Buchcover

Boris Meyn

Der Kuss

Roman

Saga

Ich hatte mir vorgestellt, die Reise als langsame Annäherung zu verstehen. Sie sollte mir Zeit für eine Rückbesinnung auf all das bieten, was mir das Leben an diesem Ort einst bedeutet hatte. Ahnungslos, wie ich war, hatte ich mich für die Anreise mit dem Zug entschieden, in der Hoffnung, gemächlich von Stadt zu Stadt getragen zu werden, entlang an Wiesen und Flüssen, unterbrochen durch die dörflichen Flecken, deren Gestalt sich in kleinen Schritten veränderte, je weiter man nach Norden vordrang. Vom Feldstein zum Fachwerk, dann zum Sandstein und schließlich zum Ziegel.

Was ich hingegen zu sehen bekam, ertrank im Rausch der Geschwindigkeit, dem Tempo, mit dem sich der Zug auf bereinigter Trasse seinen Weg durchs Land bahnte, unterbrochen von Metropolbahnhöfen und endlos gleichgesichtigen Handelszonen mit ihren Verwaltungsbauten und Logistikzentren, die sich zwischen den Städten fast nahtlos die Hand gaben. Ich war das Reisen in Großraumzügen nicht gewohnt, hatte ein abgeschiedenes Abteil vor Augen gehabt und war nun umgeben von permanentem Tumult, der Hektik des Ein- und Aussteigens, dem Verstauen von Gepäckstücken und sich stetig durch die Sitzreihen drängelnden Reisenden.

Nach kurzer Zeit hatte sich mein Wahrnehmungszyklus der rasanten Umgebung angepasst und die Beobachtung kontinuierlicher Abläufe war der Betrachtung sinnloser Bewegungsfragmente gewichen. Glaubte man der Mehrzahl der Mitreisenden, dann waren über Kopfhörer verabreichte Dosen intimer Klangkataloge und geschlossene Augen ein probates Mittel, der Kakophonie des Tumults zu entkommen, aber da ich mich nie daran hatte gewöhnen können, in der Öffentlichkeit Kopfhörer zu tragen, musste ich die Geräuschkulisse meiner Umgebung ertragen.

Die Dunkelheit des Augenblicks gewährte meinen Gedanken dennoch einen diffusen Blick zurück ins Damals, zu den Menschen und Dingen, die mir etwas bedeutet hatten, zu der Stadt Hamburg, die wir aufgrund ihrer Lage und Einzigartigkeit Nurstadt getauft hatten und in die ich eigentlich nie wieder hatte zurückkehren wollen, gerade weil man die Zeit nicht anhalten kann und weil sich bestimmte Dinge besser verdrängen lassen, wenn man ihnen endgültig den Rücken kehrt.

Das Lebensviertel, das ich in Hamburg verbracht hatte, war längst vergangen. Genau betrachtet, war es weit weniger als ein Viertel meines Lebens gewesen, aber aus der Perspektive von über zwanzig Jahren Abwesenheit gesehen, musste der Anteil ungefähr diesem Wert entsprechen. Zu keiner anderen Zeit war mein Leben so verdichtet gewesen, hatten so viele Dinge und Geschehnisse in so kurzen Abständen auf mich eingewirkt, dass es mir nun fast unmöglich erschien, nicht einmal ein Jahrzehnt dort verbracht zu haben. Vielleicht war es also nur die Geschwindigkeit, mit der das Leben durch eine Großstadt getragen wurde, die ich nicht mehr gewohnt war.

Mit der Flucht aus Hamburg, die damals vielleicht auch der Furcht geschuldet war, die Intensität des dortigen Lebens nicht länger aushalten zu können, die rasche Folge von Enttäuschungen gleichermaßen wie die Glücksmomente, die Liebe wie auch die Trauer, ging der Entschluss einher, mein Leben in entschleunigter Abgeschiedenheit fortzusetzen. Dem war ich bis heute treu geblieben. Nicht mehr so isoliert wie in den ersten Jahren, als ich mich selbst der Anschaffung eines Telefons verweigert hatte, wodurch sich die Anzahl der Freunde binnen kurzer Zeit auf ein überschaubares Maß reduziert hatte, aber ich schrieb meine Briefe nach wie vor mit der Hand und bewegte mich kaum abseits der täglichen Pfade zwischen dem alten Haus, aus dessen Schlafzimmer ich bisweilen dem Tosen der bretonischen Küste lauschen konnte, und den überschaubaren Verpflichtungen, die der Betrieb unseres kleinen Restaurants im Nachbarort mit sich brachte.

Nach wenigen Jahren waren auch die Briefe der Ehemaligen weniger geworden, nur Anelis hatte hartnäckig an ihren jährlichen Zeilen zur Lage der Nation aus Hamburg festgehalten. So war ich ungefähr darüber im Bilde, wer von der alten Clique noch an diesem Ort lebte und hatte eine vage Vorstellung davon, wie sehr sich die Stadt seit meinem Fortgang verändert haben musste. Ohne den ominösen Scheck, der ihrem letzten Brief beigefügt war, wäre mein Entschluss, nie mehr an diesen Ort zurückzukehren, allerdings nie ins Wanken geraten. Aber allein die Höhe der ausgestellten Summe bedurfte einer Klärung, und da ich in etwa ahnte, was geschehen sein musste, hatte ich mich auf den Weg zurück in die Vergangenheit gemacht.

