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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Vorwort
Einleitung: Fragestellung und Methodik einer Psychologie der urchristlichen Religion
 
I. Seele und Leib Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike und seine ...
a. Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike
b. Die Erneuerung des inneren Menschen im Urchristentum
 
II. Erfahrung und Erleben Die spirituelle Dimension der urchristlichen Religion
a. »Pneûma« als Sammelbegriff religiöser Erfahrungen im Urchristentum
b. Religiöse Wahrnehmung: Transparenz und Vision
c. Religiöse Emotionen: Furcht und Freude
d. Religiöses Sprechen: Gebet und Glossolalie
e. Religiöse Veränderung: Umkehr und Konversion
f. Religiöse Bindung: Wort- und Wunderglaube
 
III. Mythos und Weisheit Die kognitive Dimension der urchristlichen Religion
a. »Weisheit« und »Kerygma« als Leitbegriffe für religiöskognitive Deutungen
b. Kausalattribution des Bösen und Aporien des Theodizeeproblems: Die Balance ...
c. Gottesverständnis als Deutung religiöser Aporien
d. Weltverständnis als Deutung religiöser Aporien
e. Menschenverständnis als Deutung religiöser Aporien
f. Christusverständnis als Antwort auf religiöse Aporien
 
IV. Ritus und Gemeinschaft
a. »Kirche« als Leitbegriff für die Gemeinschaftsform der Christen
b. Eintritt in die Gemeinschaft: Die Taufe zur Umkehr und zur Wiedergeburt
c. Leben in der Gemeinschaft: Sakralmahl und Sakramentalmahl
d. Herrschen in der Gemeinschaft: Charisma und Amt
e. Leben in der Gemeinschaft: Kirche und Sekte
 
V. Ethos und Praxis
a. »Liebe« als Leitbegriff des biblischen Ethos
b. Aggression und Aggressionsbewältigung: Triebkontrolle im Urchristentum
c. Sexualität und Askese: Triebkontrolle im Urchristentum
d. Gesetz und Paränese: Normative Orientierung im Urchristentum
e. Gewissen und Gericht: Normative Orientierung im Urchristentum
 
VI. Mystik und Gnosis
a. Erfahren und Erleben
b. Mythos und Lehre
c. Ritus und Gemeinschaft
d. Ethos und Praxis
 
VII. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
a. Seele und Leib. Die Erfindung des inneren Menschen in der Antike und seine ...
b. Erfahrung und Erleben. Die spirituelle Dimension der urchristlichen Religion
c. Mythos und Weisheit. Die kognitive Dimension der urchristlichen Religion
d. Ritus und Gemeinschaft. Die soziale Dimension der urchristlichen Religion
e. Ethos und Praxis. Die praktische Dimension der urchristlichen Religion
 
Literatur
Bibelstellenregister
Copyright

Gewidmet der Protestantischen Theologischen Fakultät

der Marc Bloch Universität Strasbourg

als Dank für die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors

Vorwort
Die Geschichte der Religion gehört zur Selbstexploration und Selbstbehauptung des Menschen in einem rätselhaften Universum. Sie muss mit allen wissenschaftlichen Mitteln erforscht werden, mit denen Menschen heute Aufklärung über sich selbst suchen. Dabei nimmt die Psychologie eine wichtige Stelle ein. Sie hat in den letzten Jahrzehnten unser Wissen um unser Verhalten und Erleben außerordentlich erweitert. Die Geisteswissenschaften beginnen erst allmählich, diesen Wissensschatz für sich fruchtbar zu machen.
Das Programm einer psychologischen Erhellung der Religion hat in Heidelberg eine Tradition. Im Eranos-Kreis sammelten sich am Anfang des letzten Jahrhunderts (1904-09) um den Altertumswissenschaftler Albrecht Dieterich (1866-1908) und den Neutestamentler Adolf Deißmann (1866-1937) bedeutende Gelehrte, die an einer wissenschaftlichen Analyse der Religion und Religionsgeschichte interessiert waren. Teilnehmer waren u. a. Max Weber und Ernst Troeltsch. Beim letzten Treffen des Kreises hielt Eberhard Gothein einen Vortrag über die »Möglichkeiten einer historischen Psychologie«. Nach Albrecht Dieterichs frühem Tod löste sich der Kreis auf. Adolf Deißmann ging nach Berlin und ermöglichte dort einem jungen Neutestamentler, Martin Dibelius, die Habilitation. Weil Thesen der ersten Habilitationsschrift von Martin Dibelius keine Chance hatten, in Berlin akzeptiert zu werden, schrieb Dibelius sehr schnell eine neue Habilitationsschrift und wählte als Thema die Berufung des Paulus unter historischem und psychologischem Aspekt. Die Arbeit wurde angenommen, aber nie veröffentlicht. 1915 wurde Martin Dibelius nach Heidelberg berufen. Vor hundert Jahren konnte man mit einer Verbindung von historischer und psychologischer Fragestellung in unserem Fach ein gefährdetes Habilitationsverfahren zu einem guten Ende führen. In den vergangenen Jahrzehnten hätte man davon abraten müssen, sich mit solch einem Thema zu qualifizieren.
In Heidelberg entstanden in den letzten 25 Jahren einige Beiträge zu einer Psychologie der urchristlichen Religion – einerseits meine Arbeit »Psychologische Aspekte der paulinischen Theologie« (1983), die lerntheoretische, psychodynamische und kognitive Ansätze der modernen Psychologie aufnimmt, andererseits der erste Entwurf einer »Historischen Psychologie des Neuen Testaments« von Klaus Berger (1991), der auf Theorieansätze der gegenwärtigen Psychologie bewusst verzichtet. Es entstanden ferner zwei Qualifikationsarbeiten zur textpsychologischen Auslegung des Neuen Testaments, die Dissertationen von Thea Vogt über »Angst und Identität im Markusevangelium« (1993) und von Martin Leiner zur Grundlegung einer psychologischen Exegese: »Psychologie und Exegese« (1995). Alle Arbeiten führten in verschiedener Weise das Anliegen des Eranos-Kreises weiter.
Die Verwirklichung meines langjährigen Wunsches, eine Religionspsychologie des Urchristentums schreiben zu können, wurde durch ein Forschungsjahr im Rahmen des Heidelberger Altertumswissenschaftlichen Kollegs im Jahr 2005/6 ermöglicht. Ich danke den Initiatoren des Altertumswissenschaftlichen Kollegs, Prof. Tonio Hölscher und Prof. Stefan Maul, für Ihre Unterstützung sowie allen anderen Kollegen der Altertumswissenschaft für die Chance, dieses Buch zu schreiben. Seine Entstehung war eingebettet in einen Dialog zwischen neutestamentlicher Exegese und Kulturanthropologie im Austausch mit Prof. Thomas Hauschild (Tübingen) und Dr. Christian Strecker (Neuendettelsau). Beiden verdanke ich viele Anregungen, die z. T. erst in weiteren Veröffentlichungen fruchtbar werden können. Darüber hinaus wurde das Buch durch die Beschäftigung mit dem Lebenswerk eines hoch interessanten islamischen Theologen, Nasir Khusraw (1004-1077 n. Chr.), im Austausch mit dem Islamwissenschaftler Prof. Lutz Richter-Bernburg (Tübingen) bereichert. Auch ihm sei herzlich gedankt für seine Anteilnahme und Diskussionsbeiträge, ferner allen Kollegen, die im Rahmen des Heidelberger Kollegs mit mir diskutiert und sich die Zeit genommen haben, Teile meines Manuskripts zu lesen und mich durch Hinweise und Kritik zu ermutigen. Ich danke besonders Prof. Nils G. Holm (Religionspsychologie, Åbo), Prof. Joachim Funke (Allgemeine Psychologie, Heidelberg) und Prof. Hermes Kick (Psychiatrie und Medizinethik, Mannheim), Prof. Martin Leiner (Systematische Theologie, Jena), Prof. Petra v. Gemünden (Biblische Theologie, Augsburg). Alle gaben mir wertvolle Rückmeldungen.
Das Altertumswissenschaftliche Kolleg ermöglichte es, in einem Kreis interessierter Neutestamentler Probleme einer Psychologie der urchristlichen Religion zu diskutieren. Für anregende Diskussionen danke ich Prof. Pierre-Yves Brandt (Lausanne), Prof. Pieter Craffert (Pretoria), Dr. Istvan Czachesz (Groningen), Prof. Petra v. Gemünden (Augsburg) Prof. Gudrun Guttenberger (Hannover), Dr. David G. Horrell (Exeter), Anke Inselmann (Augsburg), Dr. Dieter Mitternacht (Lund), Dr. Christian Strecker (Neuendettelsau), Dr. Bernhard Mutschler (Heidelberg), Prof. Takashi Onuki (Tokyo), und Kristina Wagner (Heidelberg). Die Beiträge zu diesem Symposium werden als Sammelband im Gütersloher Verlagshaus erscheinen. Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus danke ich für die Betreuung dieses Buches und des Symposiumbandes.
Bei der Arbeit und Weiterarbeit an dem Buch haben mir Studenten und Doktoranden geholfen: Ines Pollmann, Corina Cloutier, Eric Weidner, dazu meine Sekretärin Frau Elfriede Lucius. Kristina Wager hat stilistisch meine Manuskripte überarbeitet und ihre Lesbarkeit verbessert. Allen sage ich herzlichen Dank! Ein Dank könnte am Anfang und am Schluss stehen: Mit meiner Frau, Dr. Christa Theißen, habe ich viele Gespräche über psychologische Ansätze und Theorien geführt. Sie hat im Bereich der Entwicklungspsychologie promoviert und arbeitet seit langem als Psychotherapeutin in verhaltenstherapeutischer
Tradition. Ihr verdanke ich, dass mein Interesse an Psychologie nie aufgehört hat.
 
