Volker Gerhardt
Licht und Schatten der Öffentlichkeit
Voraussetzungen und Folgen der digitalen
Innovation
Wiener Vorlesungen im Rathaus
Band 176
Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien
von Hubert Christian Ehalt
Vortrag im Wiener Rathaus
am 17. April 2013
Copyright © 2014 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
eISBN 978-3-7117-5224-6
ISBN 978-3-85452-576-9
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www.picus.at
Die Wiener Vorlesungen im Rathaus
Zum Verhältnis von Öffentlichkeit, Individualität und Freiheit im digitalen Zeitalter Vorwort
Licht und Schatten der Öffentlichkeit Voraussetzungen und Folgen der digitalen Innovation
I
1. Vorbemerkung zum Begriff und seiner Bewertung
2. Denken und Sprechen sind öffentlich
3. Kleiner Exkurs zu Licht und Schatten
4. Der archaische Dualismus der Medienkritik
5. Zu Licht und Schatten der Öffentlichkeit
6. Kleiner Exkurs über Gut und Böse
7. Öffentlichkeit als Conditio sine qua non der Politik
8. Die Öffentlichkeit der Kultur
II
1. Beschleunigung
2. Das Ende der Utopien
3. Technik und Kultur
4. Kultur als Form der Natur
5. Die weltoffene Soziomorphie des Bewusstseins
6. Die Weltöffentlichkeit des Bewusstseins
7. Die Offenheit des individuellen Bewusstseins
8. Die individuelle Wahrung der eigenen Freiheit
Der Autor
Am 2. April 1987 hielt der bedeutende polyglotte deutsche Soziologe Prof. Dr. René König im Rahmen der Tagung »Wien – die Stadt und die Wissenschaft« einen Vortrag im Wiener Rathaus zum Verhältnis von Stadt und Universität. In seinem Referat gab René König den Akteurinnen und Akteuren der Wiener Stadtpolitik und -verwaltung den Rat, Wien möge seine Universitäten als Impulsgeber intellektueller Kultur in die Stadt »einnisten«. Die Stadt Wien folgte diesem Ratschlag durch die Initiierung zahlreicher Förderungsinitiativen, durch die Gründung von sechs neuen Wissenschaftsförderungsfonds, durch die Wissenschaftsfundierung ihrer Verwaltungsarbeit und last but not least durch eine Vortragsreihe, die »Wiener Vorlesungen«, das Dialogforum der Stadt Wien an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Die Wiener Vorlesungen beschäftigen sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit. Die Wissenschaften kommen in immer kürzeren Zeiträumen zu eindrucksvollen Ergebnissen, die sehr oft in für Bürgerinnen und Bürger interessante Anwendungen münden. Die Wirksamkeit der Wissenschaften bietet aber auch Probleme, die jedenfalls in immer stärkerem Maß eine Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit Voraussetzungen und Folgen von Forschung notwendig machen.
Aus den Wiener Vorlesungen ist ein intellektuelles Netz aus Veranstaltungen, Publikationen und TV-Sendungen geworden. Die Vorlesungen waren als Projekt der Wissenschaftsvermittlung, der Aufklärung, aber auch der Kritik geplant, und sie arbeiten an diesen Zielsetzungen durch ständige Selbstreflexion, Methoden- und Formatwechsel, vor allem aber durch die Einladung von Vortragenden, die eine interessante Botschaft haben. Somit war das Konzept der Wiener Vorlesungen von Beginn der Initiative an klar und prägnant: Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Die Wiener Vorlesungen skizzieren nun seit Anfang 1987 vor einem immer noch wachsenden Publikum in dichter Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit. Das Faszinierende an diesem Projekt ist, dass es immer wieder gelingt, für Vorlesungen, die anspruchsvolle Analysen liefern, ein sehr großes Publikum zu gewinnen, das nicht nur zuhört, sondern auch mitdiskutiert.
