image

Libuše Moníková

Treibeis

Roman

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

Vor der Tafel der Schule in Angmagssalik, Ostgrönland, hängt ein großes Bild der Swan Arene in London, eine vereinfachte Kopie der Zeichnung, die Arend van Buchel nach der Originalskizze Johannes de Witts von 1596 angefertigt hat. Die stille Post der Kopisten quer durch die Jahrhunderte hat in ihrem vorläufig letzten Glied eine hypertrophierte Bühne hervorgebracht, auf mächtigen Füßen, die in den Raum drängt, auf Kosten von allem, was nicht spielt. Sie scheint Zuschauer gar nicht zuzulassen; wenn sich einige hineinverirren sollten, wie die kleineren Tiere in die Arena bei Bärenkämpfen, würden sie vom Geschehen im Zentrum aufgesogen und am Ende zerquetscht und blutleer an der Peripherie zurückgelassen, in ihren Galeriereihen zusammengepfercht, erschöpft vom Spektakel.

Prantls Hang zur Radikalität kann sich an der elisabethanischen Bühne immer wieder entzünden, aber hier sitzen siebzehn junge Grönländer zwischen vierzehn und achtzehn Jahren, die ihn ernst nehmen, zumindest wiederholt kommen und mit ihm Schule spielen, und sei es nur wegen der Suppe mittags.

Die drei Mädchen nehmen nicht einmal die Suppe ernst, sie kichern unentwegt, außerdem hat er Mühe, sie abends von seinem Haus wegzuscheuchen.

Zudem ist heute Pastor Aksel Brennhovd anwesend, eine Art pädagogischer Berater, die Bezeichnung Prüfer hört er ungern. Er hat sich nach hinten neben die Tür gesetzt. »Lassen Sie sich nicht stören« – Prantl bleibt heute nichts erspart.

»Die Bühne ist etwas groß geraten, und wo bleiben die Zuschauer?

Wo bleiben die Zuschauer?«, fragt Prantl, aber seine Schüler sind gerade dabei, die Kette der Kopisten zu schließen oder eine neue zu eröffnen, da sie sich von der Endgültigkeit der zeichnerischen Darstellung vor der Tafel nicht beirren lassen und die kreisförmige Form des Theaters nach ihren Vorstellungen weiter ausbauen, ›vereinfachen‹ wäre falsch. Es entsteht ein überdimensionierter Iglu, oben offen, zur Hälfte überdacht.

»Ja, die Zuschauer. Und wieso sollte es die einzige gültige Darstellung der damaligen Bühne sein? Schließlich gab es auch ›Fortune I‹, ›Fortune II‹, ›Globe‹, ›Rose‹, ›Theatre‹, ›Cockpit …« – einige Gesichter signalisieren Verständnis – »…nein, es hat nichts zu tun mit den Amerikanern, die über euch hinwegfliegen, dort wurden Hahnenkämpfe ausgetragen.« – Brennhovd räuspert sich von der Tür her, Prantl sieht ihn an: »… ›Blackfriars‹, ›White Friars‹, …jede Menge Friars …« Der Geschmack von seinem Aquavit-Frühstück kehrt wieder, die zweite Tasse hätte er nicht trinken sollen; nachher Rum holen.

»… ›Hope‹, ›Rose‹, ›Red Bull‹, ›Phoenix‹, ›Newington Butts‹ … butts? So etwas wie targets, Zielscheiben, Schießbretter«, er zeichnet ein Oval, daneben einen Pfeil. Die Schüler greifen zu ihren Stiften.

Prantl sieht, wie einer in der ersten Reihe den Pfeil zur Harpune macht, das Oval ähnelt einem Seehund.

»Also wo sind die Zuschauer?«

Seine Schüler sind jetzt dabei, Jagdszenen zu entwerfen, die Zielscheiben werden zu Schneeulen, Polarfüchsen, Schneehasen, einige trauen sich an Eisbären.

Keiner hört hin.

»Es sind nämlich keine da! Dabei ist das Spiel auf der Bühne in voller Fahrt! Ist es euch entgangen? Die Fahne ist gehißt, der Trompeter auf dem Dach bläst, das heißt, die Vorstellung läuft, nein, sie soll gerade anfangen. Und die Galerien – wie leergefegt! Wollte keiner kommen? Spielten sie so schlecht? Und wer sind die Gestalten auf dem überdachten Balkon direkt über der Szene? Sind das Musiker? In zwei Logen glaube ich welche auszumachen, und in den übrigen? Sind das die bekannten lords’ rooms der Mäzene? Und wo ist das Volk?«

Prantl steigert sich, sie schauen überrascht auf.

»Ihr würdet euch wundern! Es gab verschiedene Erklärungen. Die einen sagen, de Witt hätte nur eine Probe gezeichnet, die er besucht hatte, und die Menschen auf dem Balkon wären selbst Schauspieler, die ihren Kollegen zusehen. Ich denke, sie hatten in ihrer Freizeit anderes zu tun«, er grinst. »Andere meinen, er hätte im leeren Theater gezeichnet und sich die Situation ausgedacht. Hm«, er sieht sich um, auch diese These weckt keinen Widerspruch. »Erst später hat man begriffen, daß er aus dem Gedächtnis zeichnete und nur das festhielt, was ihm interessant und wichtig erschien – die Bühne, die Säulen, das Dach. Menschen – die waren überall gleich, die brauchte er nicht zu zeichnen! Daher auch die Vogelperspektive. Von oben, seht ihr?«

Für einen Augenblick wird er müde. Vogelperspektive – sie werden sich jetzt wahrscheinlich an Eistaucher, Falken und Möwen heranmachen. Und woher sollen sie auch Abstrakta kennen?

Er könnte abbrechen, mit ihnen über Hundeschlitten, Jagd oder Flugzeuge sprechen, über etwas aus ihrem Lebensbereich. Das pastorale Lächeln von Brennhovd – seine methodischen Ratschläge nach der Stunde hört er schon – gibt ihm einen Stich. Außerdem ist es eine Englischstunde, oder Geschichte?, und sie sollen mal auch etwas anderes hören als über den Landesapostel Hans Egede.

