie durch den Saal. »Mir ist bewusst, wie sehr sich die Menschen vor dem Drachen fürchten«, hörte Anûr ihn sagen. »Wir werden eine Lösung finden, um den Drachen zu besiegen. Ich habe Ratgeber kommen lassen, die uns helfen können.«

Bei diesen Worten sahen einige zu Buck und Anûr hinüber. Dann klatschte der Sultan in die Hände. Die Männer erhoben und verbeugten sich und verließen den Thronsaal. Das Klappern ihrer Schuhe und Pantoffeln hallte noch nach, als der Letzte gegangen war. Diener kamen und trugen die Kissen, auf denen die Männer gesessen hatten, bis auf zwei fort, während der Großwesir mit Anûr und Buck bis kurz vor den Thron trat.

»Hier sind die bestellten Ratgeber, wie Ihr gewünscht habt, Eure Majestät«, sagte er mit so unterwürfiger Stimme, dass sich Anûr beinahe schütteln musste. »Verneigt Euch vor seiner Hoheit, Amir as-Samir«, rief er Anûr und dem alten Mann zu, nachdem er sich selbst so tief vor dem Sultan verbeugt hatte, dass ihm fast der Turban vom Kopf gerutscht wäre.

»Danke, Jalil. Ich denke, ich werde mich nun persönlich um meine Gäste kümmern.« Der Sultan lehnte sich in seinem Thron zurück und wandte sich den beiden zu. »Bitte nehmt Platz. Es ist mir eine große Freude, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen, Buck.«

»Die Freude und die Ehre sind ganz auf meiner Seite, Hoheit.«

»Und das ist also der Geschichtenerzähler Nûr. Nun, die Leute sprechen viel von dir. Es heißt, es gäbe keine Geschichte über Drachen, die du nicht kennst. Ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass jemand, der so viele alte Geschichten kennt, noch so jung ist.«

Anûr spürte, wie ihm das Blut verräterisch in die Wangen schoss. »Nun, ich …«, begann er.

»Du musst dich nicht rechtfertigen«, unterbrach ihn der Sultan freundlich. »Ich war selbst noch ein Junge, als ich den Thron bestieg, und ich musste mich lange Jahre beweisen. Alter und Können, das habe ich gelernt, sind zwei Dinge, die nicht immer zusammengehören.« Er lächelte den beiden zu und strich sich dabei über seinen kurzen, dunklen Bart, in dem einige graue Haare wie Silberfäden hervorschimmerten. »Ich heiße euch willkommen. Aber ich habe euch nicht rufen lassen, weil ich mit euch plaudern möchte.« Er hielt inne und rieb sich die Augen. Sorgen schienen tiefe Spuren in sein Gesicht geschnitten zu haben. »Seit Monaten wird die Lage in unserem Reich zusehends schlimmer. Besonders im Süden müssen wir uns gegen die Angriffe der Haschirim wehren.«

»Aber die Wüstenkrieger sind, so grausam sie auch sein mögen, seit Jahrzehnten zerstritten. Sie bekriegen sich mehr untereinander, als dass sie gegen andere kämpfen«, wandte Buck ein.

Der Sultan nickte. »So war es früher. Nun aber kämpfen sie wieder wie ein Volk. Es gibt Berichte, dass sie sich unter einem neuen Befehlshaber gesammelt haben. Ein skrupelloser Mann, der die Anführer der zehn Stämme einen nach dem anderen getötet haben soll, um ihren Platz einzunehmen. Er heißt Sarraka, sagt man.«

Buck schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann muss er ein wahrlich mächtiger Kämpfer sein, wenn er es geschafft hat, dieses Rudel Hyänen zu zähmen.«

Anûr verfolgte den Austausch der beiden stumm. Er fühlte sich mehr denn je fehl am Platz. Was konnte er gegen Wüstenkrieger ausrichten?

