Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexø am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.
Gratwanderung zwischen Katastrophe und Glück
Der Autor von »Peller der Eroberer« und »Ditte Menschekind« hat im Laufe seines Lebens an die neunzig Geschichten geschrieben. Die »Bornholmer Novellen« sind seine populärste Sammlung. In seiner unverwechselbaren, bildhaften Sprache erzählt er von Menschen, die »etwas von der Weltumdrehung im Blut haben«, von Alten und Jungen, Abenteurern und Seßhaften, Seefahrern und Dörflern, die das gewalttätige Leben hinnehmen wie eine Naturkatastrophe.
Andersen Nexø kannte die Insel und seine Bewohner wie kein anderer. Hier hatte der gebürtige Kopenhagener seine Kindheit und Jugend verbracht. Besessene sind es, die Fischer und Bauern von Bornholm. Kopfüber stürzen sie sich in den Lebensstrudel, denn die ungestüme Natur hat sie gelehrt, für eine Brise Glück alles zu riskieren.
»Auf Glück war todsicher zu hoffen, auf berauschendes Glück, entsprechend mit Sorgen gemischt, um den Lebensappetit zu verschärfen. In diesem Augenblick tönte ihm das Licht wie eine Fanfare, der blaue Himmel wie ein Hymnus auf das Leben.«
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Bornholmer Novellen
Aus dem Dänischen übersetzt
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Über Martin Andersen Nexö
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Fränke
Übersetzt von Emilie Stein
Schicksal
Übersetzt von Emilie Stein
Bigum Holzbein
Übersetzt von Ellen Schou und Karl Schodder
Der Todeskampf
Übersetzer unbekannt
Zwei Brüder
Übersetzer unbekannt
Der Lotterieschwede
Übersetzt von Martin Andersen Nexø
Wenn die Not am größten
Übersetzt von Emilie Stein
Der Hufschmied von Dyndeby
Übersetzt von Emilie Stein
Impressum
Ein dicker, behaarter Arm kam unter dem schweren Oberbett hervor, faßte die Bettkante und stemmte den wuchtigen Körper empor. Bett und Boden knackten unter dem Gewicht, und durch die Bretter der Stubendecke rieselte Staub herab; sie schob die Unterlippe breit vor und pustete über das Gesicht, um ihn zu entfernen.
Hockend saß sie da und starrte gedankenlos in das Dunkel, gähnte einige Male langgezogen und schmatzte mit den breiten Lippen. Sie sann darüber nach, warum sie eigentlich aufgewacht war. Die Laterne draußen auf der Straße brannte noch, es konnte also nicht einmal Mitternacht sein. Oder war es etwa doch die Zeit, um die sie aufzustehen pflegte? Schläfriger als sonst war sie ja nicht. Der Laternenanzünder war vielleicht gestern abend betrunken gewesen und hatte vergessen, das Licht auszulöschen.
Aus dem Stroh unter dem Kopfpolster scharrte sie die Streichhölzer hervor und zündete eins an, um zu sehen, wieviel Uhr es sei. Halb zwölf! Sonderbar, daß sie so früh munter geworden war, wo sie doch sonst nie vor fünf aufwachte, außer wenn sie sich’s bestimmt vornahm. Hatte sie am Ende gar nicht geschlafen?
Ob der Mieter inzwischen heimgekommen war? Sie hatte ihn nicht durch die Stube gehen hören. Also hatte sie wohl doch geschlafen? Ja freilich, geschlafen hatte sie. Und der Alp hatte sie gedrückt, obwohl ihre Schuhe so vor dem Bett standen, wie sie stehen sollten: mit den Spitzen nach außen. Sie hatte so garstig geträumt – daß man sie mit Petroleum übergoß und anzündete.