Ich widme das Buch der Protestantischen Fakultät der Marc Bloch Universität Straßburg, die mir im Mai 2006 die Ehrendoktorwürde verlieh.
 
Heidelberg, im Januar 2007 Gerd Theißen

Einleitung: Fragestellung und Methodik einer Psychologie der urchristlichen Religion
Die Entstehung des Christentums ist eines der faszinierendsten Probleme der Geschichtsschreibung. Trotz intensiver Forschung haben wir noch nicht verstanden, was im 1. Jh. n. Chr. zur kulturellen Grundinformation unserer Geschichte in Gestalt einer neuen Religion wurde. Das hat viele Ursachen. Eine davon ist, dass die Psychologie der urchristlichen Religion bisher kein Bestandteil der Bibelwissenschaft mit einer kontinuierlichen Forschungstradition war. Sie existiert nur in Fragmenten und Ansätzen.1 Dabei ist ihre Aufgabe auf den ersten Blick so plausibel, dass sie ihre Fragestellung nicht rechtfertigen muss. Eine Psychologie der urchristlichen Religion soll das religiöse Verhalten und Erleben der ersten Christen beschreiben, ordnen, verstehen und erklären. Erst auf den zweiten Blick werden die Schwierigkeiten bewusst, die diesem Unternehmen entgegenstehen. Neben dem Mangel an Informationen über die ersten Christen sind es grundsätzliche Einwände: Die Möglichkeiten einer Anwendung von Psychologie auf die Geschichte sind noch immer ungeklärt, und die psychologische Erforschung der Religion ist ein vernachlässigtes Randgebiet. Historische Psychologie ist bis heute eher eine faszinierende Vision als ein erfolgreiches Projekt, die Religionspsychologie eher ein verheißungsvoller Anfang als ein ausgeführtes Programm.2 Bei einer historischen Psychologie des Urchristentums addieren sich die Probleme der historischen Psychologie und der Religionspsychologie, aber auch deren Verheißungen und die oft unerfüllbaren Erwartungen an sie.