»Das ist es, was ich befürchte. Unser Einfluss in den Grenzregionen schwindet zusehends. Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn wir die Gewürzstraße verlieren würden. Das darf auf keinen Fall geschehen. Doch die Haschirim sind wie Nattern, die im Wüstensand lauern und blitzschnell angreifen, nur um dann wieder zu verschwinden. Große Teile unseres Heeres sind im Süden verstreut und bewachen Dörfer und Karawansereien. Überall jedoch können sie nicht sein.«

»Bei allem Respekt«, sagte Buck, »aber ein Geschichtenerzähler und ein Mann mit so bescheidenen Talenten wie ich können kaum gegen Wüstenkrieger kämpfen. Ihr habt uns also nicht wegen der Haschirim zu Euch gerufen«.

»Nein. Eure Hilfe benötige ich wegen des Drachen.«

»Dann gibt es den Drachen?«, rief Anûr und zuckte im nächsten Moment zusammen. Seine Stimme hallte laut durch den Thronsaal.

»Natürlich gibt es ihn, mein lieber Nûr«, erwiderte der Sultan. »Wie könnte es nicht? Wer weiß, wie viele Drachen vor Generationen den großen Krieg überlebt haben, wie viele heute in Verstecken unter der Erde oder tief in den Bergen schlafen und darauf warten, dass ihre Zeit von Neuem anbricht? Wie sollte es anders sein, als dass einer von ihnen den Weg in unsere Zeit gefunden hat? Ich fühle es. Etwas Altes ist erwacht.«

»Wir sind Euch zu Diensten«, sagte Buck. »Doch wie können wir mit Geschichten, Baukunst oder Erfindungsreichtum gegen ein solches Wesen kämpfen?«

»Damit nicht. Aber mit eurer Klugheit womöglich. Denn mich plagt ein Rätsel, das meine Berater nicht lösen können. Deshalb habe ich euch rufen lassen.«

Mit diesen Worten griff der Sultan nach einem dünnen, in grünes Leder gebundenen Buch, das neben dem Thron zusammen mit einem Kästchen auf einem kleinen Tisch lag. Sein Einband mochte einmal wie ein Smaragd geleuchtet haben, als es frisch gebunden war. Nun aber war er verblasst und rissig. »Dies hier«, der Sultan wog das unscheinbare Buch nachdenklich in der Hand, »ist seit Generationen im Besitz meiner Familie. Es heißt, das Buch und die Schatulle seien nicht lange nach dem Drachenkrieg in den Palast gelangt.«

»Der Drachenkrieg? Aber das hieße, dass das Buch fast eintausend Jahre alt ist«, wandte Anûr verwundert ein.

»Vielleicht sogar älter«, antwortete der Sultan ernst. »Es wird seit jeher vom Vater an den Sohn weitergegeben, und es heißt in meiner Familie, dass es Hilfe bringt, wenn das Reich in großer Gefahr ist. Doch noch nie ist es einem Sultan von Nabija gelungen, hinter sein Geheimnis zu gelangen.«

»Was steht in dem Buch?«, fragte Anûr.

»Es ist eine Geschichte. Eine Kindergeschichte, um genau zu sein.«

Eine Kindergeschichte? Anûr sah Buck verwundert an.

»Verzeiht, aber … mir ist nicht klar, warum Ihr diesem Buch dann so viel Bedeutung beimesst«, wandte er zögerlich ein. »Warum glaubt Ihr, dass eine Kindergeschichte dabei hilft, einen Drachen zu besiegen?«

Der Sultan lächelte. »Ich kann mir vorstellen, dass dies für dich seltsam klingen muss, aber du musst wissen, die Geschichte hat kein richtiges Ende. In ihr wird zum Schluss ein Name genannt, oder besser, er soll wohl genannt werden. Doch noch niemandem ist es gelungen, ihn zu lesen. Er entzieht sich den Augen, so als ob er sich selbst nicht sicher sei, wie er lauten soll.«

»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Anûr. »Ist das Buch verzaubert.«

»Verzaubert? Vielleicht bist du der Wahrheit damit schon sehr nahe. Seht euch dieses Kästchen an.« Der Sultan griff nach der Schatulle, die auf dem Tisch lag, und reichte sie Buck, der sie eingehend betrachtete. Er strich mit seinen Fingern über das dunkle Holz und versuchte vergeblich, den Deckel zu öffnen. Auf ihm stand etwas in feiner Schrift: Wer den Namen kennt, hält den Schlüssel in seinen Händen.

