Teil I: Vortrag

Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich sagen am Evangelischen Kirchentag bei einer Veranstaltung von Publik-Forum: Meine lieben Schwestern und Brüder!

Wo, wenn nicht bei einer Veranstaltung wie dieser, böte sich Gelegenheit, darüber nachzudenken, welch ­eine Rolle und Funktion der Religion in unserem Leben zukommen sollte. Die Frage ist ernster, als sie scheint, denn die Krise der institutionalisierten Frömmigkeit in Gestalt der verfassten Kirchen ist offenkundig. Umsonst, dass die Reformkatholiken froh wären, wenn sie 500 Jahre nach der Reformation nun doch endlich die Errungenschaften der evangelischen Kirche sich zu eigen machen dürften: Pastoren könnten heiraten, eine Wiederverheiratung von Geschiedenen wäre anzudenken, ebenso Frauen als Bischöfinnen! Es wäre nicht zu sagen! Doch wenn das alles durchgeführt wäre, fänden wir heraus, dass die gemeinsamen Probleme, dass die Krise des religiösen Bewusstseins im Abendland, in Deutschland ohne jede konfessionelle Grenze, überall, in aller Heftigkeit sich unverändert zu Wort meldet. Der Gründe dafür sind viele.

Man hat Religion bis in die Schulstunden, heute noch, eingesetzt zur Erklärung der Welt. Und die Stunde drauf, in Biologie oder Chemie, bricht ein ganzes Weltbild zusammen.

Man setzt die Religion immer noch ein zu einer quasi magischen Einflussnahme auf die Welt. Manche Spielfilme im deutschen Fernsehen machen die Menschen in Kirchenabsicht glauben, dass das Beten in diesem vergegenständlichten Sinne wirklich helfen wird: Flurprozessionen zu Fronleichnam, Kreuze an den Feldrainen gegen Misswachs und Ungeziefer, zur Vermehrung der bäuerlichen Produktion …, all das spiegelt eine Magie wider, die absolut obsolet geworden ist. So geht es nicht mehr.

Hat Religion wenigstens eine Aufgabe bei der sozialen Veränderung der realen Welt? Davon wird hier in Hamburg dieser Tage mannigfach gesprochen werden. Gerechtigkeit, Mindestlohn, Veränderungen zugunsten der Arbeitnehmer, die Interessen der Dritten Welt, Krieg und Frieden, Gleichstellung von Mann und Frau, Forderungen nach Kitas für die Kinder – alles Mögliche wird erörtert werden. Die Bundeskanzlerin wird es sich nicht nehmen lassen, der Bundespräsident ließ es sich schon nicht nehmen. Sie alle werden zur Erhaltung von Staat, Kirche und Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Und der Eindruck entsteht und soll auch wohl entstehen, dass wir, gerade die Christen, doch unseren Mitmenschen etwas zu sagen hätten, das uns unterscheidet. Die Ernstnahme der Ethik, die Gerechtigkeit, die Menschenwürde, an solchen Punkten wird es doch festzumachen sein. Vor allem wird der Eindruck erweckt, als wenn wir Christen nicht nur eine besondere Ethik hätten, sondern auch eine bessere Ethik als die Normalbürger und dass wir uns schon deswegen in der komfortablen Position befänden, anderen Lehren erteilen zu dürfen und zu müssen.

Das Ganze scheitert indessen nicht nur an der ­offenbaren Hybris dieses Ansatzes. Es ist vor allem ­erkennbar, dass alles missverstanden wird, wenn es dabei bleibt. Die Bergpredigt ist keine Ethik, keine Surplus-Moral, nichts, das man in Gesetzen verordnen könnte. Sie ist die Darstellung der Verhaltensselbstverständlichkeiten von Menschen, die inwendig frei geworden sind.