»Seht ihr?«, er zeigt wieder auf die Zeichnung. »Auf die Bühne führen im Hintergrund zwei Türen. Es war nicht überall gleich, mit der Zeit wurden es immer mehr, aber eher in den Privattheatern. In ›Salisbury Court‹ und in ›Phoenix‹ waren es drei, in ›Cockpit‹ fünf, ›Globe‹ ist wahrscheinlich mit zweien ausgekommen. ›Globe‹ hatte allerdings zwischen den beiden Säulen im Hintergrund einen freien Raum fürs Spiel, eine Art hintere Bühne, die ist beim ›Swan‹ nicht auszumachen. Dahin wurden aus dem Inneren der Dachkonstruktion unerwartete Erscheinungen heruntergelassen – Götter, Geister …«, er zwinkert: »Hamlets Vater konnte so auf die Bühne gebracht werden, falls er es nicht vorgezogen hatte, einfach durch die Hintertür zu kommen, wie andere Schauspieler auch.« Ich greife vor, fällt ihm ein. »Götter, sagte ich, Geister … Tupilaks!«

Sie horchen auf, sehen sich um.

»Hier, zwischen den beiden Säulen würden sie erscheinen, vom Flaschenzug heruntergelassen …«, er deutet einen Zug aus der Flasche an. Ein Blick zur Tür: Pastor Brennhovd lächelt nicht mit. »Nein, laßt euch nicht beirren. Ich meine ein Gerät, einen … Hebel, auf Rollen. In der Physikstunde erkläre ich es euch. Mit dem Flaschenzug also werden die Tupilaks herabgelassen.«

Leichtes kollektives Erschauern, bis einer seiner Schüler ihm mühsam erklärt, daß ihre Geister, ihre Tupilaks, keine mechanische Vorrichtung brauchen, um zu schweben.

Prantl ist wieder dort, wo er war.

Dabei sind sie für Shakespeare ausgesprochen begabt.

Sie beobachten ihn mit ihren Schlitzaugen aus dunklen, flachen Gesichtern, warten auf den nächsten Irrtum.

»Bevor diese Zeichnung gefunden wurde«, Prantl zeigt wieder auf de Witts Bild, »gab es die seltsamsten Spekulationen darüber, wie die elisabethanische Bühne eigentlich ausgesehen hatte. Einer, Edmund Malone, stellte sie sich als eine Art Guckszene vor, mit einem Vorhang, der zur Szene gehörte. Ein anderer Forscher, Brodmeier, stellte sich zwei Bühnen vor: auf einer wurde gespielt, während auf der anderen hinter dem Vorhang Dekorationen für die nächste Szene aufgestellt wurden. Erst 1888 bekam man eine genauere Vorstellung, als Karl Gaedertz, ein Deutscher, …«, die Schüler zeigen eine gewisse Resonanz, indem sie bei jedem Namen kichern – »… die Beschreibung und die Skizze von Johannes de Witt fand, in der Kopie von Arend van Buchel – eben unsere Zeichnung hier.«

In der Hinterbank scheint der achtzehnjährige Paavo, ein schwerer, schweigsamer Bursche, der selten nüchtern ist, fest zu schlafen. Immerhin ist er gekommen; letztesmal hat man ihn halberfroren hinter der Schule gefunden. Vorher hatte ihn Prantl zwischen den Kisten der Fischmehlfabrik aufgelesen, wo man ihn nicht mehr will. Diesen Jungen kann die elisabethanische Bühne gestohlen bleiben, aber wenn man sie ungefragt mit Bomben überfliegt, können sie auch erfahren, woraus man früher Theater baute.

Prantl senkt trotzdem die Stimme: »De Witt schreibt in seinen lateinischen Reisebemerkungen, daß der ›Swan‹ aus Stein gebaut war. Ein anderer Reisender, Zdenek Brtnický z Valdštejna, aus Böhmen, der in London um 1600 das ›Globe‹ besuchte, spricht wiederum von einem Theater ›ex lignum‹, aus Holz. Die maximale Besucherzahl, die de Witt für den ›Schwan‹ erwähnt, sind dreitausend Zuschauer, ›in sedilibus‹, das heißt auf Sitzen; dazu noch etwa neunhundert Stehplätze unten ›im Hof‹. Die ganze Bevölkerung der Ostküste von Nordostrundingen bis Narssarssuaq hätte in so einer Arena Platz!«

Sie fühlen sich mitgezählt und lachen, einige sehen sich die Bühne an, suchen einen Platz für sich, immer noch ohne zu wissen, was sie inmitten des Bildes eigentlich sollen.

»Die Stehplätze kosteten einen Penny, die Galerieplätze zwei. Man fing in der Regel um zwei Uhr nachmittags an. Bei so vielen Besuchern gab es entsprechend viel Lärm, man trank Bier und knackte Nüsse, die Schauspieler mußten wild gestikulieren und die Augen rollen, und die Knaben unter vierzehn, die die Frauen spielten, mußten ihre Stimmchen verdammt anstrengen« – Prantl zieht eine Schnute, beim ›Stimmchänn!‹ zuckt sogar Paavo zusammen – das wollte er nicht.

Sie glucksen und zeichnen wieder, schraffieren die weißen Quader ihrer Theater-Iglus, verwandeln Schnee in Stein, daneben setzen sie Flaschen Pilsner Urquell, die bescheideneren Tuborg und Carlsberg Øl; Angmagssalik, ein Dorf von 700 Seelen, die Hälfte davon Kinder unter vierzehn, weist den höchsten Alkoholkonsum der Insel auf. Vom Treiben der Schauspieler, um das es hier geht, sind sie kaum beeindruckt.

Prantl staunt, wie leicht sie konkrete Materialien aufsaugen, als gehörten sie seit je zu ihrer Welt. Er wird bald neue Hefte für sie beantragen müssen, oder lieber gleich selbst welche kaufen – nach dieser Stunde wird Brennhovd keine zusätzlichen Mittel für seinen Unterricht befürworten.