Sie fror im Rücken und kroch unter die Decke zurück, um weiterzuschlafen, aber wieder tauchte die Frage nach dem Mieter auf. War er am Ende doch daheim? Leise stand sie auf, stahl sich im bloßen Hemd zu seiner Tür und lauschte. Es war kein Schnarchen zu hören, und aus dem Schlüsselloch fiel kein Licht. Da, nun wußte sie es, sie hatte abends nachgedacht, um welche Zeit er eigentlich heimkomme. Sie machte leise die Tür auf und sah hinein: Er war nicht da – gottlob! Ganz mechanisch zog sie sich an: Unterröcke und Kleid, gestrickte Jacken und Tücher. Während des Ankleidens wurde sie nach und nach steif und unbeholfen; sie pustete schwer, und zwei lange weiße Dampfstreifen zogen aus ihren Nasenlöchern in den feuchtkalten Raum. Zuletzt hüllte sie sich den Kopf mehrmals ein, so daß nur die Augen frei blieben, steckte ein Bund Schwefelhölzer zu sich, löschte das Talglicht aus und ging fort.
Es war Frost und Windstille, die Sterne funkelten wie fröhliche Kinderaugen um ein Feuer, und zur Rechten über dem See lag eine dünne singende Decke – das erste Eis. Auf der anderen Seite ruhte das Meer und schickte von Zeit zu Zeit eine lange Dünung über die Ufersteine herein. Es klang wie das Atmen der schlafenden Vorsehung.
Fränke nahm den Weg, der aus dem Ort hinausführte. Sie hatte die Bettwärme noch in sich und zog die Luft wie eine Schlafende langsam und hörbar ein. Nur auf das eine achtete sie: sich stets in Dunkeln längs der Häuserreihe zu halten; sonst schlief alles in ihr.
Am Bach setzte sie sich aus alter Gewohnheit nieder, zog Stiefel und Strümpfe aus und knüpfte sie in ein Tuch. Dann ging sie mit bloßen Füßen auf der Landstraße weiter. Ihr Tritt war breit und derb, ihre Gestalt bewegte sich während des Gehens langsam auf und nieder wie ein Stempel – ein großer, schwer arbeitender Stempel, der lieber alles auf seinem Weg zermalmen als seitwärts ausbiegen würde. Die gefrorene Erde brannte ihr in den Fußsohlen, aber sie trat fest auf, und bald wurden sie warm.
Bald erreichte sie den schwarzen Fichtenwald. Ein langer gerader Pfad führte durch ihn hindurch, eine tiefe Spalte mit einem Band matten Himmels darüber. Es war pechfinster da drinnen und ein endloses Sausen und Flüstern von den Baumwipfeln. Sie hörte es und wußte, was es bedeutete, denn sie war abergläubisch. Aber sie fürchtete sich nicht.
Drinnen stand sie plötzlich still. Sie hatte beim Aufstehen das Talglicht ganz unter das Bett gehalten, um die Stiefel hervorzusuchen. Wie, wenn nun das Bettstroh Feuer gefangen hätte? Sie setzte sich auf das Moos, um darüber nachzudenken. Aber sie dachte gar nicht darüber nach, dachte überhaupt an nichts, als erwarte sie von außen her die Entscheidung, ob das Bett Feuer gefangen hatte oder nicht. Irgendwo tief in ihr, jenseits von Vernunft und Überlegungen, arbeitete es jedoch; ihre Hände holten die Streichhölzer hervor, schütteten sie in den Schoß und zählten tastend nach. Es waren dreizehn. Dreizehn war eine böse Zahl – am besten, man strich eins an. Es flackerte auf und warf ein rasches Licht um sich; dicht herum standen die nackten, geraden Fichtenstämme Seite an Seite wie die Orgelpfeifen in der Kirche. Als das Schwefelholz erlosch, überkam sie plötzlich ein Verlangen nach Feuer, und sie kroch auf allen vieren unter den Fichten herum, sammelte Nadeln und Zapfen und trug sie zu einem Haufen zusammen. Während das Feuer flackerte und knisterte und ihren Schatten nach allen Seiten hinaus- und emporwarf, ihn zusammenfaltete und wieder aufrollte wie ein mächtiges schwarzes Flügelpaar, saß sie unbeweglich da und starrte ohne Ausdruck und ohne Gedanken in die Flamme hinein, bis diese erstorben war.
Und wieder war sie auf der Wanderung, halb schlafend wie vorhin. Ab und zu erwachte sie und wunderte sich, daß sie diese und jene Stelle schon passiert hatte, ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein. Und wieder versank sie.