Das Wiener Rathaus, Ort der kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität. Das Publikum kommt aus allen Segmenten der Bevölkerung; sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer sind in den akademischen Feldern der Universitäten beheimatet; das Wichtige an diesem Projekt ist jedoch, dass auch sehr viele Menschen zu den Vorträgen kommen, die sonst an wissenschaftlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Das Rathaus ist ein guter Vortragsort, viele Besucherinnen und Besucher der Wiener Vorlesungen identifizieren das Rathaus als einen »Ort ihrer Angelegenheiten« und sie verstärken durch ihre Anwesenheit den demokratischen Charakter des Hauses.
Die Referentinnen und Referenten der Wiener Vorlesungen sind Persönlichkeiten, die ihre Wissenschaft und ihr Metier durch die Fähigkeit bereichert haben, Klischees zu kritisieren und zu zerschlagen und weit über die Grenzen ihres Faches hinauszusehen. Das Besondere an den Wiener Vorlesungen liegt auch in dem dichten Netz an kollegialen und oft freundschaftlichen Banden, die die Stadt zu einem wachsenden Kreis von Forscherinnen und Forschern und Intellektuellen in aller Welt knüpft.
In den fast achtundzwanzig Jahren des Bestehens der Wiener Vorlesungen ist das Interesse an Wissenschaft ständig gewachsen. Die Wiener Vorlesungen haben dieses Interesse aufgegriffen und verstehen sich zunehmend als Schnittstelle zwischen der Forschung und einer an Wissenschaft interessierten Öffentlichkeit.
Die Vortragenden – bisher etwa sechstausend – kamen und kommen aus allen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt, und die Stadt Wien schafft mit der Einladung prominenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre kontinuierliche Einbindung in die weltweite »scientific community«. Für die Planung und Koordination der Wiener Vorlesungen war es mir stets ein besonderes Anliegen, diese freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen, zu entwickeln und zu pflegen.
Das Anliegen der Wiener Vorlesungen ist eine Schärfung des Blicks auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit. Sie vertreten die Auffassung, dass Kritik ein integraler Bestandteil der Aufgabe der Wissenschaft ist. Eine genaue Sicht auf Probleme im Medium fundierter und innovativer wissenschaftlicher Analysen dämpft die Emotionen, zeigt neue Wege auf und bildet somit eine wichtige Grundlage für eine humane Welt heute und morgen. Das Publikum macht das Wiener Rathaus durch seine Teilnahme an den Wiener Vorlesungen und den anschließenden Diskussionen zum Ort einer kompetenten Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart, und es trägt zur Verbreitung jenes Virus bei, das für ein gutes politisches Klima verantwortlich ist.
Die Wiener Vorlesungen analysieren mit dem Wissen um die unterschiedlichen zeitlichen Bedingungshorizonte der Gegenwart (Naturgeschichte, Sozialgeschichte, Ereignisgeschichte) die wichtigen Probleme, die wir heute für morgen bewältigen müssen. Wir sind uns bewusst, dass die Wirklichkeit der Menschen aus materiellen und diskursiven Elementen besteht, die durch Wechselwirkungsverhältnisse miteinander verbunden sind. Die Wiener Vorlesungen thematisieren die gegenwärtigen Verhältnisse als Fakten und als Diskurse. Sie analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen.
Hubert Christian Ehalt
Auf der Agora, in den Universitäten, in Parlamenten, Parteien, demokratischen Gremien, in Büchern und Zeitungen, in Salons und Kaffeehäusern und zuletzt im weltweiten Kommunikationsnetz gab und gibt es den Wunsch, Sachverhalte mit Wahrheitsanspruch zur Diskussion zu stellen. Öffentlichkeit, die Möglichkeit ihrer Entfaltung, wurde in der historischen Entwicklung – und sehr dynamisch in der Neuzeit – immer größer. Öffentlichkeit heißt, dass Menschen erreicht und informiert werden, dass es die Möglichkeit des Austausches auf Augenhöhe der gemeinsamen Entwicklung von Meinungen, des Widerspruchs gibt. Tendenziell möchte Öffentlichkeit alles erfassen, alles ausleuchten, alle Individuen dieser Welt erreichen.