Er sieht das Bild an der Tafel. Die Zeichnung ist verblichen, das Papier an mehreren Stellen eingerissen. Er fährt vorsichtig mit der gesunden Hand über die Holzwand daneben, bevor er das nächste Bild entrollt und aufhängt: Hollars Radierung von London, entstanden ein halbes Jahrhundert nach Johannes de Witts spärlichen Strichen des ›Schwans‹.

Auf dem Bild ist mehr zu sehen: eine Menge eng stehender Häuser, Bäume, der breite helle Streifen in der Mitte ist ein Fluß: Boote, kein blasender Wal, dafür Buchstaben. Die Schüler lassen von ihrer Zeichnung ab und wenden sich für einen Moment dieser neuen unverständlichen Vielfalt zu.

Prantl zeigt auf die beiden kreisförmigen Bauten im Vordergrund: »Die Bärenarena und die ›Erdkugel‹. Die Spielorte waren hinter den Stadttoren und an den Ufern der Themse, wegen der Seuchengefahr – die bubonische Pest, der Schwarze Tod war allgegenwärtig – und wegen der Puritaner im Stadtrat, die es zu jeder Zeit, auch ohne Pest, verstanden, die Leute einzuschüchtern und es ungern sahen, wenn sich das Volk vergnügte, statt in die Kirche zu gehen.« Er schaut zur Tür: Pastor Brennhovd macht sich eifrig Notizen.

»Die öffentlichen Bühnen und die Tierarenen wurden also aus dem Zentrum verdrängt, während die privaten Theater der Adligen und der Kirche in den Stadthäusern ihrer Mäzene spielen durften. Wir wollen daraus aber keine revolutionären Schlüsse ziehen, zumindest heute nicht – Grinsen in Richtung Tür –, schließlich gehörte auch Shakespeare …« – Prantl hält inne, kein Erkennungszeichen seitens seiner Zuhörer – »… zu den ›Dienern des Lord Kämmerers‹ oder des Lords Strange, bevor er selbst Teilhaber am ›Globe‹ wurde.« – Bevor ihm ein Stück Erdkugel gehörte; ich erobere für ihn gerade Grönland – fällt ihm ein. Nicht sehr überzeugend allerdings. – Prantl verzieht das Gesicht, sie lächeln freundlich zurück.

»Und ich sage euch, Shakespeare und die ganze Bande, von Kyd bis Jonson, hatten noch Glück, daß sie nicht in die Hände des Halsabschneiders Henslow gefallen waren, der ihnen die Haut abgezogen hätte! Der war kein Adliger, hat aber seine Leute, Schauspieler wie Autoren, durch Leihgaben und Verschuldung lebenslang geknebelt, in seinem Notizbuch hatte er alles aufgeschrieben! Als Dokument genauso wertvoll wie die Stücke, zumindest die seiner Dramatiker. Chettle, Drayton, Munday, Dekker – wer kennt sie noch? Dabei mußten sie wendig sein, Abend für Abend ein neues Stück! Man stahl wo man konnte – alle! Aber das genügte nicht, das Publikum wollte Überraschungen, neue Einfälle. Rache war sehr beliebt: allein wegen der Meuchelszene in Kyds ›Spanish Tragedy‹ führte man mit den Kulissen ›eine Laube‹ für die Ermordung von Horatio und ›einen Kessel für den Juden‹ für Marlowes ›Juden von Malta‹. Die beiden Geschichten werde ich euch noch erzählen!«

Brennhovd verdreht die Augen.

Prantl ist in Fahrt: »Das Wertvollste waren die Kostüme und die Texte, aber die Requisiten konnten sich auch sehen lassen. Eine Stadt wurde nicht einfach auf den Hintergrund gemalt, sondern aus Holz gezimmert, mit Zinnen, Türmen, Mauern! In der Inventarliste von Philip Henslow stehen auch Naturerscheinungen – ›ein Regenbogen‹ – und sogar drei Tiere: ein ›schwarzer Hund‹, ein ›Löwe‹ und ein ›großes Pferd mit Beinen‹. Sie konnten sicher auch lebendige Tiere nehmen – Hunde gab’s in London fast so viele wie in Angmagssalik, allerdings nicht mit so dichtem Fell –, der Löwe war wohl ausgestopft.«

Die Schüler lachen: der Löwe ist ihnen egal, aber die kahlen Hunde finden sie komisch.

Prantl schließt den Katalog ab: »Was Bäume betraf, für alle Stücke gab’s nur drei Sorten: einen Baum mit Lorbeerblättern, einen mit goldenen Äpfeln und den Baum des Tantalus.«

– ›Nur‹, es fällt ihm ein, daß seine Schüler gar keine lebendigen Bäume kennen.

Dafür zeichnen sie jetzt Hunde.

»Wir werden ein Stück aufführen, das wird euch Spaß machen! Sprecht wie ihr wollt, die englischen Schauspieler waren auf dem Kontinent beliebt und geschätzt, nicht weil man ihre Sprache verstand, sondern weil ihre Gesten stimmten. Es waren Professionelle, alle konnten fechten – es war kein Hopsen auf der Bühne beim Kampf. Es war ernst, wie die Seehundjagd. Bei Vorstellungen mußte der Bürgermeister von London regelmäßig nach dem Sheriff schicken – wegen der Prügeleien auf der Straße, das Theater war ansteckend. ›Denn Schauspieler sind der Spiegel und die abgekürzte Chronik der Zeit‹«, Prantl verneigt sich. »Noch aus Isortoq wird man kommen, um euch zu sehen! Große Schauspieler waren berühmt, die Dramatiker kannte man kaum. Ob Marlowe, ob Lyly, sie machten sich keine Illusionen, jeder Gaukler war bekannter als sie. Nur Jonson starb wie seine Helden – bei einer Kneipenrauferei. Shakespeare hatte seinen Richard Burbage, schrieb ihm die Rollen auf den Leib, sie alterten mit dem Schauspieler. Burbage war der erste Hamlet, der erste Othello, Lear, vorher Richard III. Vielleicht sollten wir das spielen«, Prantl sieht den krummen Uiartek an – immerhin ließen ihn die Eltern am Leben.