Ein Wagen kam herangesaust. Der Hufschlag der Pferde sang auf der gefrorenen Landstraße, und der Schall fuhr in langen Rillen über das dünne Eis des Moores. Das Moor pfiff vom einen Ende bis zum anderen, gurgelte im Schilf und gab ein langes, zitterndes Gekreisch von sich. Rasch stieg Fränke in den Straßengraben hinunter, warf sich hinter einige Schlehenbüsche und blieb dort liegen, bis der Wagen ein gutes Stück vorbei war. Der Doktor – oder die Hebamme, dachte sie, und bei dem letzten Gedanken verzog sich ihr Gesicht träge zu einem schwachen Grinsen.
Wieder rückte das Meer näher, diesmal mit weißem Sandufer. Sie war bereits weit südwärts über Land gewandert, fort von den Felsen. Nun verließ sie die Straße und schritt auf den Sand hinunter; es ging sich hier so fest und behaglich. Da und dort lagen hochgezogene Boote kieloben. Unter einem schlief ein Mann; sie hörte ihn stöhnen. Er war wohl betrunken!
An einer Stelle mündete ein Bach; dort war die Sprengelgrenze. Sie watete durch die breite Mündung und bog in die Dünen ein. Ihre Füße waren jetzt kalt und empfindlich vom Waten, und das Strandgras schnitt sie; sie mußte sich setzen und Strümpfe und Schuhe wieder anziehen, ob sie dies auch sehr über ihre Verhältnisse dünkte.
Landeinwärts der Dünen lagen von hohen schwarzen Pappeln überschattete Höfe und Häuser. Überall war man zur Ruhe gegangen. Sie hörte das Vieh in den Ställen mit den Ketten rasseln, und an einem Stall stand die Hintertür offen; man war drinnen eben dabei, eine Kuh zu entbinden. Zwei Männer standen da, die Füße gegen den Boden gestemmt, und zogen an einem Seil, das um Kopf und Vorderbeine des Kalbes gelegt war; die Kuh sträubte sich, um nicht mit hinuntergezogen zu werden. Da heißt es wohl Pferdekraft gebrauchen, ehe es gelingt, die Kuh zu entbinden, dachte Fränke. Fünische Rasse war es, soviel sie im Vorbeigehen hatte sehen können. Natürlich war das Tier erkältet; dieses fremde Vieh konnte ja das Klima nicht vertragen. Die Bauern sollten sich doch lieber an das heimische Vieh halten – das sollten sie! Aber heutzutage war ja alles auf das Fremde erpicht.
Hinter den Hügeln lagen der Reihe nach drei Höfe, schiefe, verfallene Fachwerkgebäude mit Düngerhaufen auf allen Seiten. Hier war das Ziel ihrer nun bald dreistündigen Wanderung.
Das nachlässige Schleppen verschwand nun aus ihrem Gang; sie kam langsam zum Bewußtsein und schritt vorsichtig weiter, den großen Körper behend hin und her werfend. Ein Zaunstecken packte ihr Kleid und riß einen Stein mit. Sie blieb stehen, und ihr entfuhr unwillkürlich ein beschwichtigendes Tuscheln. Ein kurzes Anschlagen des Hundes aus dem Innern des Hofes war das einzige, was sich rührte.
Sie lauschte ein wenig, ging dann vorwärts, schlich um alle vier Ecken des Gehöftes und prüfte die Außentüren. Sie waren alle von innen versperrt. Es war ziemlich finster jetzt, aber sie kannte jede Einzelheit und ging ruhig weiter. An dieser Ecke lag gewöhnlich ein Pflug – richtig, da lag er auch dieses Jahr. Bruder Jens sollte doch sein Gerät im Winter hereinnehmen; da lag es nun und verrostete. Und hier war der Pferdegöpel – gerade so, daß man darüber stolpern mußte, wenn man es nicht wußte. Und ein wenig weiter vorn der Sumpf von Stalljauche. Man könnte kaum allein wieder herauskommen, falls man hineingeriete. Genau unter der Dachtraufe gab es freilich eine Steinkante, auf der man schlimmstenfalls balancieren könnte. Aber die gebrauchten sie für ihre Notdurft, ja, das taten sie! Daß sie sich dafür nicht ein Häuschen anschaffen konnten!