Das Problem einer historischen Psychologie

Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen. Eine Nominaldefinition würde sie als Wissenschaft von der »Seele« definieren. Aber die Seele ist ihr seit einiger Zeit abhanden gekommen. Heute untersucht sie psychische Vorgänge und Strukturen, nicht die Psyche selbst. Ihr ursprünglicher Gegenstand wurde immer rätselhafter. Je rätselhafter aber der Gegenstand einer Wissenschaft wird, umso mehr muss sie sich bemühen, durch strenge Methodik ihre Wissenschaftlichkeit zu demonstrieren. Die Grundlagen für eine strenge psychologische Methodik legte Wilhelm Wundt (1832-1920), der Sohn eines protestantischen Pfarrers. Er vertrat einen methodischen Pluralismus. Einerseits wurde er zum Gründer der Experimentalpsychologie, andererseits war er überzeugt, dass man mit Experimenten nur momentane Prozesse des seelischen Lebens erfassen kann. Alle höheren Erscheinungen des psychischen Lebens wie Ethos und Religion waren für ihn Gegenstand der »Völkerund Kulturpsychologie«, die er auch »historische Psychologie« nannte.3 Der Grundsatz historischer Psychologie ist: Was der Mensch ist, lehrt uns die Geschichte. Der Grundsatz der experimentellen Psychologie lautet dagegen: Was der Mensch ist, lehren empirische Untersuchungen. Lange Zeit existierten in der Psychologie beide Ansätze nebeneinander. Sie waren bis in die 50er/60er Jahre oft in der Person ein und desselben Psychologen vereint.4 Viele Psychologen waren zugleich Philosophen oder Pädagogen. Dann setzte mit der institutionellen Verselbständigung der Psychologie eine Entwicklung ein, in der sie zu einer empirischen Wissenschaft wurde. Durch strenge empirische Methodik erfuhr sie einen gewaltigen Aufschwung. Es ist bewundernswert, wie viele bedeutsame Ergebnisse sie in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Die Geisteswissenschaften beginnen nur zögernd, diese Erweiterung unserer Menschenkenntnis zu registrieren und zu rezipieren.
Der Erfolg der empirischen Psychologie macht verständlich, dass alles, was der strengen empirischen Methodik der Psychologie nicht entspricht, für viele Psychologen fast zu einer vorwissenschaftlichen Fragestellung wurde. Es kam zu einer Methodeninversion: Die Methodik bestimmt, was der Gegenstand einer Wissenschaft ist, nicht der Gegenstand die Methodik (Gerd Jüttemann).5 Da die empirischen Methoden auf die Gegenwart beschränkt sind, wurde die historische Psychologie vernachlässigt. Ihre methodische »Armut« ist unübersehbar: Beim Beschaffen ihrer Daten stößt sie auf eine unüberwindbare Grenze, da sie nicht in Interaktion mit Menschen treten kann, die in der Vergangenheit gelebt haben. Sie kann keine Experimente und Messungen durchführen. Ihre einzige Methode ist die nachträgliche Interpretation zufällig erhaltener Quellen. Sie ist insofern eine »hermeneutische« Psychologie.6 Sie steht darin der Psychoanalyse nahe, sofern auch diese Träume, Mythen und Riten interpretiert. Diese Verwandtschaft hat dazu geführt, dass sich die historische Psychologie z. T. stark an die Psychoanalyse angelehnt hat und damit auch in deren Krise verwickelt wurde.7 Aber auch die Psychoanalyse hat der historischen Psychologie eines voraus: Sie kann ihre Interpretationsgrundlage durch Interaktion mit den untersuchten Menschen erweitern. Sie hat eine empirische Basis, auch wenn diese Basis nur aus individuellen Fallanalysen besteht.
Es kann kein Zweifel daran bestehen: Da wir nicht über Zeitmaschinen verfügen, die uns in die Vergangenheit zurückversetzen, muss die historische Psychologie ihre methodische Beschränkung auf das Beschreiben, Klassifizieren, Verstehen und Erklären von vorgegebenen Quellen akzeptieren. Manche würden sogar ihren Anspruch, etwas zu »erklären«, ablehnen. Erklärungen setzen »Gesetze« voraus. Vieles spricht aber dafür, dass sich die Geschichte jeder »nomothetischen« (d.h. einer Gesetze aufstellenden und mit ihrer Hilfe erklärenden) Wissenschaft entzieht. Geschichte ist etwas Einmaliges und kann zunächst nur »ideographisch« beschrieben werden. Aber auch die historische Psychologie gibt in zweifacher Form Erklärungen. Eine erste Form besteht darin, dass sie Verhalten und Erleben von Menschen in einen historischen Kontext einordnet, der aus kulturellen Regeln und Normen besteht.8 Diese Regeln haben weder die determinierende Kraft von Naturgesetzen noch die Berechenbarkeit statistischer Korrelationen. Sie sind von Menschen geschaffen, ändern sich und setzen sich unvollkommen im Handeln der Menschen durch; Abweichungen sind immer möglich. Dennoch sind es Regeln. Sogar die Abweichungen von ihnen folgen einer gewissen »Regelmäßigkeit«.9 Historische Psychologie macht also menschliches Verhalten und Erleben im Kontext solcher geschichtlich bedingter kultureller Regeln verständlich.10 Sie ist daher nicht nur hermeneutische, sondern auch »kontextuelle« Psychologie. Das zu interpretierende Erleben und Verhalten ist für sie wie ein Text, der im größeren Kontext seiner Kultur verständlich wird, die von der Kulturanthropologie rekonstruiert wird. Was wir über diese Kultur erfahren, muss ferner plausibel narrativ dargestellt werden – einschließlich der Geschichte ihrer Regeln, Werte und Mentalitäten. Eine Erzählung, wie sich eins aus dem anderen ergab, ist die zweite in der Geschichtswissenschaft übliche Form der Erklärung, wobei sie sich in der neueren Geschichtswissenschaft nicht auf Ereignisse und Personen beschränkt, sondern Strukturen und Mentalitäten einbezieht. Die historische Psychologie ist insofern auch »narrative« Psychologie. Es gibt also auch in der historischen Wissenschaft Erklärungen, sei es durch Deutung von Verhalten und Erleben im Kontext kultureller Regeln, sei es durch eine plausible chronologische Erzählfolge von Ereignissen und Zuständen.
Nachdem die in der Person von Wilhelm Wundt einst vereinten Richtungen der historischen und empirischen Psychologie Jahrzehnte lang getrennt waren, ist es heute an der Zeit, beide einander wieder näher zu bringen. Sie können voneinander lernen. So hat die empirische Psychologie durch viele Experimente die Geschichtlichkeit unseres Lebens herausgearbeitet, indem sie z. B. den Anteil des Erlernten und Kulturellen selbst bei elementaren Vorgängen wie dem Ausdruck von Gefühlen bestimmt hat.11 Gleichzeitig stieß sie auf vorkulturelle Gegebenheiten, die wir auch in der Vergangenheit voraussetzen dürfen und die einen allgemeinen Möglichkeitsraum eröffnen, innerhalb dessen sich menschliches Leben bewegt. Empirische Erforschung kann uns zwar nicht sagen, was früher einmal war, aber sie kann sagen, was generell beim Menschen möglich ist. Schließlich fallen Ergebnisse von empirischen Nachuntersuchungen je nach dem Kontext der Untersuchungen immer anders aus. Das hängt nicht nur an der Unzulänglichkeit der Untersuchungsmethoden; auch die Geschichtlichkeit des »Gegenstandes« könnte eine Rolle spielen.12 Deshalb sollte man »ideographische « und »nomothetische«, historische und empirische, interpretative und experimentelle Ansätze nicht gegeneinander ausspielen.13 Auch die empirische Psychologie wäre ohne Interpretation »arm« und ohne das Bewusstsein ihrer geschichtlichen Dimension »blind«.