»Daß Shakespeare selbst als Charakterdarsteller festgelegt war, ist eine Fama, wir wissen nichts. Ob er den alten Diener Adam in ›As you like it‹ oder den Geist in Hamlet gespielt hat, ist nicht bewiesen. Ein großer Schauspieler war er sicher nicht, das könnte euch Mut machen.«

Brennhovd gestikuliert und schüttelt den Kopf, zumindest hält er sich an die Abmachung und schweigt. Könnte er nicht einfach gehen? Sieht heute auch ziemlich geknickt aus – hat ihn die Haushälterin gestern abgewimmelt, Fräulein Hallseth, die Gottesanbeterin? Oder wieder Zank mit seiner kranken Frau?

Durchs Fenster sieht Prantl einen zwanzig Meter hohen Eisberg, mit gezackten Wänden und scharfen Kanten, grünlich schimmernd in der Sonne, gefolgt von einem kleineren in schneeigem Weiß. Kommt er vom Gunnbjörns Fjeld, wo die Gletscher kalben? Oder gar vom Scoresbysund, tausend Kilometer nördlich, wohin sich Schiffe nicht trauen, weil das Meer auch im Sommer zugefroren ist? – Vom Scoresby, die schwierigere Passage. Also weitermachen mit Shakespeare.

»Es hätte euch gefallen, das Theater damals. Es floß viel Blut – für Schlachtszenen und für Morde trugen die Schauspieler Beutel mit Rinderblut bei sich, und wenn einer gevierteilt wurde, gab es reichlich Tierinnereien zum Vorzeigen. Und es war laut! Man schoß aus Kanonen, natürlich nur mit Schießpulver, ohne Kugeln, aber es reichte auch – das Dach des ›Globe‹ fing Feuer. ›Globe‹ – unsere ›Erdkugel‹, hier haben wir sie«, Prantl zeigt auf Hollars Radierung.

Im Augenblick schaut keiner hin, sie versperren sich hinter ihren Hundegespannen, die sie jetzt fächerförmig und paarweise zeichnen, dabei ist für sie ›paarweise‹ eigentlich unbekannt, wie die Baumsorten, weil diese enge Art, die Hunde vor die Schlitten zu spannen, nur für die Taiga und Tundra sinnvoll ist, wo die Tiere den Bäumen oder Sträuchern ausweichen müssen, aber nichts für die Überquerung des Inlandeises auf Grönland.

Sie sind es gewöhnt, in ihren Vorstellungen riesige Strecken zurückzulegen, warum nicht auch bis zum elisabethanischen Theater?

»Ich könnte euch von James Burbage erzählen, der das erste Theater in England baute und es einfach ›Theatre‹ nannte. Wollt ihr das Jahr wissen? Na gut. Er war Schauspieler und Zimmermann in einem, das war günstig, vom Schauspielen allein konnte man damals nicht leben. Dazu kam das königliche Patent: ›Das Schauspiel-Handwerk über unser ganzes englisches Reich auszuüben.‹ Es war die erste rechtliche Sicherung für Schauspielertrupps, die bis dahin nur geduldet wurden.« Prantl sieht in die Eskimo-Gesichter: die Jugend von Angmagssalik, wo nur die Angmagssetten, die kleinen ›Industriefische‹ gefangen werden und das Leben so viel schwerer ist als an der Westküste. – ›Eine Realschule ist nicht geplant, eine Volksschule wird gegenwärtig für ausreichend befunden.‹ – Ihr werdet euch wundern!

»Der Bau war 1577 fertig. Er erweckte Empörung, vor allem bei den Puritanern, es war aber das erste Theater in Europa, und Spanien zog im gleichen Jahrzehnt nach. Spanien, das bereits im dreizehnten Jahrhundert in Toledo eine Übersetzerschule hatte!« Er hält inne, sie zeichnen unbeeindruckt weiter.

»Nach einundzwanzig Jahren war der Pachtvertrag abgelaufen – und Burbage saß da! Kein Theater, keine Aufführungen. Und mit ihm die ganze Schauspielergruppe. Darunter einer, dessen Namen … Ihr könntet jetzt ruhig zuhören! Was ein Pachtvertrag ist?« Prantl sieht, wie Brennhovd die Augen verdreht, mit beredtem Schniefen. »Das kennt ihr zum Glück nicht. Noch nicht! Das bedeutet, daß ihm der Boden nicht gehörte – der Boden, auf dem er ging, auf dem er spielte. Auch Grundstück genannt. Merkt es euch nicht!«

Sie nicken, als wären sie mit dieser Erklärung einverstanden.

»Aber jetzt paßt auf«, Prantl dämpft die Stimme. »Was macht Burbage, unser Künstler-Unternehmer? Eines Nachts dringt er mit seinem Bruder und ein paar angeheuerten Helfern in das Grundstück, das ihm nicht mehr gehört, wo sein ›Theatre‹ steht, und nimmt es auseinander. Und noch in derselben Nacht – es war im Dezember, kalt, naß in London, kaum eine Seele auf den Straßen – verfrachtet er das Holz auf die andere Seite der Themse und legt so die Grundlagen für den Bau eines neuen Theaters – des ›Globe‹, das berühmt werden sollte, weil …«

Bevor sie vor weiteren unverständlichen Namen zurück in ihre gezeichneten Eiswüsten eintauchen, Robben jagen, Rentiere verfolgen, versucht er es mit einem Umweg. Zahlen müßten ihnen leichter fallen. »Kann mir jemand sagen, wann das war? Denkt an das Erbauungsjahr und an die Pachtfrist!«

Raunen, bis aus mehreren Richtungen gleichzeitig eine Antwort kommt, unsicher, fragend, mit einem Hauch von Interesse.