Seit wir das Ruhrgebiet mit seinen unzähligen Bahnhöfen passiert hatten, war die vormalige Ordnung im Zug unter der Last der Reisenden zusammengebrochen. Ich hatte zwar meinen reservierten Sitzplatz, aber an ein Verlassen der umlagerten Bestuhlung war nicht mehr zu denken, nachdem selbst die Stehplätze im Waggon zur Mangelware geworden waren. Als der nächste Halt über Lautsprecher angekündigt wurde, schnappte ich mir meine Tasche aus dem Gepäcknetz, kämpfte mich rechtzeitig bis zum Ausgang vor und verließ die überbordende Peristaltik des Lindwurms, um meine Reise mit dem nächstbesten Regionalzug fortzusetzen. Wie ich gehofft hatte, gab es außer mir nur eine Handvoll Mitreisender, und so nahm ich den kleinen Schlenker in meiner Reiseroute dankend in Kauf. Es gab zwar immer noch keine gemütlichen Abteile, aber dafür konnte ich ab sofort den Komfort der Langsamkeit genießen.

Mir schräg gegenüber saß eine junge Frau, die in ein Buch vertieft war. Im Spiegelbild im Fenster versuchte ich den Titel auf dem Einband zu entziffern, wobei mir plötzlich bewusst wurde, dass meine Gedanken in meine Muttersprache zurückgefunden hatten. Im Unterschied zur gesprochenen Sprache war es mir nie möglich gewesen, die Sprache meiner Gedanken gezielt zu steuern. Anfangs hatte ich nach einem Ausweg gesucht, einem Schalter, mit dem sich dieser Umstand beeinflussen ließ, aber mit der Zeit hatte ich lernen müssen, dass selbst wenn ich deutsch sprach, meine Gedanken ein sprachliches Eigenleben führten. Auch konnte ich den Moment nie bestimmen, in dem sich der Wechsel vollzog. Erst im Nachhinein fiel es mir irgendwann auf.

Nun waren also auch meine Gedanken zurückgekehrt. Hinter dem Gesicht der Frau, die mich ohne den Kopf zu heben über den Rand des Buches musterte, tauchten die ersten Rapsfelder auf, die noch nicht in voller Blüte standen. Das aufdringlich leuchtende Gelb, das mich bislang die Fahrt über begleitet hatte, bildete hier erst einen schwachen Kontrast zu den dunklen Schauerwolken am Horizont. Ein zartes Licht, das davon kündete, dass die Zeit hier nicht so schnell voranschritt, dass alles etwas länger brauchte, um dann umso intensiver zu wirken.

Wir rollten vorbei an der bäuerlichen Unordnung scheinbar verlassener Höfe und verwilderter Scheunen, unterbrochen von den dunklen Schützengräben der hiesigen Spargelwirtschaft, die teils mit weißen Planen abgedeckt waren, um den regionalen Wettbewerbsnachteil zu mildern. Friedlich grasende Schwarzbunte tauchten auf, im Schatten der Windrotoren wie Spielzeugtiere wirkend, nicht so martialisch vor Kraft strotzend wie die neuerdings wieder häufiger auf den heimischen Weiden anzutreffenden Pie Noir, aber allemal abwechslungsreicher als die einfarbigen Herden der Charolais oder Limousins, denen man in der Bretagne vorrangig begegnete.

Als ich den Namen des nächsten Bahnhofs las, der in großen Lettern unter der Traufe eines sonst schmucklosen Gemäuers aus rotem Backstein hing, war ich mir nicht mehr sicher, ob dieser kleine Schlenker wirklich aus der Not eines überfüllten Zuges geboren worden war oder ob nicht vielmehr ein stiller Ast meines Unterbewusstseins längst die Regie übernommen hatte. Nicht weit von diesem Ort war ich damals aufgebrochen, hatte mein Elternhaus verlassen und meinem Vater den Rücken gekehrt. Mit vierzig Mark in der Tasche und einem Seesack mit dem Nötigsten unter dem Arm.

Es war mir nie ein Bedürfnis gewesen, hierher zurückzukehren, und auch heute verspürte ich kein Verlangen danach, auszusteigen und dem Friedhof im Nachbarort einen Besuch abzustatten, das Grab meiner Eltern zu besuchen mit dem monumentalen Obelisken, einst geschaffen von der Hand meines Vaters, um neben meiner Mutter einen Platz der Ruhe zu finden, wo er ihn zu Lebzeiten ausgeschlagen hatte. Er hatte keine Kosten gescheut, nicht an Material gespart, um für die Nachwelt das zum Ausdruck zu bringen, was seinem Stand an diesem Ort ebenbürtig erschien.

Dennoch hatte er nach dem Tod meiner Mutter so weitergelebt, als sei nichts geschehen. Wie oft war ich als junger Mann an diesem Ungetüm vorbeigeschlichen und hatte auf den freien Platz gestarrt, auf dem irgendwann auch sein Name stehen würde. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich mir den Zeitpunkt still und heimlich herbeigesehnt hatte.

Und nun, obwohl es längst geschehen war, musste ich mir eingestehen, dass ich mit diesem Kapitel immer noch nicht abgeschlossen hatte. Ein Unverbesserlicher, ja Unbelehrbarer war er gewesen. Patriarch preußischer Ordnung, wenn es denn eine gegeben hätte in seinem Leben. Wirkliche Disziplin hatte er nur bei der Arbeit und an seinen Werkstücken gekannt. Das eigene Leben hingegen war durchzogen von einer Linie konsequenter Selbstverlogenheit. Meine Abkehr von diesem Ort war die Flucht vor ihm, die Angst davor, so zu werden wie er, sich ausschließlich mit dem Vorher und dem Nachher zu beschäftigen, darauf hinzuleben, ohne dem Leben selbst Freundlichkeiten abgewinnen zu können.

Sein Leben war auf das Denkmal reduziert gewesen, das nach dem Tod an das erinnern sollte, was vielleicht nie gewesen war. Es war für ihn mit der unantastbaren Gewissheit einhergegangen, dass es nicht Erinnerungen waren, die an Verstorbene erinnerten, sondern die Monumente des Grabes an sich, die, ob es nun einfache Steine und Platten, Figuren, Stelen, ein Obelisk oder gar eine Gruft waren, für die Ewigkeit geschaffen blieben. Ein Trugschluss, dem er schon in dritter Generation aufgesessen war. Mein Entschluss war es gewesen, der dieser Familientradition morbider Steinsetzer ein Ende bereitet hatte. Ich verspürte keinen Wunsch, mir im Schatten dieses Monuments die Genugtuung darüber zu verschaffen, dass meine Entscheidung richtig gewesen war. Dafür waren die eingebrannten Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendjahre noch allzu gegenwärtig.