Das Problem einer Religionspsychologie

Religionspsychologie existiert als historische Psychologie und empirische Wissenschaft. 14 Schon die Klassiker der Psychologie waren vom Problem der Religion fasziniert. Alle haben grundlegende Entwürfe zur Religionspsychologie geliefert. Alle haben erkannt, dass Religion eine – teils konstruktive, teils destruktive – Lebensmacht ist. Wilhelm Wundt analysierte sie als evolutionäres Vorstadium unserer Gegenwart,15 William James als pragmatisch wirksame Lebenskraft,16 Sigmund Freud als Illusion und Zwangsneurose,17 Carl Gustav Jung als Suche des Menschen nach der Ganzheit seines Lebens.18 Ihre Arbeiten wurden in vielfältiger Weise weitergeführt, aber noch immer ist die Religion ein rätselhafter Gegenstand. Es gibt nicht einmal eine anerkannte Definition von Religion. Die folgende Formulierung beansprucht nur, dass sie im Spektrum möglicher Definitionen nicht extrem ist: »Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.«19 Wer mit Hilfe dieser Zeichensprache mit anderen Menschen kommuniziert und (in seiner Intention) dabei mit transzendenten Realitäten Kontakt aufnimmt, macht religiöse Erfahrungen und praktiziert religiöses Verhalten.
Nun wird die Religion von vielen Wissenschaften untersucht. Wir müssen daher fragen: Was speziell untersucht die Religionspsychologie? Die Internationale Gesellschaft für Religionspsychologie definierte bei ihrer Neugründung 2001 ihr Anliegen als den »Versuch, zu bestimmen, was psychisch in oder an der Religion ist« oder »was psychisch ist an religiösem Handeln, Erkennen und Erfahren«, um es »mittels des theoretischen und methodisch-technischen Instrumentariums der Psychologie« zu untersuchen.20 Die Definition ist zirkulär: Psychisches wird durch das definiert, was Psychologie untersucht. Da sich inzwischen aber viele Theorien und Methoden der Psychologie bewährt haben, ist die Definition pragmatisch akzeptabel. Trotz eines Nachholbedarfs an religionspsychologischer Forschung (besonders in Deutschland) gibt es inzwischen eine Reihe respektabler Entwürfe.21
In einem ersten Teil dieser programmatischen Skizze seien ein paar Gedanken zu den methodischen Grenzen und Möglichkeiten einer historischen Religionspsychologie ausgeführt, um zu zeigen, dass die historische Religionspsychologie zu methodisch kontrollierbaren Ergebnissen im Rahmen dieser Grenzen kommen kann. In einem zweiten Teil soll etwas vom inhaltlichen Reichtum einer Religionspsychologie des Urchristentums sichtbar werden.

I. Methodische Grenzen und Möglichkeiten einer Psychologie des Urchristentums: Wie verfährt eine historische Religionspsychologie?

Die Erkenntnisse einer historischen Religionspsychologie beziehen sich meist auf kollektive Muster des Erlebens und Verhaltens. Solche kollektiven Einstellungen und Gefühle nennt man in der Geschichtswissenschaft »Mentalität«.22
Obwohl ein großer Teil der historischen Psychologie heute als Mentalitätsgeschichte getrieben wird, ist eine historische Religionspsychologie mehr als das. Vier Gründe seien dafür genannt:
Mit einer Religionspsychologie ist erstens der Anspruch verbunden, dass es sich lohnt, die Religion zu einem eigenen Thema zu machen. Als Teil einer allgemeinen Mentalität verschwindet sie in ihrer Besonderheit. Religion beeinflusst zwar Mentalität, ist aber mehr. Zweitens ist mit ihr der Anspruch verbunden, dass auch individuelles Erleben und Verhalten relevant ist. Charismatiker wie Johannes der Täufer, Jesus und Paulus haben nicht nur kollektive Verhaltens- und Erlebensmuster übernommen, sondern geprägt. Drittens gehören auch Gedanken und Ideen zum Gegenstand der Religionspsychologie, während sich Mentalitätsgeschichte vor allem auf halbbewusste Gefühle und Einstellungen konzentriert. Viertens muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass Religion nicht nur kulturell gestaltet ist, sondern auch verschüttete biopsychische Möglichkeiten des Menschen aktualisiert. Solche Aspekte werden von einer Mentalitätsgeschichte nicht erfasst.
Religionspsychologie ist daher mehr als die Geschichte religiöser Mentalitäten, aber sie ist weniger als historische Anthropologie, zu der auch Sozial-, Wirtschafts-, Literatur- und Kulturgeschichte gehören. Das spezifisch psychologische Interesse besteht darin, nach der subjektiven Bedeutung der untersuchten Phänomene zu fragen: »Die Psychologie sollte analysieren, was ein bestimmtes Verhalten für den Akteur bedeutet und wie diese Bedeutung zu Stande kommt.«23 Die Frage nach der Bedeutungskonstitution ist in der Bestimmung der Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten enthalten.
Von den in einer historischen Anthropologie zusammenarbeitenden Wissenschaften ist für eine historische Religionspsychologie besonders die Kulturanthropologie (oder Ethnologie) wichtig. Mit ihrer Hilfe kann sie einige methodische Einwände gegen ihre Vorgehensweise zurückweisen. Die fünf wichtigsten Einwände sind folgende: Das Argument des Quellendefizits behauptet, dass wir für die Rekonstruktion vergangenen Erlebens und Verhaltens zu wenig Ansatzpunkte in den Texten haben. Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht argwöhnt, dass eine psychologische Lektüre von Texten durch menschliches Erleben und Verhalten erklärt, was sich allein durch literarische Traditionen und Strukturen erklären lässt. Der Anachronismusverdacht kritisiert, dass durch moderne Kategorien vergangenes Verhalten und Erleben an die Gegenwart assimiliert wird. Der Reduktionismusverdacht beanstandet die Ableitung von Religion aus nicht-religiösen Faktoren. Der Trivialitätsverdacht moniert, dass überzeugende psychologische Überlegungen oft nur sagen, was man ohnehin weiß, dass sie aber wenig überzeugen, wenn sie Neues sagen. Diese fünf Einwände lassen sich entkräften.