Dann stand sie vor dem Hoftor und faßte ganz leise nach dem Schloß; aber der Kettenhund fing sogleich heftig zu bellen an, und sie mußte es aufgeben! Ob der Hund wohl die Leute geweckt hatte?
Nun schlich sie in den Garten und zum Schlafstubenfenster hin, um zu horchen; sie legte das Ohr an die niedrige Scheibe und lauschte – alles ruhig da drinnen. Sie konnte sie atmen hören: lang hinein und in Stößen wieder heraus – sie schliefen. Das langgezogene Rasseln, das war der Alte – er hatte Schleim auf der Brust. Und dieses Schnarchen, das wie ein angstvolles Stöhnen klang, war Jens; das hatte er schon als Knabe gehabt, als sie noch in einem Bett schliefen. Da lag er dann mit offenem Mund auf dem Rücken und wurde am besten geweckt, sonst setzte der Alp sich auf seine Brust und wollte ihn schier ersticken. Wenn nur Gjarta es nicht hörte und ihn weckte; Fränke hatte sie ja selbst in das Verfahren eingeweiht, damals, als sie heirateten … Nein, jetzt drehte er sich um, schlief auf der Seite weiter; sie hörte es knacken, und sein Schnarchen beruhigte sich. In dem alten Vater pfiff es wie in einem keuchenden Roß; bald bekam er wohl den Husten und weckte das ganze Haus; es hieß sich sputen! Nun konnte er ja übrigens mit der Nase nach oben liegen und Landluft schnappen, der arme Tropf.
An der Ecke des Wohnhauses blieb sie stehen, die Schwefelhölzer in der Hand. Der Dachvorsprung reichte bis zu ihrem Gesicht herab; gut trocken war er. Es war nur nicht günstig, von draußen anzuzünden; es konnte entdeckt werden, ehe es richtig brannte.
Sie wollte eben ein Schwefelholz anzünden, da fiel ihr der Schweinestall ein. Dort war eine Falltür, die die Schweine selbst aufschoben, wenn sie hinaus und herein wollten.
Sie schlich sich dorthin, arbeitete sich über den niedrigen Drahtzaun des Schweinehofes hinüber, hockte sich auf alle viere und kroch in die Öffnung hinein, während sie die Falltür vor sich mit der Stirn aufstieß. Die Tür scheuerte über ihren Rücken, fiel hinter ihr zu, schlug ihr hart auf die Fersen und hing und schwang weiter. Es war schlammig da drinnen – der Unrat ging ihr bis über die Handgelenke hinauf –, und es herrschte ein warmer, angenehmer Duft von vielen Schweinekörpern. Sie stieß im Dunkeln an ein Schwein; es grunzte behaglich und streckte die Beine von sich, der ganze andere Haufe schnarchte. Und sie grunzte im Weitergehen zurück, um die Schweine zu beruhigen.
Dann erhob sie sich; Spinngewebe und Stroh strichen über ihr Gesicht. Sie tastete vor sich hin – richtig! Der Heuboden war noch da wie in alten Tagen, als sie und Jens Fangen und Verstecken gespielt hatten. Rasch strich sie ein Schwefelholz an und hielt es zum Heu empor. Das Feuer bohrte sich ein wenig in das trockene Futter ein, wandte sich zurück und schleckte unter dem Heuboden weiter, bis es eine lotrechte Kante erreichte, dann flackerte es auf. Sie schickte einen inspizierenden Blick im Schweinestall herum und sah bei dem wachsenden Flammenschein zehn Ferkel aus einem Wurf, wovon eines eine Mißgeburt war. Sie lagen der Reihe nach aufeinander wie Würste. Und sie kroch auf dem Weg, den sie gekommen war, wieder hinaus.
Draußen überfiel sie eine plötzliche Ratlosigkeit; sie lief ein paar Schritte nach der einen Seite, hielt inne und lief nach der anderen, stand wieder ein wenig und setzte dann rasch über den Acker hin zum Nachbarhof. Auf die Stallmauer gestützt, watete sie längs des Düngerhaufens über das Gras. Ab und zu blieben ihre Füße im Morast stecken. Sie schlich nicht mehr, sie hatte alle Vorsicht fahrenlassen, stampfte bis zum Schlafkammerfenster und klopfte an.