Ich sah sie immer noch vor mir, die unheimlichen Gestalten, die er von seinen Treffen der Schlesier zum Entsetzen meiner Mutter mit nach Hause brachte. Männer mit kantigen Gesichtern und Schnurrbärten von verräterischer Exaktheit, einheitlich in Schwarz oder Braun gekleidet, Anstecknadeln mit geheimnisvollen Zeichen und Runen ans Revers geheftet. Sehr wahrscheinlich ebenfalls mit brandnarbigen Armbeugen, so wie mein Vater, weil er im Osten für Ordnung gesorgt hatte. Wortkarg waren sie gewesen, aber ihre Blicke dafür Warnung genug, wahrscheinlich in der Gewissheit eines weit verzweigten Netzwerkes, das überlebt hatte. Unverbesserliche Veteranen eines tausendjährigen Todesreichs, dem mein Vater nicht nur beruflich als Steinmetz tagtäglich seine Aufwartung machte.

Von seinem Tod erfuhr ich durch eine notarielle Depesche, die mich mit knappen Worten darüber in Kenntnis setzte, dass ich von meinem Vater enterbt worden war. Er hatte das Testament noch in der gleichen Woche geschrieben, als er erfahren hatte, dass ich zum Erbfeind übergelaufen war und mich in der Bretagne niedergelassen hatte. Eine Anfechtung hatte ich nie in Erwägung gezogen.

Irgendwo hinter dem deutschen Eichenwald, an dem der Zug gerade vorbei rollte, musste sie liegen, diese gestrige Heimat, der Ursprung meines Lebens. Ein Streifen der Vergangenheit, mit den gleichen Gedanken behaftet, die mich damals begleitet hatten, als ich den Ort verlassen und meine Kindheit hinter mir geglaubt hatte.

Das Lächeln der jungen Frau, das sich in der Fensterscheibe spiegelte und den knorrigen Eichen etwas Freundliches gab, beantwortete ich, noch bevor ich mich ihr zuwandte. Ich merkte, wie sich meine Gesichtszüge entspannten, spürte gleichsam ihre Verlegenheit. Sie fühlte sich ertappt, rang mit sich, ob und wie sie eine Konversation beginnen sollte. Das alte, sich immer wiederholende Spiel. Ich kannte es nicht anders. Allein aus Freundlichkeit simulierte ich Überraschung und bekundete mit einem begleitenden Augenaufschlag, dass ich ihr wie auch immer geartetes Interesse an mir bemerkt hatte. Aber trotz dieses stillen Zeichens, das Bereitschaft signalisierte, als gelte es, dem heimlichen Wunsch einer Aufforderung Mut zuzusprechen, konnte sie sich nicht überwinden. Verlegen senkte sie den Kopf und ihre Augen folgten den Zeilen des Buches. Länger, als man zum Lesen einer Seite benötigte.

Sie besaß die unscheinbare Eleganz, die zwischen nordischer Schönheit und spröder Altbackenheit angesiedelt war, zumal in einem Alter, in dem man sich mit seiner Erscheinung noch nicht arrangiert hat. Dabei hatte sie ausgesprochen schöne Augenbrauen, deren Symmetrie durch ihre schmale Nasenwurzel empörend harmonisch zur Geltung kam. Ihre Lippen zuckten amüsiert, als hätte sie eine Humoreske zwischen den Zeilen gefunden, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie am Rande ihres Blickwinkels mein Studium ihrer Gegenwart registrierte.

In der Tat wagte sie es nun, ihren Blick kurz über den Rand des schützendes Buches emporzuheben. Der Moment reichte aus, dem Zusammentreffen der Blicke das kurze Knistern eines entzündeten Feuersteins zu verleihen. Es war kein auf den ersten Blick zwischen zwei Menschen, bei denen die Chemie stimmte, kein hormonelles Feuerwerk gegenseitiger Absichten, füreinander gehegter Begierden. Nein, was sich entzündete, beruhte auf Einseitigkeit. Es war die Freude meines Gegenübers, etwas entdeckt zu haben, wobei es mir nach wie vor schwerfiel, dem Wissen darüber entsprechenden Ausdruck zu verleihen, weil ich nicht entdeckt werden wollte und doch wusste, dass ich immer entdeckt werden würde.

Für mich war es der magische Moment der Wiederholung, auch wenn ich nicht aufhören konnte, darauf zu hoffen, dass es irgendwann ein Ende finden würde. Ich empfand längst keine Genugtuung mehr darüber, dass allein meine Anwesenheit ein Lächeln auf die Gesichter meiner Mitmenschen übertrug, wobei die Spanne vom reinen Ausdruck der Freude über Faszination bis hin zur Phantasie vulgärer Begehrlichkeiten reichte.

Bereits als Kind muss ich diese unerklärliche Ausstrahlung besessen haben, was dazu geführt hatte, dass mir niemand etwas ausschlagen konnte. Die Tanten und Onkel hatten mich stets aufgefordert, zu ihnen auf den Schoß zu krabbeln, hatten mich betätschelt und mit kleinen Aufmerksamkeiten überschüttet. Nach kurzer Zeit hatte ich begonnen, mich von dieser unschuldigen Nähe und Zuneigung bedrängt zu fühlen. Blicke, die Anträge waren, Freundschaftsgesuche, wie sich meine Mitschüler darum rissen, neben mir zu sitzen, obwohl sie mich noch gar nicht kannten, in meiner Riege zu sein, obwohl ich keine Sportskanone war. Ich fühlte mich erdrückt von den Bekundungen und Einladungen, mit denen ich überhäuft wurde, und es ließ schnell Neid und Missgunst bei denen entstehen, die ich vielleicht gerne als Freunde gehabt hätte. So wurde ich zum Gefangenen meiner Beliebtheit, ohne je etwas dafür getan zu haben.