»Richtig! Einundzwanzig Jahre nach dem Bau von 1577 macht 1598. Im Dezember 1598 setzt Burbage mit dem Holz seines ›Theaters‹ ans andere Ufer der Themse über. Im Februar nächsten Jahres fangen die Bauarbeiten am ›Globe‹ an.« Er zeigt auf Hollars Bild: »Hier ist sie, die ›Erdkugel‹, allerdings schon die zweite, nachdem die erste an der gleichen Stelle 1613 niederbrannte.«

Er sieht sich um: »Wartet jetzt mit euren Bildern und schaut her! Wir sind in London von 1647. Die beiden runden Bauten vorn sind die Bärenarena und die ›Erdkugel‹, das ›Globe‹. Nur ist dabei meinem Landsmann Václav Hollar – die Kontakte zwischen England und Böhmen waren damals reger als heute – ein Fehler unterlaufen, was man ihm aber nicht zu verübeln braucht. Er war damals nicht mehr in London, sondern in Antwerpen, und erinnerte sich nicht mehr genau …«

Ulla, eines der Mädchen, größer als die anderen, lächelt seit einiger Zeit und versucht, seinen Blick zu erhaschen, ohne sich um das Bild zu kümmern. Sobald er in ihre Richtung schaut, kichern alle drei; Geflüster. Er sollte mit ihr reden, es wird aber wieder nichts helfen.

Die Radierung bauscht sich im plötzlichen Windzug auf – wer hat das Fenster geöffnet? Wahrscheinlich Brennhovd, der Trangeruch hat sich in der Wärme verdichtet.

»Sieh mal«, Prantl wendet sich an den schmächtigen Puuq in der vorderen Reihe, einen vierzehnjährigen Fischer und Robbenjäger, der das Bild mißtrauisch ansieht.

»In diesem … Haus«, er zeigt auf die Arena, »gab es Bärenkämpfe. Mit Nanoq, aber braun.«

Puuq grinst und sieht zum ersten Mal richtig hin. Aufregung unter den anderen. »Nanoq?«, sie lachen.

»Und Hollar hat die Gebäude verwechselt«, fährt Prantl fort.

»Die Bären, die Nanoq, waren rechts, in der Arena am Ufer, wo auf dem Bild ›The Globe‹ steht. Und die ›Erdkugel‹, das Theater, um das es geht, weil darin SHAKE-SPEARE – schreibt es auf! – gespielt hat …, die ›Erdkugel‹ war links.«

»Nanoq«, Puuq entströmt ein warmer Hauch von Fisch und Fusel, er zeigt nach links.

»Ja, so steht es bei Hollar, aber dort war das Theater, ›The Globe‹, verstehst du? ›Die Erdkugel‹. Die Bären waren rechts, am Ufer.«

Puuq nickt: »Da Nanoq, da Shakespeare«, er korrigiert das Bild und zeichnet einen Eisbären in sein Heft.

Pause.

»Nennen Sie das einen Transfer?«, Brennhovd hält Prantl mit einer säuerlichen Miene an, während die Schüler sich durch die Tür drängen; es gibt Suppe.

Es fängt eine der sinnlosen langen Unterredungen mit diesem norwegischen Gottsucher an, der seit neuestem auf ›Interaktion‹ und ›Methodenwechsel‹ aus den Fachzeitschriften der Schulbibliothek schwört, die mit Verspätung nach Grönland gelangen. Er setzt sie in seiner Bibel- und Heimatkunde anstelle des überholten Lehrervortrags ein, für den er sich zumindest vorbereiten müßte. Die Folge sind kindliche Spiele, bei denen achtzehnjährige arbeitslose Grönländer mit Papierflügeln eine kollektive Verkündigung proben oder Passagen aus dem bewegten Leben des Landesapostels Pastor Egede aufsagen.

»Wie?«, Prantl wollte gerade rauchen gehen.

»Halten Sie es für eine angemessene Vermittlung des Stoffes, und, vor allem, für den richtigen Stoff?«, Brennhovd verstellt die Tür.

»Die Jungen sind nicht dumm, aber …«

»Sie sind nicht dumm?«, Prantl hat von diesem Wohlwollen genug. »Haben Sie sich jemals ihre Zeichnungen angesehen?«, er hält Brennhovd eines der Hefte vor. »Und hier?« In der Bank ist eine angefangene Beinschnitzerei liegengeblieben, ein weißer Vogel mit gebrochenem Flügel, er hebt sie vorsichtig hoch. »Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, mit Ihrer Anerkennung?«

»Nun, es kommt nicht darauf an, wie ich Ihnen vorkomme, Herr Prantl, sondern wie mir als Mitglied des Schulrats Ihr Unterricht vorkommt. Was wollen Sie eigentlich mit all den Ausgefallenheiten, mit den doppelten Bühnen und fünffachen Ausgängen, mit Ihren Flaschenzügen und Trompetern auf dem Dach erreichen? Davon verstehe nicht einmal ich alles!«

»Das habe ich auch nicht erwartet. Sie haben sich angemeldet – wollten eine Stunde sehen, beim ersten Kurs einer Realschule an der Ostküste!« Prantl sieht hinter Brennhovds Kopf, wie Ulla ihm vom Flur aus Zeichen gibt, unter interessierter Anteilnahme ihrer Freundinnen. Heute abend wird er die Haustür verschließen. Er holt seine Zigarettenschachtel heraus.

»Erst draußen«, Brennhovd lächelt. »Wir wollen den Schülern kein schlechtes Beispiel geben. Sie wissen ja, hier ist alles aus Holz.« Er zeigt auf die Wand, wo Hollars Radierung hängt. »Was bedeutet also was? Auch noch mit vertauschten Gebäuden! Konnten Sie nicht ein Bild nehmen, wo die Bezeichnungen stimmen? Als wäre es nicht kompliziert genug! Ich verstehe, daß Sie Ihren Landsmann präferieren, aber …«

»Ich hatte kein anderes. Keins mit Namen, und so detailliert! Vom Präferieren von Landsleuten halte ich nichts.«

»Wo sollte also das berühmte ›Globe‹ sein?« Brennhovd beugt sich über das Bild. »Hier, wo ›Beere bayting‹ steht?«

»Genau.«

Brennhovd sieht auf. »Sie sollen Englisch unterrichten, wenn ich es richtig verstehe«, er blättert in seinem Notizblock. »Dabei haben Sie keine einzige Vokabel … doch – butts, targets – Zielscheiben. Etwas dürftig …«

Prantl wartet.