Schon die kleinsten Öffentlichkeiten waren durch Widerspruch, Analyse und Diskussion, Dialektik und unterschiedliche Qualität der Beiträge und Argumente gekennzeichnet. Historisch oszilliert Öffentlichkeit zwischen Offenheit und Freiheit einerseits und Propaganda, Parteien und Cliquenbildung andererseits. Das Fundament der Öffentlichkeit ist die Zulassung des Widerspruchs, der Gegenrede, der Ermittlung des Richtigen im Wettstreit der Meinungen. Gerade dieser Widerspruch, die Möglichkeit des Widerspruchs, die Möglichkeit, Argumente zu schärfen und Argumentationen gegeneinander antreten zu lassen, wurde zum Kennzeichen des Öffentlichen. Wenn Zeitungen zu Meinungskonzernen mutieren, in denen »Wahrheit« und redaktionelle Meinung (käufliche) Ware werden, verliert Öffentlichkeit an Bedeutung; eine kritische Bürgerschaft, investigativer kompromissloser Journalismus, zivilgesellschaftliches Engagement hingegen lassen die Aktien des Öffentlichen im Wert steigen.
Öffentlichkeit war stets von dem Anspruch getragen, der Vernunft in einer autonomen, herrschaftsfreien, nicht kriegerischen Auseinandersetzung zum Sieg zu verhelfen. Von Jürgen Habermas stammt das Diktum der herrschaftsfreien Kommunikation. Da ist schon etwas dran. Wahrheit einerseits, Macht und Herrschaft und die Durchsetzung ihrer Interessen andererseits sind nicht ein konturloser Einheitsbrei, in dem (jeweilige) Wahrheiten in einem instrumentellen beziehungsweise funktionalen Verhältnis zur Macht stehen. Die Vernunft kann auf der Seite der Schwächeren sein und diese bei der Durchsetzung zum Beispiel demokratischer Werte oder bei der Einhaltung der Menschenrechte unterstützen und zum Sieg führen. Das Überleben der Menschheit kann davon abhängen, dass die Vernunft, die vernünftig(er)en Argumente – auch wenn sie von den weniger Mächtigen, den Ohnmächtigen, vertreten werden – sich durchsetzen. Vernunft und Wahrheit einerseits, Macht und Herrschaft andererseits sind jedenfalls nicht per se zwei Seiten derselben Medaille. Rationalität hat ein Machtkalkül, die »Nachtseite der Vernunft«, die Dialektik der Aufklärung. Vernunft und Ratio sind jedoch nicht nur in den Dienst genommene Vasallen der Macht, sie zeigten sich in der Geschichte immer auch in einem unbeugsamen Streben nach einer Wahrheit, die den Sachverhalten, den Beziehungen und den Dingen selbst innewohnt. Die in den Dienst genommene Wahrheit in Gestalt einer instrumentellen Rationalität und die Vernunft der Aufklärung, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität anstrebt, gehören zwar zusammen, weil es in der menschlichen Gesellschaft das »chemisch Reine«, Objektive, Vernünftige nicht geben kann; Wahrheit als Fundament von Öffentlichkeit ist jedoch immer kritisch selbstreflexiv auf einem Pfad, dessen Ziele Unabhängigkeit und Freiheit, Befreiung und Offenheit sind.
Die Gestaltung, Entwicklung und Akzentuierung von Öffentlichkeiten schwanken daher zwischen den unabhängigen und den gesellschaftlich abhängigen Wahrheiten. Öffentlichkeiten waren daher historisch wesentlich auch eine Frage der kulturellen Hegemonie. Was richtig und gültig war und sein konnte, hing von einem Wissen ab, das Herrschaftswissen (im Sinn von Michel Foucault) war, aber auch mit der selbstreflexiven Kritik an diesem Wissen ausgestattet war.