Über den Autor

Hubert Schirneck wurde in Gera geboren und lebt heute als Schriftsteller in Weimar. Er schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene sowie Geschichten für den Rundfunk. Seine Arbeiten wurden bereits in vierzehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. www.schirneck.de

Über die Illustratorin

Sonja Bougaeva wurde 1975 in Sankt Petersburg geboren und lebt heute in Hamburg. Sie hat Kunst und Illustration studiert und eine Ausbildung zur Trickfilmanimatorin absolviert. Für ihre Arbeiten wurde sie u.a. mit einer Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Hubert Schirneck

Typisch Bär!

Geschichten zum Vorlesen

Mit Illustrationen von Sonja Bougaeva

BASTEI ENTERTAINMENT

Für die Winterschläfer

Inhaltsverzeichnis

  1. Ein Apfel kommt selten allein
  2. Ihre Majestät, die Feldmaus
  3. Der Honigtopf und andere Sternbilder
  4. Süßer als die Rache
  5. Abschied
  6. Der lange Weg zum Löwen
  7. Koffer im Wald
  8. Auf dem Hügel
  9. Fliegen lernen
  10. Ameisen
  11. Die Kunst des Winterschlafs
  12. Der schwere Brief
  13. Das Deckentier
  14. Ein moderner Bär
  15. Die Stimme
  16. Nachtrag

Ein Apfel kommt selten allein

Zugegeben, ein bisschen verrückt war der Bär schon. Viele behaupteten, es läge daran, dass er ein Radio besaß. Mit dem Radio konnte er Nachrichten aus der ganzen Welt empfangen und er hörte viele interessante Dinge. Seine Freunde glaubten, dass ihm das Radio Flausen in den Kopf setzte. Jedenfalls steckte er immer voller Ideen. Es gab tausend seltsame Dinge auf der Welt, über die er nachdenken musste. Und wenn er wieder einmal grübelnd durch den Wald ging und nichts hörte und nichts sah, dann sagten die anderen: »Typisch Bär«, und gingen kopfschüttelnd weiter.

»Was haben die nur?«, brummte der Bär. »Schließlich bin ich ein Brillenbär. Wir sind von Natur aus anders als andere Bären. Irgendwie bäriger. So ist das nun mal.«

Damit hatte er total und vollkommen recht. Ein Brillenbär war er aber nicht, weil er eine Brille trug (seine Augen waren in Ordnung). Ein Brillenbär war er, weil sein Fell im Gesicht so aussah, als würde er eine tragen.

Eine besondere Vorliebe hatte er für Sprichwörter und Redewendungen. Wenn er ein Sprichwort hörte, dann schrieb er es sofort auf einen Zettel, um es nie, nie wieder zu vergessen. Sofort bedeutete: Er holte sich erst einmal etwas zu trinken, damit er sich besser konzentrieren konnte. Dann setzte er sich an den Tisch, suchte unter den vielen Zetteln, die den Tisch bedeckten, einen, der noch leer war, räusperte sich vernehmlich und murmelte: »Äh ... wo ist denn der Bleistift?«

Wenn er den Stift gefunden hatte, stellte er im Allgemeinen fest, dass die Spitze abgebrochen war. Also spitzte er ihn, setzte sich umständlich in Positur und begann zu schreiben. Oft hatte er in der Zwischenzeit das halbe Sprichwort schon wieder vergessen oder er vermischte die Sprichwörter miteinander. Auf einem der Zettel stand zum Beispiel: Morgen isst auch noch ein Tag. Ein Sprichwort, das jeder kennt, aber das der Bär nie so recht verstand, denn er hatte isst aus Versehen mit Doppel-S geschrieben. Er wusste nicht, ob der Tag lieber Obst isst oder Fleisch. Oder ob er selbst kocht oder ins Restaurant geht.

Manchmal stöberte der Bär in all den Zetteln und fand ein Sprichwort, das er schon längst wieder vergessen hatte. Zum Beispiel dieses: Ein Apfel kommt selten allein.

Was mochte das wohl bedeuten? Dass Äpfel besonders gesellig sind? Dass ein Apfel nie allein aus dem Haus geht? Der Bär verstand das alles nicht, aber was machte das schon? Es war ein schöner Satz und darauf kam es schließlich an. Also machte er ihn zu seinem Lieblingssatz und benutzte ihn sogar, um seine Freunde zu begrüßen. Wenn er jemandem begegnete, sagte er nicht »Guten Tag« oder »Hallo« oder »Na, heute schon was gegessen?«, sondern er sagte: »Ein Apfel kommt selten allein.«

Die anderen schüttelten dann jedes Mal die Köpfe und seufzten: »Typisch Bär!«

Der Bär war überzeugt, dass dieses Sprichwort einen tieferen Sinn hatte. Er beschloss, ihn herauszufinden. Aber wie? Natürlich: Zuerst musste er die Gewohnheiten der Äpfel erkunden. Der Zufall wollte es, dass zwei Lichtungen weiter ein Kornapfelbaum stand. Das ideale Studienobjekt. Dachte der Bär. Er saß nun stundenlang dort und beobachtete die Äpfel. Die taten aber nicht viel. Sie hingen am Baum und sonst nichts. Manchmal bewegten sie sich ganz leicht im Wind, so leicht, dass man es kaum bemerken konnte. Nur wenn man sehr genau hinsah. Vielleicht bezog sich das Sprichwort gar nicht auf Kornäpfel, sondern auf andere Äpfel, überlegte der Bär.