»Früher, als es noch Magie in der Welt gab und Magier die Wirklichkeit so verändern konnten, wie sie es wünschten, sollen in Schatullen wie dieser mächtige Geheimnisse versteckt gewesen sein«, sagte der Sultan. »Nicht von Menschenkraft können sie geöffnet werden. Es heißt, sie offenbaren nur dem ihren Inhalt, der das richtige Wort kennt.«

»Aber das sind doch nur Geschichten«, wandte Buck ein. »Märchen über Menschen, die über geheimnisvolle Kräfte verfügen, finden sich in vielen Ländern. Keines von ihnen ist wahr.«

Der Sultan sah Buck wissend an. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß nur, dass sich dieses Kästchen nicht einmal mit Gewalt öffnen lässt. Und glaubt mir, ich habe es, ebenso wie meine Vorfahren, versucht. Deshalb glaube ich fest daran, dass diese Schatulle genau das ist, wofür sie so viele aus meiner Familie gehalten haben: ein magisches Geheimnis. Was mir fehlt, ist das Wort, das sie öffnet. Das Zauberwort, wenn ihr so wollt. Ich denke, dass es nur der Name aus der Geschichte sein kann.«

»Habt Ihr es mit anderen Namen aus dem Buch versucht?«, fragte Anûr. »Vielleicht öffnet einer von ihnen die Schatulle.«

»Natürlich«, sagte der Sultan und erhob sich. Langsam schritt er die Stufen hinab, die von seinem Thron zum Boden führten, und auch Anûr und Buck kamen auf die Beine. »Aber keiner der Namen konnte die Schatulle dazu bewegen, ihr Geheimnis freizugeben. Auch kein anderer, den man ihr über die Jahrhunderte hinweg zugeflüstert hat. Es muss dieser eine sein, den keiner lesen kann. Ich befürchte, dass nur jemand, der die Geschichte kennt und weiß, wie er lautet, das Kästchen öffnen und so das Geheimnis offenlegen kann, das uns hoffentlich in unserer größten Not hilft. Deshalb habe ich dich kommen lassen, Nûr. Sieh dir die Geschichte an. Es heißt, du wärst der Beste deines Fachs. Vielleicht findest du, was Generationen vor dir nicht gesehen haben.«

Der Sultan reichte Anûr das Buch, der es mit Unbehagen entgegennahm und aufschlug. Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher stand auf der ersten Seite. Ungeschriebene Bücher? Er schüttelte verwundert den Kopf. Was war das bloß für ein Buch? Auf der nächsten Seite begann die Geschichte. Sie war in einer fein geschwungenen Schrift verfasst. Sieht aus wie meine eigene, dachte Anûr bei sich. Dann las er.

Das Märchen vom Drachen, der keinen Namen hatte

Er stockte. Anûr las die Überschrift noch einmal, doch die Worte blieben dieselben. Verblüfft starrte er die Buchstaben an, die ungerührt an ihrer Stelle stehen blieben. Was für ein seltsamer Zufall. Mit klopfendem Herz las er die ersten Zeilen.

Ob diese Geschichte lange her ist, hängt davon ab, wann du sie hörst. Das, von dem hier berichtet wird, geschah weit weg von dem Ort, an dem du dich gerade befindest, denn sonst hättest du sie bereits gehört.