Natürlich gereichte mir dieser Umstand zum Vorteil, was mir anfänglich erst im Nachhinein bewusst wurde, wenn ich mit etwas nicht gerechnet hatte oder wenn sich bei einer Sache überraschend Erfolg einstellte, der für mich nicht im Entferntesten zu erwarten gewesen war. Mit der Zeit aber musste ich lernen, dass sich dieser Erfolg nicht wirklich automatisch einstellte, sondern nur dann eintrat, wenn das Urteil darüber von Menschen kam, die mir wohlgesinnt waren, weil sie mich persönlich kannten. Erfolge, die sich aus der Anonymität des Unbekannten einstellten, wurden für mich umso mehr zur Herausforderung, zum Maß der Dinge.

Ich hatte die alten Fotoalben durchforstet, die darin enthaltenen Porträts von mir gesichtet, systematisch nach irgendetwas Verräterischem gesucht, aber keine Auffälligkeiten gefunden. Weder war ich besonders blond, noch hatte ich leuchtend blaue Augen, war also nicht mit Attributen ausgestattet, die man gemeinhin als Schönheitsideal ansah. Größe, Gewicht, Haare und Hautfarbe – nach meinem Empfinden alles Mittelmaß, nicht über dem Durchschnitt. Auch gebärdete ich mich nicht ausdrucksstark, nahm keine besondere Haltung oder Posen ein und kleidete mich ohne jegliche Extravaganz. Es war auch nicht so, dass man mich angaffte, wenn ich einen Raum betrat, oder in ehrfurchtsvolles Schweigen verfiel.

Aber diejenigen, mit denen ich später ins Gespräch kam, teilten mir übereinstimmend mit, dass ich ihnen sofort aufgefallen sei. Es klang für mich wie eine Beichte, zumal es nur in intimer Zweisamkeit unter vier Augen ausgesprochen wurde. Aber was es war, woran es lag, das vermochte keiner in Worte zu fassen. Irgendeine zufällige Komposition von Ausgeglichenheit war es, welche die Natur in der Anordnung meiner Gesichtszüge hinterlassen hatte. Nichts, was sich konkret in Maß und Form der Nase oder Ohren, im Abstand der Augen zueinander oder der Farbe meiner Iris ausdrücken ließ. Es war ein zufälliges Miteinander, das mich mein ganzes Leben über begleitet hatte, unabhängig vom Wuchs und der langsam verblassenden Farbe meiner Haare, von den Falten um Augen und Mund, die ich inzwischen bekommen hatte.

Wenn ich unentdeckt bleiben wollte, blieb mir nur die Möglichkeit, einen Teil meines Gesichts zu verdecken, beispielsweise eine dunkle Sonnenbrille aufzusetzen. Auch wenn ich mir einen Vollbart wachsen ließ, hatte ich meine Ruhe vor fremden Blicken. Aber vom Tragen eines Bartes hatte ich Abstand genommen, weil es mir unangenehm war, und die Sonnenbrille war mir insofern unheimlich, weil ich mir wie ein Voyeur vorkam, der eine Tarnkappe trug. Wenn man sein Leben lang Aufmerksamkeit gewohnt war, dann glich der Verlust derselben fast einer existenziellen Bedrohung.

So hatte ich mir angewöhnt, damit umzugehen, als sei es nichts Besonderes, ständig die Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der sich andere vergeblich sehnten, denn ich hatte die Magie des Augenblicks längst als mein Schicksal begriffen, weil ich mich von dem Geschenk, das mir in die Wiege gelegt worden war, beizeiten überfordert fühlte. Über die Jahre war ich den Menschen gegenüber vorsichtig geworden, hatte Skepsis und Wachsamkeit hervorgebracht, mit denen ich, hochsensiblen Antennen gleich, Absichten und Begehrlichkeiten auslotete.

Ihre Augenbrauen mussten gezupft sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie seitlich so über die Augen bis zu den Schläfen hin reichten, gleichfalls war die Nasenwurzel in ganzer Breite unbehaart. Den üppigen Haarwuchs ließ auch ihr kräftiges Haupthaar vermuten, das sie zwar streng nach hinten gekämmt und kurz zusammengebunden trug, das aber so unbändig schien, dass es nicht glatt am Kopf anlag, sondern von Spuren fahriger Wirbel durchzogen war. Ihr Haaransatz war unregelmäßig, und dort, wo die hellen Härchen auf ihrer Stirn in gezackter Linie ins Haupthaar mündeten, hatten sich kurze Locken dem gedachten Ordnungsschema entwunden und bildeten im Schlaglicht der Sonnenstrahlen einen diffusen Flaum, der wie ein Kranz um ihren Kopf lag und ihr fast etwas Elfenhaftes gab. Ihr Profil konnte ich nur erahnen, da sie den Kopf zwar ab und an hob, aber nicht zur Seite schaute. Auch Form und Größe ihrer Ohren blieben mir verborgen, dafür bot sich mir ihr Mund an, der im Verhältnis zum kräftigen Kinn nicht sehr breit war, was ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz verlieh. Die Mundwinkel endeten zwar auf Höhe der Iris, aber ihre Augen standen trotz ihrer langen und schmalen Nase mehr als eine Augenbreite auseinander. So konnten die mir verborgenen Ohren auch niemals dem Abstand von Mundwinkel zu Augenwinkel entsprechen, wie es idealerweise hätte sein müssen. So zumindest war es mir einst beigebracht worden, dort, wo uns dieser Zug hinbringen sollte.