»Wer da?« fragte drinnen eine schläfrige Stimme.
»Es brennt drüben bei Jensens«, erwiderte sie und lief davon. Dann hockte sie droben auf dem Risbyberg und starrte, das Kinn in die Hände gestützt, auf die Feuersbrunst hinunter. Rote Flammen brachen plötzlich da und dort aus dem Dach, schleckten tastend wie Zungen in die Luft, verschwanden und kamen mit vielen andern im Gefolge wieder; große brennende Heuflaggen jagten senkrecht in die Luft hinauf, knisterten und zerstoben in Feuerregen. Sie aber saß unbeweglich und starrte, und nicht ein Zug regte sich in ihrem Steingesicht. Nur als sie sah, wie ein alter gichtbrüchiger Mann zum Nachbarhof hinübergeführt wurde, nickte sie schwach.
Sie saß da und starrte hin, die Ellbogen auf den Knien und das Kinn in die Hände gestützt, kalt und klamm und leblos anzuschauen, als sei sie aus grauem, feuchtem Lehm geformt; saß da und starrte hin, bis der Brand beinahe vorbei war. Dann knüpfte sie Strümpfe und Stiefel wieder in das Tuch und wanderte die zwei Meilen heim.
Und in der Morgendämmerung, als der Mieter durch ihre Kammer ging, um sich zur Arbeit zu begeben, lag sie, die Nase in der Luft, im Bett und schnarchte sorglos; groß und vierschrötig und dumm – wie das Schicksal selbst.
Das Brandverhör ergab vorläufig nur so viel, daß kein Grund vorhanden war, den Eigentümer Jens Madvig festzunehmen. Er hatte ganz offenbar das Feuer nicht gelegt, darin stimmten alle überein. Wodurch es übrigens entstanden war, schien ein Rätsel; der Amtsrichter neigte zu der Ansicht, es wäre eine Selbstentzündung des Heus gewesen.
Das Zusammenhalten, das bei den bornholmischen Bauern Sitte ist, zeigte sich sofort. Sie erschienen unverzüglich mit Leuten und Pferden auf der Brandstätte und begannen den Platz abzuräumen. Die Insassen des Hofes und das wenige Vieh, das den Flammen entkommen war, verteilten sie unter sich und fuhren täglich Bauholz und Steine aus der Stadt für den Wiederaufbau heran. Die Gebäude und das Inventar waren mit fünfunddreißigtausend Kronen versichert.
Inzwischen hatte das Gerücht es eilig. Wie ein rastloser Vogel flog es von Ort zu Ort, senkte sich und erhob sich wieder, bis es sich endlich irgendwo niederließ und sitzen blieb.
Es war eine bekannte Sache, daß zwischen Jens Madvig und seiner Schwester Fränke – Karl Kofods Witwe – ein sehr gespanntes Verhältnis herrschte. Die Uneinigkeit war wegen des Vaters entstanden. Jens kam nämlich ungefähr um dieselbe Zeit, als seine Schwester Witwe wurde und sich ein Häuschen in der Kleinstadt kaufte, »von draußen« heim (er hatte auf Fünen gedient) und übernahm den Hof. Sogleich gab es Streit zwischen ihnen, wer von beiden den Vater zu sich nehmen sollte. Der Alte bezahlte ja, und Jens meinte, er könne die Erleichterung in den Abgaben wohl brauchen, die ihm der Aufenthalt des Alten auf dem Hof einbringe. Aber Fränke hatte auch nichts dagegen, die vierhundert Kronen jährlich für den Vater zu bekommen. Sie hatte zwar vierzigtausend Kronen als Erbe von ihrem Mann, aber von dem Geld stand ungefähr die Hälfte auf dem Hof der Tochter und trug nicht allzuviel Zinsen; der Schwiegersohn lebte ausschweifend, und Fränke mußte froh sein, daß er überhaupt auf dem Hof blieb, wenn es auch manchmal Zuschüsse erforderte. Sie hatte trotzdem ihr Auskommen, aber vierhundert Kronen waren es immerhin wert, mitgenommen zu werden – eine schöne Beihilfe für unvorhergesehene Fälle. Zudem fühlte sie sich nach ihres Mannes Tod und der Heirat ihrer Tochter vereinsamt; sie hatte übrigens auf ihre Art sehr an dem Alten gehangen. Sie setzte daher alles auf Krieg, und dieser endete denn auch vorläufig damit, daß der Alte mit ihr in die Stadt zog.