»Wenn ich es also als ›Englisch‹ ansehe«, Brennhovd blättert weiter, »hätten dann die Schüler genauso viel Englisch wie Dänisch. Wozu eigentlich?«

»Vielleicht, damit sie dann die Amerikaner nach Hause schicken können, die von den Basen und den Radarstationen.«

Brennhovd richtet sich auf: »Ich hoffe, es ist nicht Ihr Ernst. Diese Einrichtungen gehören zum festen Bestandteil der grönländischen Wirtschaft und Sicherheit, wie Sie wissen. Wenn die Russen …«

»Lassen Sie die Russen aus dem Spiel! Wer hier gefährlich ist, hat sich ’68 gezeigt!«

»Sie meinen den Unfall …«, Brennhovd räuspert sich. »Es ist immerhin zu keinem größeren Schaden gekommen. Und es hätte den Russen genauso passieren können.«

»Die sind aber nicht da! Sie dürfen nicht einmal über Grönland fliegen.«

»Bedauern Sie es etwa?«, Brennhovd sieht auf. »Seit drei Jahren ist weiter nichts vorgekommen.«

»Sie meinen, da wir alle noch leben, hat es nichts zu bedeuten, eine Lappalie!«

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn wir schon von ’68 sprechen – wollen Sie die Russen wirklich in Schutz nehmen? Ausgerechnet Sie?«

Prantls Gesichtshaut spannt. »Ich spreche von einem amerikanischen Flugzeug, das mit vier Wasserstoffbomben an Bord über Thule abgestürzt ist, die bis heute nicht geborgen sind! Davon, daß amerikanische Bomber mit Kernwaffen als Gepäck Grönland ungehindert überfliegen, trotz der Versicherungen der dänischen Regierung, auf ihrem Territorium gäbe es keine Atomwaffen! Zwei Jahre vorher der gleiche Unfall an der spanischen Küste – bei Thule war es insgesamt schon der vierzehnte! Ich mache mir keine Illusionen über das Geschick der Russen bei ähnlichen Operationen, aber ihre militärischen Aktivitäten, auf die Sie anspielen, stehen hier nicht zur Debatte, können es auch nicht entschuldigen.« Er verzieht den Mund: »Wegen der Okkupation ’68 ist kein amerikanischer Bomber gestartet!«

Brennhovd sieht ihn an. »Ich erinnere mich, Kollege Prantl, wie Sie zurück wollten, nach zwanzig Jahren, kämpfen wollten …«

»Das gehört nicht hierher! Falls Sie nichts weiter zu meinem Unterricht sagen möchten …«

»Doch, ich frage Sie noch einmal: Was haben die Schüler davon? Und verstehen sie es überhaupt?«

»Sie zeichnen zurück!«

»Ja«, Brennhovd schiebt nachdenklich ein aufgeschlagenes Heft zur Seite und betrachtet die daneben liegende Schnitzerei, eine kauernde Gestalt, halb Tier, halb Mensch, mit Fischaugen und einem erhobenen Armstumpf, ein Zahn in dem aufgesperrten Rachen ist abgebrochen. »Vor allem gehen sie hier ihrem Schnitzergewerbe nach. Und die andere Hälfte schläft aus. – Eine interessante Arbeit«, er dreht die Plastik in den Händen. »Die Zähne wird er allerdings nachholen müssen.«

»Das wird er nicht verkaufen!« Prantl ist gereizt, es stört ihn, daß Brennhovd die Figur befingert.

»Natürlich nicht, aber die Zähne sollten trotzdem in Ordnung sein. Sonst rächt sich der Tupilaq womöglich«, Brennhovd grinst. »Hat es der Junge auf Sie abgesehen? Oder auf den Geist von Hamlets Vater? Dagegen werden Sie mit Ihrem Shakespeare nicht ankommen. Begabt sind die Kinder ja«, er legt die Schnitzerei zurück. »Und was ist das?« In der Fensterbank liegt ein grob bearbeiteter Speckstein. »Ein Adler? Sieht aus wie ein zerschlagenes Flugzeug«, Brennhovd hört auf zu lächeln. »Noch zu dieser … Havarie. Sie sagen, die Amerikaner sollen aus Grönland abziehen, die Basen aufgeben. Dabei sind sie hier allgemein beliebt! Vor allem bei den Mädchen«, er verdreht die Augen. »Aber die Eskimos haben ja mitgeholfen, die Abgestürzten zu bergen.«

»Mitgeholfen? Ohne die Inuit aus Moriussaq, die Hundeschlitten hatten, hätten sie nicht überlebt!«

Prantl erinnert sich an die Nacht im Januar vor drei Jahren, als mitten in der monatelangen Dunkelheit der Himmel hell erleuchtet in Flammen stand, und die lodernden Wrackteile den Horizont vor Dundas markierten. Bevor man sie weit draußen im Baylot-Sund und vor der Wolstenholme-Insel bergen konnte, waren die schweren Teile tief im Eis eingeschmolzen, nicht mehr auffindbar. Wie durch ein Wunder wurde die ganze Besatzung nach stundenlanger Suche in totaler Finsternis kilometerweit auseinander gefunden. Sechs Mann lebend, der siebte – die ›schlafende Ablösung‹, für die kein Katapultsitz vorgesehen ist, lag zerschmettert neben seinem verbrannten Fallschirm auf dem Eis; die Maschine war schneller abgestürzt, als er mit dem Schirm landen konnte, und hatte ihn mitgerissen.