Ich spürte, wie mir das Gesicht gegenüber zur Büste geriet, und ich war kurz davor, die Proportionen der unbekannten Frau in eine dreidimensionale Skizze zu verwandeln. Nur aufgrund ihrer hohen Stirn lag die Achse ihrer Augen auf halber Höhe des Kopfes, was allein deswegen merkwürdig anmutete, weil ihr Gesichtsfeld nicht nach unten versetzt war. Alles schien am rechten Platz, auch der Abstand von Nasenspitze zu Oberlippe war nicht verkürzt. Ganz im Gegenteil leitete ein wohlproportioniertes Grübchen, so wurde es im Kontrast des seitlich einfallenden Lichts beschattet, zu ihren Lippen über, die sie im unregelmäßigen Rhythmus mit ihrer Zungenspitze befeuchtete, eine trotzig spöttische Oberlippe, die auf einer vollen und sinnlichen Unterlippe ruhte. Mein besonderes Augenmerk schenkte ich der winzigen, unscheinbaren Narbe am Rand ihrer linken Braue, die noch aus Kindszeiten stammen musste.

»Die Folge einer kindlichen Unachtsamkeit, die von der Lenkerstange meines Fahrrades herrührt.« Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Rand strich sie langsam über ihre Braue, als könne sie die zierliche Narbe ertasten. So genau also war sie meinem Blick über den Rand des Buches gefolgt. Nein, sie kannte ihre Makel nur allzu gut. Makel, die keine waren. Weder die klitzekleine Narbe, noch ihre etwas unreine und grobporige Haut, die sie überflüssigerweise mit Make-up zu kaschieren versucht hatte.

Das spitzbübische Lächeln wiederholte sich, auch wenn ihr die Röte der Überwindung dabei ins Gesicht schoss. Ihre Stimme war leise und freundlich. Sie klappte das Buch auf ihrem Schoß zu, dessen Cover mit Steg und Bootshaus an einem See oder Fjord den skandinavischen Krimi verriet, auch ohne dass ich Titel oder Namen des Autors entziffern konnte, und richtete sich soweit im Sitzen auf, dass der Kragen ihrer Bluse aufklappte und den Blick auf eine Kette mit goldenem Kruzifix freigab. Sie hatte die kräftig gezeichneten Schlüsselbeine und auffällig breiten Schultern einer Sportlerin.

Ich hätte die sich anbahnende Konversation mit nur einem einzigen französischen Satz unterbinden können, der mich als Ausländer ausgewiesen hätte. Aber schließlich hatte ich ihr Gesicht studiert, wie ein Künstler sich seinem Modell annähert, hatte ihren Kopf und nun auch ihren Oberkörper in ein metrisches Raster gezwängt, das mir Aufschluss über Proportionen und Maße gab, meine Gedanken hatten heimlich nach Rückschlüssen auf ein Wesen gesucht, dem ich mit meinen Blicken zu Leibe gerückt war. Das alleine hätte nach einer Entschuldigung gerufen, die mir nicht in den Sinn kam. Insofern verwarf ich die Idee und ergab mich dem Schicksal einer harmlosen Plauderei.

»Sie haben angefangen.« Ich erschrak, als ich mich in meiner Muttersprache reden hörte, so anders klang meine Stimme, und ich versuchte mich im selben Augenblick zu erinnern, wann ich das letzte Mal deutsch gesprochen hatte.

»Womit?«

»Mich zu beobachten, meine Gesichtszüge zu studieren.«

»Sie erschienen mir allemal interessanter als mein Buch.« Das war gewagt.

»Das Schicksal miteinander Reisender. Zumindest, wenn man sich gegenübersitzt.« So formulierte ich es, obwohl ich es besser wusste. Hätte ich geantwortet, dass das Buch demnach sehr langweilig oder schlecht sein müsse, wäre der weitere Verlauf unserer Unterhaltung besiegelt gewesen. »Es tut mir leid (was es nicht tat), falls Sie sich durch meine Blicke belästigt gefühlt haben. Ich war in Gedanken. Mein Berufbringt es mit sich, dass ich Menschen sehr genau beobachte. Ich hatte keine unschicklichen Absichten.« Ich hatte sie auch jetzt noch immer nicht, selbst wenn ich mit der Vorstellung spielte, sie könne spontan ein selbstbewusstes Wie Schade als Antwort geben.

»Was machen Sie denn beruflich?« Sie war doch schon längst erweckt, die Neugierde.

»Ich bin Bildhauer.« Was gelogen, zumindest übertrieben war. Die letzte Büste, mehr ein Torso der Erinnerung, ein Fragment verblassender Liebe, hatte ich vor mehr als fünf Jahren geschaffen. Seither schob ich jede Idee, jedes Projekt mit beliebigen Ausreden vor mir her, konnte mich nicht überwinden, den seltsamen Gedanken, die zwischen Sehnsucht nach Einsamkeit und dem Bedürfnis nach Liebe angesiedelt waren, bildlich Ausdruck zu verleihen. Und mehr beschäftigte mich nicht. Es war die Angst vor einer Bindung, das wusste ich nur zu genau, denn jede Bindung fraß mich auf, beraubte mich meiner Freiheiten.

Stets aufs Neue hatte ich den Versprechen Glauben geschenkt, dass man mir mein ewiges Bedürfnis danach, die Anarchie des Liebens auszuleben, niemals beschneiden wolle, und jedes Mal hatte sich dieser Vorsatz nach kurzer Zeit ins Gegenteil gekehrt, gewachsen aus Unverständnis, Eifersucht und unbegründeten Verlustängsten. Der Wunsch danach, mich für sich alleine zu haben, mich zu besitzen, legte mir spätestens dann Fesseln an, wenn die Faszination sinnlicher Körperlichkeit ins Spiel kam, und da ich keinen Torso, keine figürliche Skulptur ohne diese lüsterne Begierde formen konnte, war der Schaffensprozess für mich gleichsam zum dauernden Leidensweg geworden.