Das Buch fiel ihm aus den Händen, die plötzlich so sehr zitterten, als sei ihm die Aufregung wie Gift in die Finger gefahren. Anûr nahm die verwunderten Blicke, die ihm der Sultan und Buck zuwarfen, nicht wahr. Er brauchte nicht weiterzulesen, um zu wissen, worum es in der Geschichte ging. Er brauchte auch nicht weiterzulesen, um das Ende zu kennen. Anûr hob das Buch auf. Noch immer zitterten seine Hände, doch er zwang sie, das Buch auf der letzten Seite aufzuschlagen. Und tatsächlich. Da standen genau die Worte, die er erwartet hatte.

Und dann sagte er den Namen, laut und klar, sodass jeder ihn hören konnte. Der Name lautete 

Anûr kannte diesen Satz. Er selbst hatte ihn verfasst. Nicht heute, sondern vor zwei oder drei Jahren, als er sich die Geschichte über einen schwarzen Drachen ausgedacht hatte. Es war seine eigene Geschichte. Und nun lag sie hier vor ihm. Geschrieben in einer Schrift, die wie seine aussah. Wie war es möglich, dass sie in einem Buch stand? Noch dazu in einem, das so alt war?

Anûr fuhr sich durch die Haare, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Für all das musste es eine Erklärung geben. Vielleicht hatte er die Geschichte gar nicht erfunden, sondern irgendwo gelesen, nur um später zu glauben, sie sei seine eigene? Für einen Moment brachte dieser Gedanke Erleichterung, doch die Zweifel blieben. Er wusste doch noch, wie er vergeblich überlegt hatte, welchen Namen er dem Drachen geben sollte. Ihm war keiner eingefallen. Kein Name war der richtige gewesen. Anûr wusste, dass er irgendwo in seinem Kopf steckte. Doch fast schien es, dass er sich vor ihm verbarg. Als ob er darauf wartete, sich erst im rechten Moment zu zeigen.

Es ist deine Geschichte. Sie ist hier. Glaube es endlich.

Wie aus der Ferne hörte er, wie der Sultan ihn ansprach. »Kennst du die Geschichte, Nûr? Nûr? Nûr!«

Anûr sah auf. Er wollte antworten, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Wieder sah er auf die letzte Seite.

Und dann sagte er den Namen, laut und klar, sodass jeder ihn hören konnte. Der Name lautete 

Das letzte Wort konnte Anûr nicht entziffern. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. In einem Moment war es, als würden sie stehen bleiben, nur um in der nächsten Sekunde einen anderen Platz einzunehmen. Sie waren ständig in Bewegung und weigerten sich beharrlich, ein sinnvolles Wort zu ergeben. Verzaubert. Ja, das waren sie. Verzaubert für eine magische Schatulle.

Langsam ging er die Treppe zum Thron des Sultans hinauf. Buck hatte das Kästchen zurück auf den Tisch neben den Thron gelegt, und Anûr fuhr andächtig mit den Fingern darüber. Er holte tief Luft und zwang sich, alle seine Fragen für einen Augenblick zu vergessen. Es ist deine Geschichte. Egal, wie sie hierhergekommen ist. Du kennst den Namen.

Sein Herz schlug fest und laut und ein Hochgefühl, das ihm bislang fremd gewesen war, stieg in ihm auf. Er sah wieder auf das Buch, und der Name, nach dem er so lange gesucht hatte, fiel ihm endlich ein. Die Buchstaben zitterten ein letztes Mal auf dem Papier, um anschließend ihren endgültigen Platz einzunehmen.

Der Sultan fragte ihn etwas, doch Anûr hörte die Stimmen um sich herum nur gedämpft.

Der Name hüpfte ihm wie von selbst auf die Zunge, und es schien fast, dass ein anderer ihn für Anûr aussprach. Ein Flüstern kam über seine Lippen, als wollte der Name nicht gehört werden. Flüchtig wie ein Windhauch. Er war so schnell wieder fort, dass sich Anûr nicht daran erinnern konnte, wie er lautete. Das Kästchen aber sprang auf, und der Name, der für den Bruchteil eines Lidschlags auf der Seite gestanden hatte, verschwand.