Er hätte jemanden fragen können, zum Beispiel die kluge Luise, aber das fand er unter seiner Würde. Schließlich war er der Experte für Sprichwörter und niemand sonst.

Das Beobachten war ziemlich anstrengend und machte ihn müde. Manchmal nickte der Bär auf der Wiese ein, schreckte später hoch und murmelte: »Ist was passiert? Hm, sieht nicht so aus.«

Trotzdem wollte er, wie sich das für einen richtigen Forscher gehört, seine Beobachtungen zu Papier bringen. Er spitzte den Stift und schrieb: Der Apfel. Und darunter: Beobachtungsobjekt: Kornapfelbaum. Beobachtet: drei Tage lang. Ergebnis: Der Apfel an sich hängt am Baum, genauer gesagt an einem Ast, der zum Baum gehört. Leichte Bewegungen durch Wind. Sonst nichts Auffälliges.

Der Bär las sich das Geschriebene noch einmal durch und kam zu dem Schluss, dass er seine Beobachtungen wohl noch eine Weile fortsetzen musste.

Eines schönen, federleichten Morgens traf er seinen Freund, den Löwen.

»Ein Apfel kommt selten allein«, grüßte ihn der Bär fröhlich.

»Aber wer«, sagte der Löwe, »wer von uns beiden ist denn ein Apfel? Niemand, siehst du. Ein Apfel kommt auch nicht, nicht mal zu zweit oder zu dritt. Ein Apfel fällt höchstens, wenn er reif ist, vom Baum. Dann aber allein.«

»Das ist doch nur ein Sprichwort«, sagte der Bär sanft. Diesem Löwen musste man aber auch wirklich alles erklären.

»Ich habe mich erkundigt«, erwiderte der Löwe. »So ein Sprichwort gibt es gar nicht. Du hast da wohl was Falsches gehört.«

»Ach ja?«, fragte der Bär. »Und bei wem, wenn ich fragen darf, hast du dich erkundigt?«

»Bei Luise.«

»Bei Luise?«

»So ist es.«

Der Bär war beeindruckt, und das sah man ihm an. Luise war die Freundin des Löwen, und sie war ziemlich klug, obwohl sie kein Radio besaß.

Aber was war jetzt mit dem Sprichwort? Hatte das Radio ihn etwa belogen? Sein Radio?

»Ganz bestimmt nicht«, sagte der Löwe. »Vielleicht hast du dir das Sprichwort nur falsch gemerkt, ganz sicher sogar. Irgendwas verwechselt oder so.«

Die Angelegenheit war dem Bären peinlich.

Er sagte ernst: »Lieber Freund, ich danke dir für dieses nette Gespräch. Muss jetzt nach Hause. Habe zu tun.«

Der Bär machte sich auf den Heimweg. Sein Sprichwort – falsch? Haha! Unmöglich! Wie sollte es denn sonst lauten? Vielleicht Ein Apfel kommt immer allein oder Ein Apfel fällt nach oben oder Zwei Äpfel sind noch keine Fußballmannschaft?

Blödsinn, dachte der Bär.

Am nächsten Tag war er sich nicht mehr sicher, ob Luise wirklich unrecht hatte. Er beschloss, dass die Sache mit den Äpfeln ein für alle Mal ein Ende haben sollte. Es wurde Zeit, einen anderen Lieblingssatz zu finden. Er betrachtete seinen Zettelberg und suchte sich ein anderes Sprichwort heraus, das dort bereits ein Jahr oder länger herumlag.

Zufrieden mit seiner Entscheidung, machte er sich auf einen kleinen Erkundungsgang in die nähere Umgebung. Er wollte erkunden, ob sich da oder dort ein paar Brombeeren finden ließen.

Als er später eine Ente mit ihren acht Kindern traf, sagte er beiläufig: »Ein Unglück fällt nicht weit vom Stamm.«

»Typisch Bär!«, schnatterte die Ente und glitt leise plätschernd in den Tümpel, in dem sie wohnte.

Die kleinen Enten – kaum ein paar Wochen alt – folgten ihr, schön eine nach der anderen. Sogar sie schnatterten mit ihren hellen Stimmchen: »Typisch Bär!«

»Dumme kleine Federtiere«, murmelte der Brillenbär. »Aber was will man schon erwarten von solchen, die im Wasser leben und kein Radio und keine Sprichwörter besitzen? Die haben ja nicht mal Pranken.«

Er verzog sein Brillenbärengesicht, drehte sich um und schlurfte nach Hause.

Ihre Majestät, die Feldmaus

Lieber nur die Hälfte hören als gar kein Radio!