»Wie seltsam. Ich hätte Sie für einen Journalisten gehalten.« Sie deutete auf die Magazine neben mir, die ich seit dem Zwischenstopp in Paris mit mir herumschleppte und in die ich noch keinen Blick geworfen hatte. »Jemand, der sich mit Weinen und so beschäftigt ... ein Restaurantkritiker.«

Ich tat überrascht. Sie konnte nicht ahnen, wie nah sie sich an der Realität bewegte. Natürlich verriet einen das, womit man sich umgab, aber ich hätte sie nicht für eine so gute Beobachterin gehalten. Auch wenn nicht ich es war, der schrieb, sondern über mich geschrieben worden war.

Das Restaurant, das ich seit nunmehr vier Jahren gemeinsam mit Jacques betrieb, hatte es angeblich zu einer Randnotiz im Gourmetjournalismus geschafft, was ich mit dem Kauf von a la Carte, La Cuisine und dem deutschen Feinschmecker hatte überprüfen wollen. Für einen Eintrag in den Guide Michelin hatte es aufgrund unserer mangelnden Lobby-Ressourcen natürlich auch im vierten Jahr nicht gereicht, was jedoch deshalb zu verschmerzen war, weil eine solche Empfehlung unser Konzept allein aufgrund der verfügbaren Kapazitäten auf eine harte Probe gestellt hätte. Dem zu erwartenden Ansturm des Restauranttourismus hätten wir nichts entgegenzusetzen gehabt. Bislang hatten wir als regionaler Geheimtipp gegolten, weil die ursprüngliche Idee über die Jahre beibehalten worden war, ohne sich zu vergrößern.

Inzwischen mussten wir mehr als die Hälfte der Reservierungsanfragen absagen, dabei hätten wir ohne Weiteres noch eine Auberge mit Gästezimmern anmieten können. Das Konzept hieß: Minimalismus. Ich hatte die Idee von den sozialen Tafeln der Armenspeisung mit dem kleinen Unterschied abgeleitet, die Qualität des angebotenen Gerichts bis zum Maximum auszureizen. So gab es nach wie vor nur das eine Tagesgericht, einen nur dem Namen nach an das klassische Ratatouille erinnernden Eintopf, für den die Gäste inklusive eines Glases anständigen Rotweins nicht mehr als fünf Euro zu zahlen hatten. Wer mehr bezahlen wollte, dem war es natürlich freigestellt.

Die Rechnung war aufgegangen, auch wenn mir Jacques anfangs einen Vogel gezeigt hatte. Wir bezogen das Gemüse, die Zucchinis, Auberginen, Paprika und Zwiebeln mehr oder weniger umsonst von den Überbleibseln eines Großmarktes, sodass bis auf Gewürze und Creme fraiche fast nur das Lammfleisch, der Wein und die Betriebskosten einen wirklichen Kostenfaktor darstellten. Die Karaffe Wasser auf dem Tisch gab es gratis, und selbst das Wagnis, dass wir seit einem Jahr alternativ einen hervorragenden Medoc zum Aufpreis von fünfzig Euro die Flasche anboten, hatte unserem Erfolg keinen Abbruch beschert. Ganz im Gegenteil hatten wir eine weitere Klientel als Gäste hinzugewonnen.

Ich spielte mit dem Gedanken, sie danach zu fragen, ob es denn hier in der Region erwähnenswerte Lokalitäten gäbe, deren Besuch sich gegebenenfalls lohnen würde, verwarf die Idee aber sofort, da sie der versteckten Einladung gleichkam, die aus einer harmlosen Plauderei in die tastende Zone gegenseitiger Bereitschaften geführt hätte. Genauso gut hätte ich sie gleich fragen können, wohin sie fuhr, und ihre etwaige Empfehlung eines Restaurants hätte ich mit der Offerte eines gemeinsamen Dinners beantwortet, der ich noch den Wunsch nach einem besonderen Wein nachgereicht hätte, gefolgt von meiner beiläufig zu erwähnenden Schwäche für süße Nachspeisen, und sehr wahrscheinlich – ich hatte längst festgestellt, dass sie keinen Ehering trug – wäre der Weg besiegelt gewesen, der in den nächsten Tag geführt hätte. Ohne Aufforderung, ohne die Plattitüden schmeichlerischer Komplimente, vielleicht sogar ohne den Namen des anderen zu erfahren, nur in der sicheren Erwartung auf die Frage danach, wie es nun weitergehen werde. Genau dieser Moment war es, der mich Abstand nehmen ließ trotz aller Verlockungen des ewigen Experiments und der Frage danach, ob und inwieweit der Ausgang immer gleich blieb.

Ich war nicht als Abenteurer gekommen, nicht so, wie damals vor dreißig Jahren, als ich den Weg das erste Mal auf mich genommen hatte, in der neugierigen Erwartung eines jungen Mannes, der für alles offen gewesen war, was ihm das Leben anbot.

Nur mit dem nötigsten Gepäck war ich aufgebrochen, die vage Hoffnung vor Augen, an der Kunsthochschule aufgenommen zu werden, eine Mappe mit Skizzen und Zeichnungen unter dem Arm, einen Seesack mit Kleidung, Werkzeug und drei Plastiken und Skulpturen, dilettantische Kopien klassischer Vorlagen, mit denen ich die Aufnahmekommission der Hochschule zu beeindrucken geplant hatte, zumindest was die handwerkliche Umsetzung betraf, denn Proportionen und Körperlichkeit wichen doch deutlich von den antiken Originalen ab. Was kein Wunder war, kannte ich doch nur die Fotografien im Kunstatlas der Schulbücherei, die mir als Vorlage gedient hatten. Aber zumindest waren es Arbeiten in einem recht kostbaren Material, weißem Marmor, in Wirklichkeit Bruchstücke und Reste aus der Werkstatt, mit denen mein Vater nichts mehr anfangen konnte. An der Oberflächenbehandlung war nichts auszusetzen gewesen, schließlich war ich durch die harte Schule eines Steinmetzes gegangen, und natürlich hatten mir alle Schleif- und Polierhilfen eines professionellen Betriebes bis zur Fertigstellung zur Verfügung gestanden.