Allein er vermochte sich dort nicht zurechtzufinden. Er verfiel rasch, nachdem er auf den Hof verzichtet hatte; ihm fehlten die gewohnte Umgebung und die Beschäftigungen eines ganzen Lebens, die ihn hätten aufrechterhalten können. Bald war er so schwach, daß die Beine ihn nicht mehr trugen; er saß in einem Korbsessel und hustete und wimmerte, daß er wieder auf den Hof zurück wolle.
Fränke stritt verzweifelt dagegen, und jeden Tag, wenn gutes Wetter war, trug sie den Alten im Stuhl auf die Stadtwiese hinaus, damit er das Grüne und die Kühe sähe.
Aber nach ein paar Jahren zog er doch wieder zum Sohn. Seitdem waren wieder einige Jahre vergangen, und man wußte bestimmt, daß Fränke in all der Zeit keinen Fuß auf den Hof gesetzt hatte, obwohl es sie nach dem Vater verlangte. Sie hatte wohl so halbwegs gehofft, daß er zurückkommen würde; es verlautete nämlich, daß sie sich draußen seiner nicht richtig annähmen, sondern ihn verwahrlosen ließen. Aber der Alte zog nicht zu ihr zurück.
Und zu alledem kam noch das mit der Stimme, die der Vetter auf dem Nachbarhof nachts gehört und die gesagt hatte: »Es brennt bei Jensens!« So vertraulich konnte kein Fremder sprechen! Zuerst glaubte man wie der Vetter, es sei ein Geist gewesen; aber nach und nach kamen den Leuten Zweifel an dieser Deutung, denn es fanden sich an der Mauer längs des Düngerhaufens Fußspuren, die sich bis zum Schlafkammerfenster verfolgen ließen. Es mußte ein richtiger, lebendiger Mensch gewesen sein, noch dazu einer mit Weiberstiefeln.
Aber dort, zwischen Mauer und Düngerhaufen, konnte nur einer gehen, der ortskundig war, denn von der Mauer war es nur eine Elle Breite bis zu der grundlosen Düngerlache – und dazu war es dunkle Nacht gewesen. Endlich konnte auch der Mieter drei Finger in die Höhe strecken und beschwören, daß Fränke nicht zu Hause gewesen war, als er um Mitternacht heimkam.
Dies alles wurde vom Gerücht bearbeitet, bis es eine zusammenhängende Geschichte von Haß und Rache wurde, und Jens Madvig erhielt sie zur Bestätigung vorgelegt. Er aber erklärte das Ganze rundweg für Weibergewäsch und Unsinn. Natürlich, er war ja trotz allem ihr Bruder; und wie es auch ging, er bekam jetzt einen neuen Hof und verdiente noch ein hübsches Stück Geld dazu – dank der Hilfsbereitschaft der Bauern.
Der Versicherungsagent hörte diese Gerüchte ebenfalls und griff die Geschichte im Interesse seiner Gesellschaft auf; und eines Tages hieß es dann, Fränke sei verhaftet.
Mit ihr kamen sie aber nicht weit. Während der Verhöre stand sie mit unerschütterlichem Ernst da, verzog keine Miene und beantwortete nicht eine einzige Frage. Sie wurde dem Bruder gegenübergestellt, aber das machte nicht den geringsten Eindruck auf sie; ihr Gesicht konnte nicht härter werden, als es war.