Anûr hörte Buck und den Herrscher von Nabija erstaunt aufkeuchen. Er sah zu ihnen hinüber und erkannte in ihren Augen dieselbe Überraschung, die er spürte. Trotz allem hatte er nicht damit gerechnet, dass wirklich etwas passierte. Anûr zwang seinen Blick wieder auf das Kästchen. Vorsichtig, als könne etwas Lebendiges, Gefährliches daraus hervorspringen, das tausend Jahre auf seine Befreiung gewartet hatte, sah er hinein. Im Licht der Sonne, das durch das Ambus-Dach fiel, glitzerte ein dünner, perlmuttfarbener Stachel. Er lag auf einem bronzefarbenen Tuch, das hier und da seltsam leuchtete.

Er legte das Buch ab, hob den seltsamen Gegenstand heraus und betrachtete ihn. Der Stachel war ganz glatt. Nur an den Seiten wies er einige kleine Kerben auf. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und nun lag die Spitze matt und unscheinbar auf seiner ausgestreckten Hand. Sie war unheimlich leicht. Hätte er nicht gesehen, dass sie auf seiner Handfläche lag, er hätte kaum gespürt, dass sie da war.

»Unglaublich«, sagte der Sultan. »So lange Zeit hat dieses Kästchen sein Geheimnis gehütet. Und nun liegt es vor uns.«

Anûr nahm das Kästchen und ging die Treppe hinab, um es zusammen mit dem Stachel dem Sultan zu reichen. Noch immer konnte Anûr nicht glauben, dass er das Rätsel gelöst hatte.

Es war deine Geschichte, sagte er sich. Begreif es ruhig.

Er war noch immer so in Gedanken, dass er nicht darauf achtete, wohin er seine Füße setze. Ein etwas zu langer Schritt ließ ihn beinahe von einer Stufe abrutschen. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten.

Doch das Kästchen glitt aus seinen Händen, schlug mit einem lauten Knall auf dem Marmorboden auf und sprang auseinander.

Keiner der Anwesenden nahm Notiz davon, dass das Kästchen zerstört war. Alle starrten staunend auf das bronzefarbene Tuch. Es hatte sich beim Fall gelöst, doch statt ebenfalls zu Boden zu gleiten, schwebte es vor ihren Augen in der Luft, als ob es sich weigern wollte, hinabzufallen. Fast wie eine Feder, die von einem feinen Lufthauch an der Stelle gehalten wurde.

Anûr sah zu Buck und dem Sultan. Der Großwesir, der die ganze Zeit über neben dem Thron gestanden hatte, war vorgetreten. Doch keiner machte Anstalten näher zu kommen. Das Tuch schwebte direkt vor Anûr in der Luft. Er streckte vorsichtig die Hand aus und fuhr mit den Fingern über den feinen, warmen Stoff, der unter seiner Berührung erzitterte. Ein feines Netz aus dünnen Linien zog sich darüber. Ohne nachzudenken, griff Anûr zu.

»Sei vorsichtig!«, rief der Sultan.

Anûrs Finger schlossen sich um das Tuch. In diesem Moment erschlaffte es. Ruhig hing es von seiner ausgestreckten Hand herab.

»Was glaubst du, Buck? Was ist das?«, flüsterte der Sultan.

Der Gelehrte ging zu Anûr und warf einen prüfenden Blick auf das Gewebe. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

In diesem Moment zog die Wolke am Himmel weiter und gab die Sonne wieder frei. Ein heller Lichtstrahl fiel durch die Decke auf das Tuch. Silberne Zeichen leuchteten auf, so hell, als würden sie brennen.

»Was ist das?«, keuchte Anûr und ließ unwillkürlich das Tuch los. Augenblicklich schwebte es wieder in der Luft.

Buck wiegte nachdenklich den Kopf. Der Sultan trat näher und beugte sich über das Stück Stoff. »Es sind Buchstaben«, flüsterte er.