Unter tausenden von Gegenständen in der Altstadt von Genf ist, warum auch immer, kein einziger dabei, der mich an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend erinnert. Einzig und allein die Rosskastanien, denen ich hin und wieder auf den Bürgersteigen begegne …
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Aslı Erdoğan (*1967) studierte Informatik und Physik. In ihren Werken erkundet sie stets das Fremde, das andere vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und der globalen Entwicklungen. 2010 wurde sie mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Türkei ausgezeichnet. Als Kolumnistin und Beiratsmitglied der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wurde sie im August 2016 verhaftet, seit 2017 lebt sie in Deutschland im Exil.
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Recai Hallaç, geboren 1962 in Istanbul, absolvierte in Brüssel eine Ausbildung zum Simultandolmetscher. Seit 1990 ist er als Redakteur, Verleger und literarischer Übersetzer in Deutschland tätig.
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Der wundersame Mandarin
Roman
Aus dem Türkischen von Recai Hallaç
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 in der Edition Galata. Dieses E-Book erscheint in Kooperation zwischen Galata und Unionsverlag.
Lektorat: Maja Otten
Originaltitel: Mucizevi Mandarin
© dieser Ausgabe by Galata Verlag, 2008
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Udo Tremmel, Müjde Karaca, Heike Ossenkop
ISBN 978-3-293-30970-8
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Ich hatte auf den ersten Blick gesehen, daß sie Türken sind. In diese französisch sprechende, historische mitteleuropäische Stadt waren sie mit großer Wahrscheinlichkeit gekommen, um an einer Ausstellung oder einem Filmfestival teilzunehmen. Alle vier sahen nach Künstlern aus, das heißt, sie hatten lange Haare, Brillen, Bärte und Kordhosen. Sie waren so betrunken, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sie hatten sich in einer der engen steilen Gassen der Altstadt vor dem Nachtclub, in dem Punks der neuen Generation verkehrten, postiert und mit ihren vielen Dosen Bier, ihrem Lärm und Krach und ihrer Ungezügeltheit im wahrsten Sinne des Wortes den Weg belagert.
Die Sorglosigkeit, die sie empfanden, weil sie in einem fremden und freieren Land waren, hatte sich mit Alkohol vermengt und die Entfernung von dreitausend Kilometer zu einer Gesellschaft, in der sie jeden Augenblick beurteilt und dem Zwang ausgesetzt wurden, ihr »Image« zu bewahren, hatte ihnen den Kopf verdreht. Kurz, sie waren völlig außer Rand und Band. Sie machten jedes Mädchen an, das an ihnen vorbeilief, und weil sie davon ausgingen, daß hier kein Mensch Türkisch versteht, riefen sie ihnen die zügellosesten Worte hinterher und erlaubten sich jede Frechheit. Ihre künstlerischen Sorgen waren jenseits des Sonnenuntergangs geblieben, die Nacht hatte grundsätzlichere und lebenswichtigere Probleme, mit einem Wort die Sexualität, in den Vordergrund gerückt. Sie verfolgten die Spur der Beglückung der Haut, der leichten Siege.
Als sie mich bemerkten, hatte ich sie schon eine ganze Weile beobachtet. Deswegen wurde mir klar, daß alle vier, fast im gleichen Atemzug, meiner Erscheinung in der Dunkelheit gewahr wurden. In einer Samstagnacht war ihnen eine schlanke schmächtige Frau begegnet, die auf den kopfsteingepflasterten, sehr spärlich beleuchteten steilen Gassen der Altstadt wie ein Geist herumschlich. In dem faden Licht der Straßenlaternen, eine blonde, eine, obwohl nicht einmal dreißig, gealterte, ein wenig mysteriöse, ein wenig tragische erschöpfte Frau. Fast eine Romanheldin.
Ich konnte nicht mehr hören, was sie sagten, sie waren instinktiv leiser geworden, meine Anwesenheit hatte sie beunruhigt. Von einem Moment auf den anderen war ich zum Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit geworden. Das Quartett fing an, sich mir allmählich zu nähern und wie eine Amöbe sich zu teilen.