Den Navigator fand man erst nach zwanzig Stunden in einer Schneewehe, verwickelt in seinem Fallschirm, aus dem er sich nicht befreien konnte, bei minus vierzig Grad war er am Leben, mit erfrorenen Füßen und einer erfrorenen Hand. Die anderen hatten mehr Glück, konnten sich bewegen, rufen. Einer war nur hundert Meter vom Hangar entfernt und blieb liegen, weil er in der Dunkelheit nichts sehen konnte.

»Man fand keine Bomben, dafür Bombenteile! Und Plutonium in der Luft – die Sprengsätze sind explodiert.« Prantl zündet sich eine Zigarette an.

»Ja, das wurde bekanntgegeben«, murmelt Brennhovd. »Man ergriff aber sofort Maßnahmen.«

»Sicher! Füchse wurden abgeschossen, und die Eskimos durften kein Wasser aus der Umgebung benutzen. Weder das Meereis zum Salzen, noch das Süßwassereis zum Trinken und Kochen. Erklären Sie es ihnen erstmal! Und das, nachdem sie stundenlang in der Dunkelheit hin- und hergefahren sind, um den Weißen das Leben zu retten! Sie hatten für sie Iglus gebaut, vielleicht die letzten auf Grönland.«

»Und Sie sagen, die Amerikaner sind hier unbeliebt?«, Brennhovd lächelt. »Warum sollten es dann die Eskimos für sie tun?«

»Weil sie freundliche Menschen sind, hilfsbereit! Sie hätten es für jeden getan! Es könnte nützlich sein, wenn sie die Soldaten zumindest fragen könnten, wieso sie über ihrem Land fliegen – mit so gefährlicher Fracht an Bord!«

Brennhovd lächelt: »In elisabethanischem Englisch, womöglich?«

»Etwas Bildung kann den US-Soldaten nicht schaden! Die B-52 können sie steuern, aber mit der eigenen Unterschrift haben sie Mühe. Unbeliebt sind sie nicht, nur gefährlich. Ihr SAGE-System in Thule ist veraltet – sie haben bereits Wildgänse und den aufgehenden Mond als feindliche Objekte identifiziert und beinah beschossen.«

»SAGE?«

»Ihr Warnsystem – Semi Automatic Ground Environment, die Abkürzung ergibt ›weise‹«, Prantl grinst. Die Vokabeln können Sie abhaken, die hatten wir.

Brennhovd sieht auf: »Sie kennen sich da aus?«

»Nein, nicht mehr«, Prantl winkt ab.

»Und Ihr Shakespeare –«, Brennhovd erinnert sich wieder, »… was denken Sie, haben die Schüler aus der Stunde mitgenommen – ist eine Art Eisbär?«

»Da es für sie das stärkste, mächtigste Wesen ist, das Wappen ihres Landes dazu, ist der Vergleich gar nicht so falsch«, Prantl grinst.

»Sie stellen Ihren Dramatiker wirklich hoch, Herr Kollege, können sich begeistern. Und wie steht es mit der Bibelkunde?«

»Das ist nicht meine Sache, Herr Brennhovd. Ich bringe ihnen das englische Drama bei.«

»Ich möchte es nicht so verstehen, Kollege Prantl, daß Sie etwa Shakespeare über gewisse geistige Inhalte und Symbole stellen, als eine höchste moralische und kulturelle Instanz, sozusagen?

Ich muß Sie noch einmal fragen: welche Bedeutung kann Ihrer Meinung nach für die Einheimischen Shakespeare haben? Bevor ich mir überlege …«

»Wenn Sie mich schon darauf ansprechen, Pastor Brennhovd – ich wollte Sie auch schon lange etwas fragen: Was haben sich die Missionare gedacht, als sie ihre unverständliche, grausame Lehre von einem Gekreuzigten nach Afrika, Amerika, Asien brachten – und die Eskimos wurden auch nicht verschont! Ohne leibhaftigen Vater, von einer unbefleckten Mutter geboren – und was heißt hier befleckt? Das müssen Sie den Inuit erst einmal erklären!«

»Die Grönländer haben immerhin so viel begriffen«, Brennhovd hüstelt, »daß sie zumindest die Lampenlöschspiele eingeschränkt haben.«

»Wo denn? Auch wenn sie sich taufen lassen, heißt das noch nicht, daß sie an die unbefleckte Empfängnis glauben! Und dann die Himmelfahrt! Natürlich leben auch sie nach dem Tode weiter, aber auf ihre Weise!«

»Ich möchte nicht weiter zuhören!«

»Pastor Brennhovd, woher nehmen Sie Ihre Sicherheit? Wenn diese dunkle, unverständliche Geschichte, die in der Wüste spielt, den Eskimos einleuchten soll, kann ich nur sagen – da man sie ihnen erst später aufgedrängt hatte –, man hätte besser Shakespeare genommen! Das wäre unblutiger verlaufen, und es wäre allemal verständlicher, glaubwürdiger als die Lehre von der Erbsünde, vom Verwandeln des Wassers in Wein und von auferstandenen Toten! Wo sie nicht einmal Holz für ein Kreuz haben! Und Wasser ohne Brunnen so schwer zu beschaffen ist. Sollen sie sich vorstellen, daß ein Eisblock sich plötzlich rot färbt? Also verbieten Sie mir nicht, ihnen ein anderes Universum zu zeigen – lebendiger und menschlicher als die Bibel!«

»Herr …Prantl – Kollege möchte ich nach dem eben Gehörten nicht sagen –, ich müßte eigentlich dafür sorgen, daß Sie mit dieser Gesinnung nicht länger als Erzieher …«, Brennhovd bekommt einen Würgehusten und fächelt eindrucksvoll mit den Händen.

»Dann suchen Sie jemanden, der hier unterrichten würde! Ich werde eher mit den Schülern ein Shakespeare-Stück aufführen, im Original, als daß Sie Ersatz finden!« Prantl drückt die Zigarette aus.