1) Das Quellendefizit

Mit einem Quellendefizit hat jede historische Wissenschaft (vor der Neuzeit) zu kämpfen. Es ist beim Urchristentum besonders groß. Nur drei Einzelpersonen treten individuell deutlich erkennbar hervor: Jesus, Paulus und Ignatius von Antiochien. Alle Überlieferungen von Jesus sind freilich nicht nur Niederschlag seiner Person, sondern Ausdruck seiner Verehrung. Nur mit großer Vorsicht können wir etwas über den historischen Jesus selbst sagen.24 Es ist mehr, als viele meinen. Aber mehr noch können wir über das Jesusbild sagen, das uns in den zwischen ca. 70-100 n. Chr. entstandenen Evangelien entgegentritt. Was an Jesusüberlieferungen aus psychologischer Sicht interessiert, ist vor allem dieses Bild, das die ersten Christen von ihm hatten. Anders ist die Quellenlage bei Paulus. Von ihm sind sieben in den 50er Jahren des 1. Jh. n. Chr. geschriebene authentische Briefe erhalten, die ihn in lebendiger Interaktion mit seinen Gemeinden zeigen. Paulus reflektiert in ihnen mit großer Sensibilität über sich und seine Gemeinden. Über seine Person lässt sich mehr als über Jesus sagen,25 noch mehr aber lässt sich über seine Interaktion mit seinen Gemeinden sagen, am meisten jedoch über seine Theologie. Auch sie kann Gegenstand psychologischer Analyse sein.26 Sehr viel weniger als über Paulus wissen wir schließlich über Ignatius von Antiochien. Seine sieben Briefe sind in einer zeitlich begrenzten Extremsituation geschrieben: Er schrieb sie ca. 107/09 n. Chr. als Gefangener auf der Reise nach Rom, wo ihn das Martyrium erwartet. Wir erleben mit, wie er seine Todesangst bewältigt und seine zukünftige Hinrichtung zur Quelle seines Charismas macht.27 Für eine psychologische Untersuchung einzelner Menschen ist das Quellendefizit in der Tat gewaltig. Für eine psychologische Untersuchung des typischen Verhaltens und Erlebens der ersten Christen und ihrer sozialen Interaktionen besitzen wir dagegen ein reiches Quellenmaterial in den 27 Schriften des neutestamentlichen Kanons und in den urchristlichen Schriften außerhalb des Kanons.
Wir haben in unseren Quellen viele Aussagen zum Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln der ersten Christen. Im Lichte der Erkenntnisse der Allgemeinen Psychologie können wir kulturpsychologisch die Prägung des Lebens durch geschichtliche Muster besser beschreiben und verstehen.
Wir können eine allgemeine Persönlichkeitspsychologie entwerfen über Persönlichkeitsstrukturen, die sich im Urchristentum gebildet haben. Wir können z. B. fragen: Wie verhalten sich Menschen zu ihrem Körper als »Leib« und »Fleisch«? Warum wird das »Gewissen« bei Paulus zur Berufungsinstanz bei abweichendem Verhalten oder zum »differenten« Gewissen?28
Wir verfügen über gute Quellen zur Sozialpsychologie urchristlicher Gruppen. 29 Aus ihnen geht hervor, wie z. B. Charismatiker ihre Gruppen steuerten, mit welchen Vorurteilen und Stereotypen sich Gruppen gegenseitig beurteilten und verurteilten.
Die Quellen bezeugen die Suche nach einem gelingenden Leben durch schwere Krisen hindurch. In einer intensiven Auseinandersetzung mit einer Erlösergestalt soll das Leben verwandelt und erneuert werden. Sie können im Lichte der Klinischen Psychologie und der Psychotherapieforschung besser verstanden werden. Die Suche nach Heil und nach Heilung konvergieren in manchen Punkten.
Das Quellendefizit kann ferner auf zweifache Weise ein wenig ausgeglichen werden: zum einen durch eine bessere Auswertung unserer Texte, zum anderen durch Erweiterung der Quellenbasis mit Hilfe von Analogien.
Wie kann man die Quellen noch besser auswerten? Man kann nach den in den urchristlichen Texten selbst enthaltenen Deutungen menschlichen Erlebens und Verhaltens fragen. Diese Deutungen sind nicht etwas Sekundäres, das sich auf ein Erleben und Verhalten hinter den Texten bezieht, sondern Teil der psychischen Wirklichkeit selbst. Die in ihnen implizit enthaltene »Psychologie« lässt sich aus der Bedeutung psychologischer Begriffe (wie Seele, Affekt, Gewissen usw.), aus den typischen Elementen einer Gattung und eines Ritus, ferner aus der Ikonographie und nicht zuletzt aus der Diskursgeschichte einer Zeit, d. h. aus der bewussten Reflexion psychischer Prozesse, ablesen.30
Wie kann man die Quellenbasis durch Analogien erweitern? Dabei ist zunächst an historische Analogien gedacht – sei es in der Antike selbst oder in Gesellschaften, die der antiken Gesellschaft vergleichbar sind. Für eine historische Religionspsychologie ist kulturanthropologische Feldforschung am besten geeignet, die Quellen mit Hilfe angemessener Analogien zu interpretieren. So können eschatologische Texte z. B. im Rahmen millenaristischer Bewegungen gedeutet werden, Wundergeschichten in Analogie zu Erzählungen von Heilern und Exorzisten, Glossolalie im Zusammenhang mit ekstatischen Phänomenen usw. Dabei wird die Distanz zwischen unserer Kultur und einer fremden Kultur (in Gegenwart oder Vergangenheit) oft schon dadurch verringert, dass uns die ethnologische Erforschung unserer eigenen Kultur lehrt: Was uns bei anderen befremdet, findet sich auch bei uns. Das Fremde ist das Eigene, das man nicht hat wahrnehmen wollen.31
Die Antwort auf das Argument des Quellendefizits ist daher: Aufschlussreiche Fragen bringen karge Quellen zum Sprechen, angemessene Analogien erweitern die schmale Quellenbasis. Dabei gehen wir freilich von der schlichten Voraussetzung aus, dass Texte den Blick auf menschliches Erleben und Verhalten freigeben. Das aber ist heute nicht selbstverständlich.

2) Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht

Literaturwissenschaftler und Exegeten sind es gewohnt, einen Text durch andere Texte zu erklären. Eine psychologische Deutung der Texte als Ausdruck menschlichen Erlebens und Verhaltens ist in der heutigen textwissenschaftlichen Landschaft so naiv wie das (angebliche) Verhalten jenes Bauern, der zum ersten Mal ein Schauspiel sieht und bei einem Mord auf der Bühne die Polizei alarmieren will. Aber selbst wenn er das Schauspiel als fiktionale Nachahmung eines einmaligen Geschehens oder einer typischen Realität deutet, wird er heute bei manchen postmodernen Texttheoretikern auf Kritik stoßen, die sagen, das Drama öffne nur scheinbar ein »Fenster« zur externen Realität, in Wirklichkeit sei es ein »Spiegel«, der uns einen Innenraum mit vielen Texten zeigt. Uralte literarische Traditionen und Strukturen schlügen sich in ihm nieder, nicht Erfahrungen und Erlebnisse. Texte verwiesen immer nur auf Texte. Dieser radikale Standpunkt ist unhaltbar; mit ihm würde die ganze Geschichtswissenschaft in Frage gestellt. Aber er signalisiert ein Problem, das lösbar ist. Die Trennung von Text und Leben kann von zwei Seiten her überwunden werden: Zum Erleben und Verhalten gehört die Sprache, wie uns der linguistic turn in der Psychologie belehrt. Welche sprachlich gebundenen Vorstellungen sich durchsetzen, hängt von psychischen Faktoren ab, wie uns der cognitive turn lehrt.
Was ist mit dem linguistic turn gemeint? Das sei ausgehend von einem Beispiel gezeigt: Die Bekehrungserzählung wird heute als Bestandteil der Bekehrung angesehen. Die Bekehrten bekehren sich nicht nur einmal im Leben, sondern führen im Erzählen ihrer Bekehrung diese Wende ihres Lebens weiter. Bekehrungserzählungen sind performative Erzählungen.32 Wir dürfen analog die Vision nicht vom Visionsbericht, das Wunder nicht vom Wunderbericht, den Traum nicht vom Traumbericht trennen. Diese enge Zusammengehörigkeit von Erleben und Erzählung ist unmittelbar einsichtig, wenn der erlebende und der erzählende Mensch identisch sind. Oft aber haben wir Texte, die über viele Generationen hinweg unzählige Male neu erzählt wurden. Wird bei ihnen das ursprüngliche Erleben nicht immer undeutlicher? Die Texte sind stark durch Traditionen festgelegt. Umso mehr stellt sich die Frage: Warum haben sich manche Traditionen durchgesetzt und andere nicht?
Hier setzt im Zusammenhang mit einem allgemeinen cognitive turn die kognitive Religionspsychologie an: Was sich in der Religion durchsetzt, muss sich dem Gedächtnis einprägen und kognitiven Verarbeitungsstrukturen im Menschen entsprechen, um weitergegeben zu werden. Aufgrund seiner evolutionären Vorgeschichte hat der Mensch z. B. in sich einen »Intentionalitätsdetektor«, der seine religiösen Erfahrungen als Ausdruck einer mächtigen außermenschlichen Intention deutet. Vorstellungen, die dem entsprechen, werden tradiert. Vor allem verfügen wir über eine naive Alltagsontologie. Wir unterscheiden Lebewesen und Sachen, differenzieren Pflanzen ohne Bewegung, Tiere mit Bewegungsfähigkeit und Personen mit Intentionen. Religiöse Vorstellungen sind mit Verletzungen dieser Alltagsontologie verbunden – und eben deshalb zogen sie als »kontraintuitive Ideen« Aufmerksamkeit auf sich, prägten sich dem Gedächtnis ein und wurden tradiert. Der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht lässt sich heute gut zurückweisen: Die kognitive Religionspsychologie enthält eine Theorie der Traditionsgeschichte, wonach grundlegende kognitive Strukturen unseres Geistes einige Vorstellungen selektiert und ihnen eine spezifische Form gegeben haben, die ihre Verbreitung erklärt. Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden:33
(1) Anthropologische Grundstrukturen, wie sie eine evolutionäre Psychologie und allgemeine Kulturanthropologie herausarbeitet hat, sind: der Glaube an ein Leben nach dem Tod, an Handlungsträger mit übernatürlicher Macht, Kreationismus als Überzeugung, dass hinter der ganzen Welt eine Absicht steht usw.
(2) Kulturelle Muster des Denkens und Verhaltens, wie sie die Kulturanthropologie für andere Kulturen herausgearbeitet hat, sind z. B. die Abhängigkeit von shame and honour, das Leben in patron-client-Beziehungen in der Antike.
(3) Geschichtliche Muster des Denkens und Verhaltens, wie sie die Sozialgeschichte für bestimmte Strömungen, Gruppen und Subkulturen erforscht, z. B. die Bedeutung von Werten wie Liebe und Demut in jüdischen und christlichen Gruppen.
Alles, was sich in unseren Texten erhalten hat, ist somit durch mannigfaltige Filter hindurchgegangen – und gerade diesen Prozess erhellt die historische Religionspsychologie. Wenn sich die Geisteswissenschaften heute als Bearbeitung des kulturellen Gedächtnisses verstehen, so ist von vornherein plausibel, dass alles, was die moderne Psychologie über Gedächtnis und Erinnerung herausgefunden hat, in ihr zu berücksichtigen ist. Berechtigt ist freilich die Frage: Gehen wir durch den Rückgriff auf die moderne Psychologie nicht in allzu naiver Weise von unserer Zeit aus? Erkennen wir nicht immer deutlicher, dass das kulturelle Gedächtnis ein »Konstrukt« der jeweiligen Gegenwart ist? Sollte das nicht auch für eine historische Religionspsychologie gelten?