Da allerdings sind wir im Kern der Botschaft Jesu. Da, wenn überhaupt, müsste sich das Spezifische des Christlichen zeigen. Keine neue Religion, keine neue Dogmatik, aber eine Veränderung des Lebens von Angst zu Vertrauen, von Aggression zu Güte, hin zu Menschen, die mit sich in einem Raum absoluter Akzeptanz identisch geworden sind. Die können etwas, von dem ein bedeutender Theologe in Münster vor Jahren noch sagte, das könne man nicht befehlen. Zum Beispiel: Wer dich auf die eine Wange schlägt, dem halte noch die andere hin! Recht hat er natürlich. Aber solch eine Lehre ist nicht ein Peripheres in der Botschaft Jesu, es ist ihr ganzer Inhalt. Wie antwortet man auf etwas, das sehr wehtut und das erkennbar zu Unrecht zugefügt wurde? Man kann zurückschlagen, man kann sich wehren, man kann die Gesetze, vor ­allem das Strafgesetzbuch, in Anwendung bringen, man kann Recht haben und recht haben wollen. Doch genau dagegen setzt Jesus, dass damit niemandem geholfen ist in seiner wirklichen Not. Die sieht er bezeichnenderweise gar nicht so sehr bei demjenigen, der geschlagen wurde, sondern bei dem, der schlug: Was ging in ihm vor sich? Wieso kam er dazu? Wie konnte es geschehen, dass er ein bestimmtes Bild, das ihn zur Wut reizte, in Verbindung brachte mit einem ganz Anderen, mit Ihnen selber, die damit nichts zu tun haben? Erst wenn Sie das für ihn und mit ihm in Aufklärung bringen, hätten Sie den Konflikt gelöst.

Die ganze Überlegung Jesu geht nicht dahin, wie man sich durchsetzt, sondern wie man hilft.

Das Entscheidende: die Begriffe des Bürgerlichen Gesetzbuches fallen dahin – Gut und Böse, Tugend und Laster, Verdienst und Schuld. – Manchmal ist sogar das deutsche Fernsehen ein bisschen kongenial. Gestern Abend, durch Zufall, als ich darüber nachdachte, was ich heute Mittag sagen werde, kam mir die Hilfe auf ARD: Ein trockener Alkoholiker tauchte da auf, der einer gerade im Alkohol Ertrinkenden, als sie sich Vorwürfe macht, sie schädige ihre Tochter, das alles sei ihre Schuld, simpel sagt: »Schuld, das ist ein Wort, nur um sich und anderen wehzutun.« –

Wenn Sie auf dieser Stufe einmal angelangt sind, wird Ihnen die Sichtweise Jesu wie selbstverständlich. Es geht nicht mehr um Vorwürfe – die helfen ­sowieso nicht. Es geht um die Entdeckung der Hilf­losigkeit, der Verzweiflung, der Einsamkeit, der Sinn­losigkeit, der zerbrochenen Hoffnungen, die hinter ­allem Fehlverhalten stehen, es geht um die hilfreiche Reaktion auf ein Leben, das zerborsten ist. Wie man das, mühsam genug, aufsucht, begleitet und ans Ziel bringt, ist alles, wovon im Neuen Testament im Kern die Rede ist. Der theologische Begriff dafür lautet: Das Christentum ist eine Erlösungsreligion (und eben keine Gesetzesreligion).

Die ganze Schwierigkeit, die Botschaft Jesu zu vermitteln, besteht darin, die Weltsicht unserer Normalität so zu ändern, dass sie einer solchen Problem- und Aufgabenstellung gemäß ist. Dabei behilflich sein kann uns in der Tat ein wichtiger Teil der Weltliteratur. Es gibt in den großen Romanen den Versuch, gültig Schicksale so zu beschreiben, dass sie vom Rand des Ausgegrenzten zurückgeholt werden in die vertraute Normalität, sodass der Schicksalseinbruch Gegenstand unseres Mitgefühls wird und damit entzogen der Neigung zu verurteilen.