Der Bruder seinerseits erklärte, direkt entgegen dem Dorfklatsch, daß sie keinen Streit miteinander hätten. Sie wären immer besonders gut miteinander ausgekommen und es läge ihm fern, einen Verdacht gegen sie zu hegen! Der Vetter wurde ebenfalls vorgeladen, hielt aber mit einfältiger Miene an seinem Geist fest. Und als er gefragt wurde, ob er die vertrauliche Stimme erkannt habe, antwortete er bestürzt: »Nein, gottlob, man hat doch keinen Verkehr mit Gespenstern und solch unchristlichem Volk. Unberufen!« Und er klopfte dreimal unter die Schranke und sah den Amtsrichter ernsthaft an. Auch der Mieter wurde vorgenommen. Er konnte aber nur sagen, daß Fränke nicht zu Hause gewesen sei; wo sie sich aufgehalten habe, davon könne er ja keine Ahnung haben.
Ob sie sich denn nicht in irgendeiner Weise über ihre Abwesenheit geäußert habe?
Nein, sie gehöre nicht zu den Leuten, die über ihre Angelegenheiten schwätzten; der Amtsrichter würde schon wissen, wie wortkarg sie sei. Der harmlose Amtsrichter nickte zustimmend, während der Gerichtsschreiber und die Beisitzer einander ein bißchen boshaft anblinzelten.
Man nahm einen ihrer Stiefel und versuchte, ihn in die tiefen Abdrücke längs des Düngerhaufens zu stellen; der anhaltende Frost hatte sie bewahrt. Der Stiefel paßte ganz gut, aber das war ja schließlich noch kein Beweis.
Auf Indizien hin verurteilen konnte man sie nicht, sie mußte zum Geständnis gebracht werden.
Zu diesem Zweck und auch im Hinblick auf verschiedene andere Brandaffären schickte man nach der Hauptstadt und ließ einen scharfsinnigen Kommissionsrichter kommen. Sein Ruf eilte ihm voraus; er war früher schon auf der Insel gewesen, und die Bauern hatten einen wahren Abscheu und Schrecken vor ihm. Etliche meinten gar, er sei der Böse selbst. Er scheute gewiß nicht davor zurück, den Leuten kochendheiße Eier unter die Achsel zu stecken oder die Daumenschrauben und die Streckbank anzuwenden, wenn es galt, einen zum Geständnis zu bringen. Die Folterwerkzeuge standen sicherlich noch von seinem letzten Besuch her in einem Verschlag des Rathauskellers. Man wußte auch von ganz unschuldigen Menschen, die, sobald sie hörten, daß er im Kommen sei, auf den Boden gegangen waren und sich erhängt hatten – bloß weil der Blitz einmal bei ihnen eingeschlagen hatte. Von den Schuldigen ganz zu schweigen; die taten wohl lieber alles andere, als ihm in die Klauen zu fallen.
So war Fränke denn geliefert!
Aber sie hielt dem Kommissionsrichter ebenso tapfer stand wie dem guten Amtsrichter, und alle seine verzwickten Kreuzfragen prallten an ihrem unerschütterlichen Schweigen ab. Nur einmal, als er über eine halbe Stunde lang Fragen an sie gerichtet hatte, öffnete sie den Mund und stieß hervor: »Frag die anderen, du Fragekrähe!«
Das wirkte so weit, daß sie von den ewigen Verhören loskam. Doch der Kommissionsrichter war nicht gesonnen, seine Beute fahrenzulassen; er spähte nur nach anderen Mitteln aus, ihr zu Leibe zu rücken. Sie von dem Gefängniswärter prügeln zu lassen nützte gewiß nichts; ein Weib wie sie würde sich aus Prügeln kaum etwas machen. Man könnte ihr eine lausige Armenhäuslerin zur Gesellschaft geben; das war ein alter historischer Kniff – bereits bei Leonore Ulfeld angewendet; aber Gott weiß, ob das wirken würde? – Was in aller Welt könnte wohl solch ein Stück Fleisch mürbe machen? Fleisch! Ja, gerade das! Ein Stück Fleisch war sie, groß und schwer! Sie mußte sicher Freude am Essen haben. Wie, wenn man versuchte, sie ein wenig auszuhungern?
Und Fränke wurde auf »Fieberkost« gesetzt.
Nach Verlauf von vierzehn Tagen kam sie wieder zum Verhör. Sie war in der verflossenen Zeit etwas dünner geworden, aber ihre Zunge war nicht gelöst; sie war ebenso stumm und versteinert wie zuvor.