»Sie können doch nicht aus der Abwesenheit von Grundwasser und Holz auf die Abwesenheit Gottes schließen«, Brennhovd sammelt sich wieder. »Das Mobiliar zu Shakespeares Stücken werden Sie hier auch vergeblich suchen. Es wäre also angemessener, wenn Sie sich mit Ihrem Theater an die Landesgeschichte halten würden, wenn es schon sein muß«, er seufzt; diese Gespräche enden immer gleich. Er sieht noch einmal auf die Radierung: zwischen den steilen Giebeln von Hollars London ist keine Kirche auszumachen.

»Soll ich mit ihnen die Taten von Arnulf Schönhaar inszenieren, oder die von Erik dem Roten? Die sind ihnen genauso fremd wie Heinrich der Vierte. Sie hätten wohl am liebsten etwas über Ihren Landesapostel?«

»Nicht in Ihrer Fassung!«

»Dabei hat hier Ihr Egede einen anderen Himmel kennengelernt. Wo die Toten über den Wolken Fußball mit Walroßschädeln spielen – spannender als den Engelschören zuzuhören – und die Ertrunkenen ihren eigenen Himmel unter Wasser haben. Und wenn der Mond nicht erschien, war er im Meer oder auf der Erde, um sich Robben zum Schmaus im Himmel zu holen. Und ihr Großer Wagen war kein Bär, sondern ein Rentier. Das alles hat Egede erfahren und hat sie ausgelacht, ihre Schamanen geschlagen und als Betrüger beschimpft! Und dann zeigte er in den Himmel und redete von seinem Gott!« Prantl nimmt den weißen Beinvogel wieder in die Hand. »Aus mangelndem Grundwasser möchte ich keine Weltanschauung ableiten. Nur daran erinnern, daß Ihr Missionar dazu beigetragen hat, eine Kultur zu zerstören! Er wollte ursprünglich auch gar nicht die Eskimos missionieren, sondern die ›Norweger‹, die Nachfahren der ersten Kolonisten. Als er keinen fand, wollte er nicht mit leeren Händen zurückkehren, die Bergen-Kompanie wartete auf Verbindungen! – also wandte er sich diesen Wilden zu, die schon für ein paar Glasperlen zu haben waren. In Egedes Gefolge wurden Menschen geraubt, nach Norwegen, Dänemark verschleppt, wie Tiere in Käfigen gehalten, auf Jahrmärkten herumgezeigt! In dreckigen Verschlägen – wo sie in ihrer Heimat zum Walfang Festkleider anzogen, weil die Wale keine Unreinlichkeiten vertragen – schon gar nicht den Dreck von den Ölbohrungen in der Disko-Bucht!«

»Ich sehe, Sie haben Hans Egede gelesen«, Brennhovd lächelt.

»Nur über die Grönländer, sein Missionieren hab’ ich übersprungen. Heimatkunde ist nicht mein Fach, ich unterrichte Englisch und Physik. Johannes Rink habe ich gelesen.«

»Ah, daher die Ausfälle gegen Egede. Sie wissen, daß die anderen Grönlandforscher die ehrenrührigen Behauptungen von Rink streng ablehnen, Louis Bobé zum Beispiel …«

»Ich brauche Rink nicht, um mir über Egede eine Meinung zu bilden, dazu genügen ein paar Seiten aus seinem Tagebuch.«

»Rink, die Eskimo-Sagen«, Brennhovd schüttelt den Kopf, als hätte er den letzten Satz von Prantl nicht gehört. »Wären Sie mein Praktikant, müßte ich Sie als aufmüpfig und arrogant bezeichnen. Ich sage nicht, untalentiert …«

»Ich bin nicht Ihr Praktikant.«

»Nein«, Brennhovd lacht. »Und Sie können sich begeistern. Haben auch einiges hinter sich«, er deutet auf Prantls verkürzte Hand.

»Es ist nicht der Rede wert und es geht Sie nichts an!«, Prantl geht. Dieser kalte Krieger, Halb-Witwer und verirrter Gottessucher bringt es jedesmal fertig, ihm die Zeit zu stehlen. Ist es die Sturheit oder die Einsamkeit? Wahrscheinlich beides, wie bei allen hier.

»Um Ihnen zu zeigen, was christliche Nächstenliebe ist«, Brennhovd hält ihn an, »eine zweite Wange, sozusagen«, er lacht, »möchten wir Sie zu einem pädagogischen Kongreß schicken. Deswegen wollte ich Sie sprechen. Ich kontrolliere nicht Ihre Stunde, was Sie vielleicht dachten …«

»Natürlich nicht«, Prantl grinst. »Wohin wollten Sie mich schicken?«

»Nach Österreich, Semmering.«

»Ich will nicht!«

»Es kann Ihrem Unterricht nicht schaden – neue Impulse. Ich wäre selbst gern gefahren, ich habe mich darum zwei Jahre bemüht.«

»Warum fahren Sie dann nicht?«

»Wegen meiner Frau. Sie wissen ja, sie ist krank, Doktor Poulsen meinte … Nun, es sollten auch die Jüngeren an die Reihe kommen. Ich werde jedenfalls aus Godthåb die Papiere anfordern, mich notfalls auch mit Kopenhagen in Verbindung setzen, wenn es sich verzögern sollte. Hier habe ich schon einen provisorischen Antrag … Jan Otakar Prantl, ist das richtig? Die weiteren Daten können Sie selbst ergänzen.«

»Ich will nicht nach Europa, ich war dort sieben Jahre nicht, es muß nicht sein.«

»Eben deshalb. Sie wollen hier doch nicht völlig vertrocknen, ständig allein! Einmal ist Abwechslung nötig, der Flug wird bezahlt.«

»Ich habe keine Lust.«

»Sie müssen keinen Vortrag halten, obwohl Sie dort eine Sensation wären. Aus Grönland – von so weit her! Vielleicht können Sie dort die Lektüre von Hans Egede nachholen«, Brennhovd lächelt. »Aber vor allem bringen Sie uns neue … Ideen. Wir setzen auf Sie!«

»Warum fährt nicht jemand aus Nuuk oder Narssaq?«

»Nuuk? Sie meinen Godthåb.«

»Ich meine Nuuk.«