Sie lesen beispielsweise Leo Tolstois großen Roman »Anna Karenina«, und je länger Sie es tun, begreifen Sie, dass eine Ehebrecherin, eine Selbstmörderin schließlich, Ihnen viel, viel nähersteht als der scheinbar charakterfeste, stabile, mit den Ordnungen der Kirche und der Gesellschaft völlig konkordant lebende Herr Karenin. Er im Grunde enthüllt sich als die Ursache der Unlebendigkeit, der verweigerten Sehnsucht, des allmählichen Dahinsiechens seiner eigenen Frau. Der Roman beginnt damit, wie Anna im Familienkreis der Oblonskis versucht, eine beginnende Ehedramatik mit guten Worten zu schlichten, doch noch hat sie keine Ahnung, dass sie auf der Rückfahrt in dem Zug bereits jener Person begegnen wird, die die Erfahrung ihres ganzen Lebens ändern und umstürzen wird: Fürst Wronskij.

Leo Tolstoi, wie man weiß – das ist zaristisches Russland, das ist 19. Jahrhundert, und doch: es ist bleibend aktuell – so kann Literatur sein! Und Sie verstehen, dass, wenn Sie Theodor Fontane – Preußen, auch 19. Jahrhundert – lesen: »Effi Briest«, Sie in die genau gleiche Lektion geraten. »Ich«, spricht Effi über ihren Baron von Instetten, »hielt ihn für groß, aber er ist klein und deshalb grausam, wie alles, was klein ist, grausam sein muss.« Und schon sind Sie mitten in der Problematik: Wie sehr hat die uns beigebrachte Moral uns eingezwängt im Kleinsein, im Gehorsamsein, im Sich-Ducken, im Mitmachen, oder im strengen Urteil in der Größe unserer Beherrschung, unserer Selbstkontrolle, die all das ausschließt, was buchstäblich im Notfall Menschen brauchen würden.

Es gilt, Literatur so zu lesen, als wenn Sie Ihren engsten Freunden im Status der Betroffenheit zuhören würden. Und umgekehrt: Sie fangen an zu begreifen, dass, wenn irgend Sie einem Menschen ernstlich zuhören, es ist, als schlügen Sie einen Roman auf, als beträten Sie unsichtbar den Theatersaal zur Aufführung einer großen, ewigen Tragödie.

Das war die Entdeckung der Psychoanalyse um 1900, dass alles, was man einstmals gespielt hat am Fuße der Akropolis im 5. Jahrhundert vor Christus, im Grunde spielt auf dem Boden der Bühne unserer Seele und dass man die großen Stoffe psychologisch und existentiell aufgreifen und begreifen muss, damit sie nicht immer zum Unglück Einzelner, Ausgesetzter, ­gezwungen sind, sich zu wiederholen. – Es gibt zwei Möglichkeiten freilich, von vornherein den Weg, der sich so auftut und wie in eine schroffe und gefahrvolle Gebirgslandschaft hineinführt, zu verweigern. Das kann geschehen zum einen mit der Normalerklärung, Menschen verfügten über die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse, und täten sie das Böse, so müssten sie halt auch die Folgen ihres Handelns ernten. Dieser ethischen Tradition, der wir bis heute praktisch folgen, steht paradoxerweise in der Ablehnung, die Tragödien des menschlichen Lebens als Anfragen an uns selbst zu begreifen, eine Aufforderung zu einem eher gemütlichen und genussreichen Leben gegenüber, wie wir es gleichermaßen lieben. Beide Anschauungen lassen sich festmachen an zwei ehrwürdigen Namen, die jenseits der Jahrtausende höchst aktuell bis in die Gegenwart die Normalität unseres Bewusstseins wiedergeben. Die eine stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus und trägt den Namen Epikur. Die andere stammt aus dem 1. Jahrhundert nach Christus und trägt den Namen Seneca. Sie brauchen indessen nicht viel Philosophiegeschichte zu treiben, um das zu verstehen – es geht um zwei Lebensbetrachtungen, die uns überaus geläufig sind.