Ich hatte nur wenig Geld zusammensparen können, etwa so viel, um die ersten drei Wochen zu überstehen, bis ich eine Arbeit gefunden hatte, die sich zeitlich mit dem geplanten Studium verbinden ließ. Aber zunächst galt es, eine preiswerte Bleibe zu finden, von der aus ich die Hochschule möglichst zu Fuß erreichen konnte, denn ein Fahrrad besaß ich nicht und für Bus- und Straßenbahntickets wollte ich mein mühsam Gespartes nicht ausgeben. Die Plätze im Studentenwohnheim waren längst belegt, die Jugendherberge lag am anderen Ende der Stadt.

Das waren die Dinge, die mir damals durch den Kopf gingen, als sich der Zug langsam der Stadt näherte, überfüllt mit Reisenden und Pendlern, trotz der stickigen Luft des Raucherwagens mit seinen nebligen Vorhängen, den noch widerspruchslos geduldeten Rauchschwaden, die unter dem Tonnengewölbe des Waggons bizarre Muster bildeten. Es war einer dieser silbrig glänzenden Eilzüge gewesen, die sich ihrem Ziel entgegen ihres Namens mit viel Muße näherten, die häufig unvermittelt anhielten und minutenlang auf freier Strecke ausharrten, bis die endlos langen Güterzüge oder auch die grün gestrichenen D-Züge vorbeigerauscht waren. Die Sitznischen mit ihren Polstern aus rotnoppigem Kunstleder waren zum Mittelgang hin offen, über ihnen trennte ein Geflecht aus messingfarben eloxierten Gepäckablagen die einzelnen Sitzgruppen, wobei große Kopfstützen am Ende der Bänke dafür sorgten, dass dösende oder schlaftrunkene Reisende sowie vom Feierabendbier angetüdelte Arbeiter, die aus den Industriestandorten der Randregionen zurück in die Stadt kamen, nicht von den Bänken rutschten. An den darüber angebrachten Garderobenhaken hatten die Jacken und Kopfbedeckungen der Reisenden das monoton schunkelnde Lied unebener Gleise getanzt.

Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Zug das erste Mal den Fluss überquert hatte, den es auf dem Weg zur Stadt von Süden kommend zweimal zu kreuzen galt, hatte ich die Frau bemerkt, die mir schräg gegenüber auf dem Fensterplatz saß und mich aufmerksam betrachtete. Meine Mappe hatte ich zuunterst im Gepäcknetz verstaut, aber sie ragte aufgrund ihrer Größe immer noch weit über den Rahmen hinaus, sodass ich von Zeit zu Zeit aufblickte, um zu kontrollieren, dass sie nicht verrutscht war. Den Seesack hielt ich zwischen den Beinen und begutachtete abwechselnd meine darin verborgenen griechischen Göttlichkeiten, die mir als Eintrittskarte zum studentischen Leben dienen sollten, einen Torso der Aphrodite, den Kopf des Poseidon als Teil eines Reliefs sowie eine kleine Büste, die ich nach dem Vorbild des Perikles angefertigt hatte.

Ihr Blick haftete an den Werkstücken und an meinen Händen, wobei ihr Gesichtsausdruck lebhaft zwischen Erstaunen und Begeisterung wechselte, bis sie sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, weil ich unvermittelt lachen musste und sie hinter gespielt schüchterner Maske Stellung bezog, um sofort wieder ein keckes, verschmitztes Grinsen anklingen zu lassen, das einer spielerischen Einlage, einer komödiantischen Grimasse

»Sind sie so schlecht?«, hatte ich mit Blick auf die kleine Büste in meinen Händen gefragt. Sie hatte ein schmales, an den Wangen eingefallenes, fast knochiges Gesicht mit einer noch schmaleren Nase und einem umso größer wirkenden Mund mit vollen Lippen, die, einem anhaltenden Erstaunen gleich, stets geöffnet waren. Unter den kastanienbraunen Haaren, die sie fahrig unter einer Baskenmütze verstaut hatte, zeichneten sich große, apart abstehende Ohren ab, aber im Zentrum meiner Aufmerksamkeit hatten ihre Augen gestanden. Sie waren mandelförmig wie die der Nofretete, mit schwarzem Kajalstift gerändert, und ihre Iris war von so dunkler Farbe, dass sich der Übergang zu den Pupillen nur erahnen ließ.

Mit einem herzhaften Lachen hatte sie ihre Zähne entblößt, die von makellosem Weiß waren, aber angesichts ihres schmalen Kiefers überaus groß wirkten. »Weil ich lachen musste? Nein, das Lachen galt Ihnen, weil Sie so verträumt waren, so entrückt wirkten ... Haben Sie die gemacht? Den ... Perikles?«

»Man erkennt also schon, was es darstellen soll?«, hatte ich spaßeshalber erwidert. Zumindest kannte sie sich mit antiker Kunst aus, was mich verblüfft hatte.