Ihre Rechnung war nun leicht abzuschließen; jedes Kind im Städtchen konnte das Exempel lösen. Wenn sie gestand, nahm die Versicherung ihr Vermögen, und ihre Tochter und ihr Schwiegersohn mußten bettelarm vom Hof gehen, noch dazu, ohne jedem das Seine geben zu können, so daß sie für alle Zeiten gebrandmarkt wären.
Die Lage war spannend – wie ein Wettlauf oder ein Ringkampf. Durch die Beisitzer gelangten die Ereignisse im Gerichtssaal unter die Leute; man wußte, daß sie die Rolle der Stummen spielte und daß sie ausgehungert wurde, und die brennende Frage war: Wird sie sich durchschlagen? Die meisten glaubten es nicht, aber alle wünschten es, obgleich keiner an ihrer Schuld zweifelte.
Dann kam sie wieder zum Verhör.
Ein Monat war vergangen, seit man sie hungern ließ. Sie konnte die hausgewebten Kleider nicht mehr füllen, das Gesicht war eingefallen und hatte Ausdruck bekommen, den Ausdruck von etwas Gefräßigem, vom Verlangen, die Zähne in Fleisch zu schlagen, in was für Fleisch auch immer, sogar in den Kommissionsrichter selbst. Sie stand nicht mehr versteinert da, sondern schielte mit einem Blick voll Haß und Rache auf ihren Quälgeist; aber sie blieb unerschütterlich stumm. Die Gerichtszeugen starrten entsetzt auf die beiden Konkurrenten, Richter und Angeklagte, Jagdhund und Wild, Bluthund und Verbrecher.
Nun sollte der letzte Trumpf ausgespielt werden – man wußte es vom Gefängniswärter.
In zwei Tagen war Weihnachtsabend. Da sollte der Weihnachtstisch für sie gedeckt werden mit Gänsebraten, Vollbier und Leckerbissen. Sie sollte es vor Augen haben und wissen, daß sie davon essen dürfe, wenn sie nur gestehe.
Nun war sie also endlich geliefert!
Aber Fränke war nicht geliefert. Sie wußte, daß sie es nicht mehr viel länger aushalten würde. Der Hunger quälte sie schlimmer als der Teufel, bald würde er sie so von Sinnen bringen, daß sie für alles zu haben wäre. Aber sie wollte nicht gestehen und ihre Tochter mit dem Bettelsack umherziehen lassen, während alle ihre Tausender in wildfremde Hände übergingen. War der Hof des Bruders vielleicht nicht gegen Brandschaden versichert? Was hatten sie dann mit ihrem Geld zu tun? Und das Geld, das sie einmal vom Vater erben sollte, vielleicht würde man auch danach auf der Lauer liegen!
Und am Weihnachtsmorgen, während der Gefängniswärter die Lockspeise bereitete, spielte sie ihren letzten Trumpf aus. Sie biß ihr Schürzenband ab und erhängte sich damit am Türgriff.
Ole Dues Hand zitterte heute noch mehr als sonst. Von der gemeinsamen Schüssel, die mitten auf dem Tisch stand, führte eine Milchstraße zur Tischkante und über Oles schöne Weste bis hinauf zum Mund. Auf jedem Hinweg ließ der Löffel ein paar Tropfen hinter sich zurück, als wolle er sich den Rückweg zur Schüssel sichern. Sooft die Weste ihren Teil abbekam, sandte Gjarta ihrem Mann einen zornigen Blick zu, und Ole beeilte sich, mit dem Handballen nachzutrocknen.
Milch mit Klößen war übrigens Oles Leibgericht, nur kam es ihn schwer an, die Klöße zu bewältigen. Gjartas Klöße waren hart und hatten einen schleimigen Überzug, und Oles Gaumen konnte auf ihnen keinen rechten Halt finden; sie rutschten in die Backe hinein und in den Mund zurück, und er saß da und knaupelte.
Keiner sprach, aber die Kauwerkzeuge brachten genügend Lärm hervor, es klang wie eine ganze Werkstatt. Und wenn Ole sich rechte Mühe gab, dann verdrehte er die Augen im Kopf wie ein Hund, der in Eingeweiden wühlt.