3) Der Anachronismusverdacht

Der Anachronismusverdacht will uns davor warnen, dass wir unsere gegenwärtigen Vorstellungen in vergangene Zeiten hineinprojizieren. Zwar wäre es unfair, diesen Verdacht nur gegen die historische Psychologie zu richten. Anachronismen sind eine Gefahr in jeder historischen Wissenschaft – auch in der Form, dass es anachronistisch wäre, die Vergangenheit zum Gegenbild der Gegenwart zu machen. Auch dann bliebe man »gegenabhängig« an die eigene Zeit gebunden. 34 Aber man muss zugeben: Gerade bei einem psychologischen Zugang zur Vergangenheit liegt der Anachronismusverdacht besonders nahe. Wir sind in unser psychisches Erleben eingeschlossen wie in unsere eigene Haut. Wir verständigen uns heute über Lebensfragen in einer inzwischen allgemein verbreiteten soziologisch-psychologischen Koine (d.h. einer allgemeinen Umgangssprache) mit Begriffen wie Frustration und Aggression, Verdrängung und Projektion, Rolle und Status. Die entsprechenden Sachverhalte gab es auch in der Antike, sie waren damals aber immer anders als heute. Um ein Beispiel zu nennen: Es gab Status und Rolle. Der Rollenbegriff war ein wichtiges Element in der antiken Metaphorik des theatrum mundi, also in der Vorstellung, dass Menschen in diesem Leben eine Rolle zugeteilt wurde, die sie bis zum Ende spielen. Aber diese Metapher zeigt, wie weit wir von der Antike entfernt sind: Ein Rollenwechsel im Leben ist für uns sehr gut vorstellbar, in der Antike aber gibt man seine Rolle erst mit dem Tod ab. »Statuskontingenz«, das Bewusstsein, dass Status unverfügbar ist, weil er von Mächtigeren verliehen und genommen wurde, ist eine stillschweigende Voraussetzung, die wir so nicht teilen.35 Weil wir dieses mehr oder weniger große Anderssein übersehen, fallen wir Missverständnissen zum Opfer. Wir vertrauen bei psychologischem Verstehen zu sehr unserer Empathie, die das eigene Erleben bei Fremden voraussetzt. Alle Theoriebildungen gegenwärtiger (empirischer) Psychologie müssen daher daraufhin geprüft werden, ob sie Ausdruck unserer kulturellen Werte sind, ehe sie auf die Antike angewandt werden. Dabei ist es eine Hilfe, wenn wir in der Antike in Philosophie, Rhetorik, Poetik und Medizin psychologische Theorien finden, die unseren modernen Theorien entsprechen. Das sei an drei Beispielen gezeigt:
- Eine Psychologie der Kognitionen (d. h. des Wahrnehmens und Denkens) im Urchristentum fragt nach den Gedanken, mit denen die ersten Christen ihr Leben und die Welt gedeutet haben, indem sie nach Mustern von Kausalattribution in den Texten fragt.36 Schon die Antike hat eine Attributionstheorie entwickelt. Für Epiktet war die Frage: »Was hängt von uns ab und was nicht?« der Schlüssel zur Lebensführung (diss 1,1; ench 1). Wenn wir in dieser Psychologie des Urchristentums mit der Frage nach Kausalattribution an antike Texte herantreten, kann das kein verwerflicher Anachronismus sein.
- Das zweite Beispiel betrifft die Emotionen und Motivationen der ersten Christen. 37 Wir finden Texte zu Angst und Angstbewältigung,38 zu Aggression und Aggressionsbewältigung, zu Zorn und Zornkontrolle.39 Schon die antiken Philosophen haben eine Affekttheorie entworfen, die sich mit modernen Emotionstheorien in Verbindung bringen lässt. Die stoische Lehre dazu referiert Diog.Laert. 7,110 f. Aristoteles hat zur Affektbearbeitung im Drama eine Katharsistheorie entworfen (Arist. Poet 6), die in der Psychologie bis heute nachwirkt und auf die wir auch in diesem Buch zurückgreifen werden.40
- Schließlich finden wir in der antiken Rhetorik ein reiches sozial- und kommunikationspsychologisches Wissen über die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Einflussnahme auf andere Menschen, das man für das Verständnis der paulinischen Briefe mit Erfolg ausgewertet hat.41 Entscheidend ist in jedem Fall, ob man konkrete Texte im Lichte dieser Theorien, seien sie nun modern oder antik, besser verstehen kann.
Wir sollten daher mit folgender heuristischer Maxime an die Vergangenheit herantreten: Die Vergangenheit ist nie der Gegenwart gleich, aber sie wäre für uns ganz unverständlich, wenn sie nicht in unvorhersagbarer Weise Analogien zur Gegenwart enthielte. Ein solches Verstehen nenne ich »analogisches Verstehen«. Es darf heuristisch mit Modellen und Annahmen aus der Gegenwart arbeiten, aber kann sie nicht deduktiv auf die Vergangenheit anwenden, sondern muss alle Modelle aus den Quellen neu rechtfertigen und sie dabei abwandeln und korrigieren.
Das Zutrauen zur erhellenden Kraft solcher Modelle hängt von einer Prämisse ab: Je mehr Kontinuität und Konstanz man dem Menschen in der Geschichte zuschreibt, umso mehr wird man die Quellen aufgrund von Modellen deuten. Paradoxerweise bringt gerade die Entfernung der empirischen Psychologie von ihrer geisteswissenschaftlichen Tradition und ihre Annäherung an die Naturwissenschaft – vor allem durch neurobiologische Erkenntnisse – eine größere Zuversicht, gegenwärtige psychologische Modelle auf die Vergangenheit anwenden zu können. Zwar hat auch unser Gehirn eine Geschichte, aber es ist eine so langsame Geschichte, dass wir für die überschaubare historische Zeit mit denselben Strukturen rechnen dürfen. Bei neurobiologisch fundierten Möglichkeiten des Erlebens und Verhaltens stoßen wir auf kulturunabhängige Voraussetzungen menschlichen Erlebens und Verhaltens. Evolutionspsychologie wäre ohne Annahme einer solchen Kontinuität nicht vorstellbar. In ihr werden aufgrund von Ableitungen aus der Evolutionstheorie und gegenwartsbezogenen empirischen Forschungen oft Rückschlüsse auf Zeiten gemacht, für die überhaupt keine Texte zur Verfügung stehen, etwa zur Herausbildung von männlichen und weiblichen Verhaltenstendenzen in vorgeschichtlicher Zeit aufgrund eines postulierten Überlebenswertes: Geht etwa die größere soziale Kompetenz von Frauen darauf zurück, dass sozial kompetentere Frauen mehr Kinder hatten als andere? Oder darauf, dass sie durch sexuelle Selektion bevorzugt wurden? Wenn Evolutionspsychologie für Zeiten ohne schriftliche Quellen einen Erkenntnisgewinn bringt, ist es legitim, psychologisch auch die Zeiten zu erhellen, für die uns Textmaterial in zunehmendem Maße zur Verfügung steht. Wir umreißen m. E. durch die Modelle der Psychologie einen allgemeinen Möglichkeitsraum, der das umfasst, was beim Menschen an Verhalten und Erleben generell vorstellbar ist. Auch das ist viel wert. Drei Beispiele dafür seien genannt:
- Eine neurobiologisch informierte Psychologie kann generell die Bedingungen der Möglichkeit »mystischen Erlebens« aufweisen: Die Beschreibungen mystischer Erfahrungen sind erlebnisecht. Wenn die Orientierung im Raum »ausgeschaltet« wird, ist ein Erleben von Grenzenlosigkeit und Einheit mit allem vorstellbar. Das schließt nicht aus, dass solche Erlebnisse oft nach »Schablone« nacherzählt werden.42 Auch folgt aus Erlebnisechtheit nicht, dass es sich um »wahre« Erfahrungen mit Geltungsanspruch handelt.
- In der Gegenwart dokumentierte Nahtoderfahrungen zeigen, dass Blicke in ein subjektiv gedeutetes »Jenseits« des Lebens (wie sie auch Paulus als Out-of-bodyexperience in 2 Kor 12,1 ff. berichtet) zu den Erlebensmöglichkeiten des Menschen gehören.43 Viele Jenseitsreisen sind zwar nach vorgegebenen Traditionen ausgemalt, aber es muss immer wieder entsprechende Erlebnisse gegeben haben. Auch hier ist mit ihrer psychischen Erlebnisechtheit nichts über ihre Wahrheit gesagt.
- Ferner sind Halluzinationen nach dem Tode naher Menschen als »Belastungshalluzinationen« gut dokumentiert. Sie haben eine gewisse Analogie in den Ostervisionen. An deren subjektiver Erlebnisechtheit ist nicht zu zweifeln, zumal sie sich durch eine Reihe von Zügen von den verbreiteten Belastungshalluzinationen nach einem Todesfall unterscheiden: Sie vermehren sich intersubjektiv und liegen in verschiedenen Formen (als Einzel- und Gruppenvision) vor.44
Aber auch hier gilt: Welche Einsichten auch immer in der Gegenwart gewonnen werden können, sie können nicht einfach als Modell dienen, aus dem deduktiv die Lücken unserer Quellen gefüllt werden. Vielmehr können alle Modelle nur im Sinne eines analogischen Verstehens verwandt werden: Sie müssen sich durch Anwendung bewähren und verändern. Dieses Verfahren ist ein »kontrollierter Anachronismus«,45 der zu jeder Geschichtswissenschaft gehört: Wir stellen immer Fragen, die sich die Menschen in vergangenen Zeiten nicht gestellt haben, und gewinnen dadurch neue Erkenntnisse. Vielleicht entdecken wir gerade durch sie jene historischen Züge, aufgrund derer vergangene Menschen nicht nur ihrer Zeit ähnlich gewesen sind, sondern aufgrund derer sie über ihre Zeit hinauswiesen. Dabei ist die Kulturanthropologie ein unersetzliches Korrektiv. Sie liefert in Feld- und Geschichtsforschung erhobene Analogien und rekonstruiert dabei das uns fremde Regel- und Wertgefüge, innerhalb dessen wir fremdes und vergangenes psychisches Leben verstehen und erklären können. Sie ist die Wissenschaft mit der größten Sensibilität für das Verstehen und Missverstehen des Fremden und deshalb der beste Schutz vor allzu schnellen Anachronismen und Ethnozentrismen.46