»Nun ja, Perikles erkennt man dank seines unverwechselbaren Helms ja immer«, hatte sie gesagt, und als sie an meinem Gesichtsausdruck ablas, dass ihre Worte nicht gerade als Kompliment aufzufassen waren, hatte sie sich beeilt, ein »doch, sehr schön« hinzuzufügen, merkte aber wohl, dass ihr ursprüngliches Urteil kaum mehr zu revidieren war. »So etwas passiert mir ständig«, hatte sie zerknirscht zu verstehen gegeben. »Dabei wollte ich eigentlich nur sagen, dass ich keine Expertin auf dem Gebiet bin.«

Auch wenn ich vielleicht hatte wissen wollen, auf welchem Gebiet sie denn eine Expertin war, und aus dem Gespräch eine freundschaftliche Annäherung, ein gegenseitiges Kennenlernen hätte entstehen können, tat ich damals nichts dergleichen, obwohl ich zumindest eine Art Wiedergutmachung hätte einfordern können. Vielleicht hatte es mir zu dem Zeitpunkt auch noch am dazu notwendigen Selbstbewusstsein gemangelt, denn meine Erfahrungen in Bezug auf das andere Geschlecht waren kläglich, was wohl daran lag, dass ich mich, angeekelt von der offensichtlichen Schürzenjägerei meines Vaters – er war mit seinem unkontrollierten Eroberungsdrang das denkbar schlechteste Vorbild für einen Heranwachsenden gewesen – sehr schwer damit getan hatte, dem Flirten auch ohne ständigem Ziel vor Augen etwas abgewinnen zu können.

Vielleicht war es aber auch nur die Situation als solche gewesen, von anderen Fahrgästen beobachtet zu werden, deren Blicke keine pietätvolle Zurückhaltung signalisiert hatten, die mich davon hatten Abstand nehmen lassen, der Verlockung einer fortgesetzten Balz nachzugeben. Wie auch immer, im Nachhinein betrachtet, hatte ich genau richtig reagiert, auch wenn mein eigentliches Empfinden für die schöne Unbekannte, deren Namen ich erst Tage später erfahren sollte, mir etwas anderes gesagt hatte.

Als wir uns das zweite Mal begegneten, verschlug es uns beiden gleichermaßen die Sprache. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als die unglaubliche Zufälligkeit des Geschehens als eindeutiges Signal der Zugehörigkeit, als Vorsehung zu deuten. Ich hatte gerade das Procedere der Aufnahme erfolgreich überstanden und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es an diesem Tag noch etwas geben könne, das mein Glücksgefühl hätte steigern können, als ich sie am Treppengeländer der großen Halle in der Kunsthochschule lehnend erblickte.

Im ersten Augenblick hatte ich gedacht, es handle sich nur um eine Ähnlichkeit, aber fast im gleichen Moment war mir klar, dass es niemanden sonst mit diesen Augen geben konnte. Ihr musste es ähnlich ergangen sein, denn als sich unsere Blicke trafen, schien sich alles um uns herum in marginale Unschärfe zu verflüchtigen. Die beiden Studenten, mit denen sie im Gespräch gewesen war, ließen uns jedenfalls alleine, und es mussten etliche Sekunden gewesen sein, die wir uns einfach wortlos angestarrt hatten. Sie war viel kleiner und zierlicher, als ich sie in Erinnerung hatte.

Wer von uns zuerst das Wort erhob, entzog sich meiner genauen Erinnerung, aber beide waren wir zielstrebig darauf erpicht gewesen, uns keinesfalls erneut aus den Augen zu verlieren, was schließlich dazu führte, dass wir die nächsten Tage fast unzertrennlich aneinander kletteten und keine Gelegenheit ausließen, das nachzuholen, was uns seit unserer ersten Begegnung entgangen war.

Sie hieß Julia und studierte bereits seit zwei Semestern mit dem Schwerpunkt Textile Gestaltung. Der Umstand, dass sie zudem zwei Jahre älter als ich war, ließ sie glauben, die Führungsrolle in unserer angehenden Liebschaft übernehmen zu müssen, was ich dankbar geschehen ließ. Julia arbeitete nebenher als Verkäuferin in der Stoffabteilung eines großen Kaufhauses und konnte sich dank dieser Einkünfte eine eigene Wohnung leisten, in der ich mich auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin gerne einquartierte, bis ich etwas Adäquates gefunden hatte.

So wurde ich mit dreitägiger Verspätung zu ihrem Teddybären mit Namen Perikles, den sie am liebsten schon im Zug eingesammelt und mitgenommen hätte, wie sie mir in unserer ersten gemeinsamen Nacht gestand, in der ich nicht anders konnte, als ihr beizupflichten, dass auch sie mir nicht aus dem Kopf gegangen war, als ich die ersten Tage in der Stadt herumgeirrt war, versucht hatte, mich im Betrieb der Hochschule zurechtzufinden, die Gegend erkundet, die ersten Nächte auf Parkbänken geschlafen hatte und zum Waschen frühmorgens über den Zaun eines nahen Freibades geklettert war. Und dieser Perikles war ich geblieben, bis mir der Platz auf Nofretetes Regal der Teddybären zu eng wurde und das erwachsene Steifftier die Sehnsucht nach Freiheit überkam.

Nein, ich war längst kein Perikles, kein Abenteurer mehr, auch wenn mich das Verlangen danach beizeiten überkam. Die Lehren, die ich aus lästigen Skandalen und Feldzügen gezogen hatte, ließen sich nicht mit einem peloponnesischen Krieg oder dem Skandal um Phidias vergleichen, waren mir dennoch ständige Warnung, denn die Mechanismen, die aus Kriegsherren Teddybären und aus Teddybären Gefangene machten, hatten sich in meinem Leben nie geändert. In diesem Sinne verabschiedete ich mich von der unbekannten Frau, als der Zug im Hauptbahnhof zum Stehen kam, ohne ihren Namen erfahren zu haben und ohne die Aussicht auf eine Verabredung.

Vielleicht wiederholte sich der Zufall einer erneuten Begegnung, vielleicht auch nicht. Ich hatte es trotz der fordernden Einladung von Anelis vorgezogen, erst einmal in einem Hotel unterzukommen und die Stadt aufs Neue zu erkunden. Falls ich die Unbekannte wiedertreffen sollte, konnte ich mein Schicksal immer noch herausfordern.