Auf einmal erhellte die Straßenlaterne mein Gesicht und legte die Bandagen, die ich vergeblich in der Finsternis zu verbergen suchte, bloß. Bandagen, die mein linkes Auge ganz verschluckt und in der Mitte meines Gesichts eine tiefe Furche gegraben hatten.
»Hey, guck mal, das Auge des Mädchens!«
»Das Mädchen hat kein Auge, guck dir das mal an!«
»Ach Meeensch, die Arme!«
»Was ist denn wohl passiert? Sie hatte bestimmt einen Unfall oder so.«
(Und dann Sätze, Ausrufe, Vermutungen, die ich nicht hören konnte.)
»Schade, ein schönes Mädchen eigentlich!«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen letzten Satz wirklich gehört habe. Vielleicht ist er ein Geschenk meines so armseligen, nach Komplimenten hungernden Egos für meine Ohren.
Einer von ihnen, der mutigste, kam auf mich zu, achtete jedoch sorgfältig darauf, sich nicht zu sehr zu nähern. Mein verletztes Auge könnte sich ja wie ein Drache auf ihn stürzen und ihn mit einem tödlichen Virus anstecken. Mit einer samtweichen Stimme und auf Türkisch sagte er »ge£miş olsun«, gute Besserung! Und ich antwortete in meiner Muttersprache:
Danke schön, »teşekkür ederim«.
Während ich, ohne auch nur einen Moment stehen zu bleiben, meinen Weg fortsetzte, sah ich, daß er vor Verblüffung die Bierdose aus der Hand gleiten ließ. Kurz danach trug der Wind noch ein paar türkische Worte zu mir herüber.
»Das Mädchen hat Türkisch gesprochen, nicht wahr? Habe ich mich verhört? Hat das Mädchen Türkisch gesprochen?«
Die Altstadt von Genf um Mitternacht: Gepflasterte Straßen, Statuen, Brunnen, Straßenlaternen mit gelblich weißem Licht, Läden mit beleuchteten Schaufenstern, Antiquitätengeschäfte, Antiquariate, Galerien, Alte Landkarten, Briefmarken, Bücher, die im letzten Jahrhundert gedruckt wurden, Kerzenständer, Kronleuchter, Klaviere, Schreibmaschinen, Grammophone, Porzellanfiguren, chinesische Schachteln, kleine Skulpturen aus Afrika, venezianische Masken, Maria und ihr gekreuzigter Sohn, Lampen aus Reispapier, Schreibtische, Teegarnituren aus Porzellan, silberne Aschenbecher, beleibte Buddhas, Elefanten aus Kristall, indische Stoffe… Unter diesen tausend verschiedenen Gegenständen ist, warum auch immer, kein einziger dabei, der mich an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend erinnert. Einzig und allein die Roßkastanien, denen ich hin und wieder auf den Bürgersteigen begegne.
Der Hof meiner Grundschule im Stadtteil Göztepe, ehemals ein herrschaftlicher Holzbau, füllte sich im Herbst von einem Ende zum anderen mit Roßkastanien. Vermutlich, weil ich mich mit ihr identifizierte, übte diese stachelige Frucht mit ihrem derben, abweisenden Namen, die man weder essen noch herunterschlucken kann, eine irrationale Anziehungskraft auf mich aus. Eigentlich hatte ich seit einem Hufschlag, den ich als Fünfjährige erhalten hatte, eine Höllenangst vor Pferden, und Kastanien nahm ich nie in den Mund. Und der Herbst war eine langweilige Jahreszeit, die nichts anderes bedeutete, als daß die Sommerferien zu Ende waren. Ich war ja noch ein kleines Kind, ich hatte noch keine Ahnung von Begriffen wie Sehnsucht an vergangene Zeiten, Romantik oder Liebe, die herabfallendes Laub in Erwachsenen hervorruft.
Aber jetzt kehre ich, sobald ich Roßkastanien erblicke, diese Fremdlinge der nördlichen Klimazonen, mich überschlagend, mich im Gebüsch verfangend, so, wie man einen felsenübersäten Hang hinabstürzt und den Fluß erreicht, in meine Vergangenheit zurück.