4) Der Reduktionismusvorwurf

Der Reduktionismusvorwurf kann als eine Variante des Anachronismusvorwurfs aufgefasst werden. Reduktionismus besteht oft darin, dass Fremdes an bestimmte Theorien unserer Kultur assimiliert wird und als eigenständiges Phänomen verschwindet. Die psychologische Erforschung der Religion löst oft Befürchtungen oder Hoffnungen aus, sie würde Religion durch Rückführung auf psychische Wünsche und Konflikte endgültig »erklären« und entlarven. Gott werde als Projektion des Vaters oder einer inneren Instanz, des Über-Ichs, gedeutet.47 Religion werde als subtile »Politik« entlarvt, mit der Menschen andere Menschen gegen ihre Interessen steuern,48 oder als Illusion, mit der sie sich selbst manipulieren. Mit solchen Deutungen wird die Religion an Kategorien unserer säkularisierten Welt »assimiliert«. Nun besteht kein Zweifel, dass Religion voll Manipulationen und Selbsttäuschungen ist. Aber wer Geld fälscht, setzt echtes Geld voraus.49 Außerdem darf man nie vergessen: Gegenwärtige Legitimationsgefechte über die Religion und religionswissenschaftliche Erkenntnisgewinne sind nicht dasselbe, auch wenn sich beides gegenseitig befruchtet. Auch hier kann uns eine Kulturanthropologie, die sich als Teil unserer Kultur reflektiert, sensibel dafür machen, dass hinter unseren subtilen intellektuellen (religionskritischen wie religionshermeneutischen) Analysen Machtansprüche stehen können. Wir sind oft so vorsichtig und zurückhaltend bei der Anwendung moderner Kategorien geworden, dass man betonen muss: Reduktionismen sind nicht an sich verwerflich. Schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es einen Zusammenhang zwischen Gottes- und Vaterbild geben muss. Aber das ist trivial. Verglichen damit hat die These, es gäbe einen Zusammenhang von Sinaigebot und Kastrationskomplex, zweifellos einen größeren intellektuellen Unterhaltungswert, aber deshalb keinen höheren Wahrheitswert. Damit kommen wir zum Trivialitätsverdacht.

5) Der Trivialitätsverdacht

Der Trivialitätsverdacht sagt, dass die Psychologie oft nur herausfindet, was man ohnehin schon weiß. Dieser Vorwurf wird bei vielen Phänomenen gegenstandslos, die in der Kulturanthropologie eine große Rolle spielen: Bei Exorzismen, Glossolalie, Visionen und Entrückungszuständen, Geisterglaube und Magie gestehen die meisten zu, dass Psychologie zur Erklärung angebracht wäre. Leichter »zugängliche« Erscheinungen wie Blick und Gruß werden dagegen oft erst durch kulturanthropologische Verfremdung als Teil einer anderen Kultur erkannt. Das vermeintlich Triviale wird manchmal erst durch die Wissenschaft zu etwas Erklärungsbedürftigem.50 Wie wenig trivial Religionspsychologie sein kann, zeigt folgende Überlegung: Wenn Religionspsychologie wirklich die Möglichkeit religiösen Erlebens aufweisen kann, würde sie einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Religionswissenschaft und Theologie leisten. Nachdem religiöse Erfahrung in der traditionellen Religionsphänomenologie im Mittelpunkt stand und Religion sogar als »Erleben des Heiligen« definiert wurde, wird sie in der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft heute ganz gering bewertet: Im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe fehlt ein Artikel »Erfahrung«. Dasselbe gilt für die (oft naturalistisch argumentierende) kognitive Religionswissenschaft: Sie untersucht die Verbreitung religiöser »kontraintuitiver Ideen« unabhängig von ihrem Erfahrungsgehalt. Die traditionelle Theologie steht der religiösen Erfahrung ohnehin skeptisch gegenüber, sofern es sich nicht um Erfahrung des Wortes Gottes handelt.51 Wenn aber eine empirische Religionspsychologie heute mehrere Kapitel der religiösen Erfahrung widmet,52 sollte das nachdenklich machen. Könnten religionswissenschaftliche und theologische Fachleute nicht blind gewesen sein, so dass der unbefangene Blick des Empirikers ein notwendiges Korrektiv ist? Wenigstens wird die hier vorgelegte Psychologie der urchristlichen Religion dem religiösen Erfahren und Erleben eine wichtige Rolle zuschreiben.
 
Mit all diesen Überlegungen lassen sich die methodischen Grenzen einer historischen Religionspsychologie nicht überwinden. Sie bleibt methodisch von der empirischen gegenwartsbezogenen Psychologie unterschieden. Sie wird die große Erfolgsgeschichte der empirischen Psychologie nicht wiederholen können, aber sie kann in ihren Grenzen Erfolg haben, wenn sie dieselbe Entschlossenheit zur Überprüfung aller Aussagen an den Quellen zeigt wie die gegenwartsorientierte Psychologie, die ihre Aussagen rigoros an ihren Daten überprüft. Sie handelt insofern in demselben wissenschaftlichen »Geist« wie die empirische Psychologie.53

II. Der reiche Gegenstand einer Psychologie des Urchristentums: Was untersucht eine historische Religionspsychologie?

Der methodischen Armut und Bescheidenheit der historischen Religionspsychologie steht m. E. ein inhaltlicher Reichtum gegenüber: die Religion in ihrer ganzen Fülle und Lebensbedeutsamkeit. Um etwas von diesem Reichtum des Gegenstandes anzudeuten, skizziere ich fünf Leitgedanken, die dem hier vorgelegten Versuch einer Psychologie der urchristlichen Religion zugrunde liegen: (1) die Annahme, dass sich seit der »Erfindung des inneren Menschen« in der frühen Antike religiöses Erleben und Verhalten ausdifferenziert hat; (2) die Annahme von vier Faktoren der Religiosität, nämlich Erfahrung, Mythos, Ritus und Ethos; (3) die Annahme von zwei Stufen des Religiösen: Normalreligiosität und Grenz- bzw. Extremreligiosität; (4) die Annahme von zwei extremreligiösen Richtungen im Urchristentum, dem prophetischen Radikalismus und der mystischen Gnosis; (5) die Annahme einer christologischen Integration der vielen Varianten religiösen Erlebens und Verhaltens im Urchristentum.

1. Die Selbstauslegung von Menschen: Die Erfindung des inneren Menschen54