DAS BUCH

Samoa 1905: Henriette ist mit ihren Eltern in die deutsche Südsee-Kolonie ausgewandert. Ihr innigster Wunsch ist es, Reiseschriftstellerin zu werden, und das Leben in der Südsee erscheint ihr wie der erste richtige Schritt. Doch dann muss ihre Zwillingsschwester Sophie schwer krank in Deutschland zurückbleiben, und ohne sie fühlt sich Henriette auf dieser paradiesischen Insel vollkommen verloren. Noch dazu setzt Henriettes Vater alles daran, sie schnellstmöglich zu einer Heirat zu bewegen. Und er hat auch schon einen Kandidaten für sie ausgesucht: den Deutschen Ernst-Otto Hofmann, der höchst zwiespältige Gefühle in Henriette weckt. Sie spürt, wie ihr Traum vom Schreiben in immer weitere Ferne rückt. Erst als sie eines Nachts am Strand einem jungen Samoaner begegnet, der sie in die Geheimnisse und Legenden der zauberhaften Insel einführt, fasst sie langsam wieder Mut. Von Tamatoa lernt sie, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und er schenkt ihr eine ganz besondere blaue Muschel, die mit ihrer magischen Energie Henriettes Leben verändert. Doch dann ist es genau diese Begegnung, die Tod und Verderben über die ganze Insel bringt. Henriette flieht in das quirlige San Francisco, wo sie im Hotel ihrer Tante Berta ein neues Leben beginnen will und darauf hofft, endlich ihre Schwester wiederzutreffen. Doch niemand entkommt seiner Vergangenheit …

DIE AUTORIN

Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften und arbeitete dann als Redakteurin beim Fernsehen. Heute schreibt sie Romane für Jugendliche und Erwachsene, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt.

Nach Die Hexengabe, Der Duft der Wüstenrose und Die Insel des Mondes ist Der Klang der blauen Muschel ihr vierter Roman im Diana Verlag. Beatrix Mannel lebt mit ihrer Familie in München.

Mehr Infos unter www.beatrix-mannel.de

BEATRIX MANNEL

Der Klang

der blauen Muschel

ROMAN

Das Gedicht von John Keats in der deutschen Übersetzung:

»John Keats. Werke und Briefe«, Reclam Stuttgart 1995, S. 177,

übersetzt von Mirko Bonné

Im Original: Keats, John: Complete Poems and Selected Letters

of John Keats, Modern LIB, London 2001

Originalausgabe 08/2014

Copyright © 2014 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Carola Fischer

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv | © shutterstock

Karte auf der zweiten Umschlagsseite

© THEPALMER/E+/Getty Images

Karte auf der dritten Umschlagsseite

© Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv

Illustrationen (Innenteil) | © Helena Eichlinger

Satz | Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ePub-ISBN 978-3-641-13181-4

www.diana-verlag.de

Meinen Roman Der Klang der blauen Muschel

widme ich allen Schwestern und ganz besonders

der besten Schwester der Welt: Ulrike Mannel

PROLOG

München, 1905

Henriette fühlte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrer rechten Hand. Gleichzeitig bemerkte sie, dass eine Welle von Energie durch ihren Körper strömte, die ihr Herz schneller schlagen ließ, obwohl sie völlig ruhig auf ihrer Ottomane saß, wo sie gerade den Roman »Ruf der Wildnis« zu Ende gelesen hatte. Das Kribbeln in der Hand wurde stärker, sodass sie unwillkürlich hinschauen musste, doch alles sah aus wie immer.

Einbildung, alles nur Einbildung! Das war nur ihre blühende Fantasie. Vielleicht fing sie auch noch an zu bellen, wie die Hauptfigur in dem Buch. Also hör jetzt auf, befahl sie ihrer Hand. Aber das Kribbeln wurde mächtiger.

Sie räusperte sich und sah zu ihrer missgelaunten Schwester hinüber, der sie eigentlich von dem berührenden Ende des Romans erzählen wollte. Nachdem Sophie auf ihr Räuspern nicht reagierte, schlug sie mit einem Knall das Buch von Jack London zu.

Sophie saß mit grimmig zusammengepressten Lippen in einem tiefen Sessel vor dem Fenster, wo sie ein Taschentuch mit Rosenmustern besticken musste. Sie verabscheute Handarbeiten, doch ihre Großmutter verabscheute es noch mehr, wenn man ihr widersprach. Leider betrachtete Christiane-Auguste jeden eigenständigen Gedanken der Zwillinge als Affront. Wer ihr nicht zustimmte, war ihr Feind und musste bestraft werden.

Henriette betrachtete wieder ihre rechte Hand, die sich abwechselnd taub und kribbelig anfühlte, und schüttelte sie, damit die unsichtbaren Ameisen endlich verschwanden.

Sophie, bald sind wir sie los, und dann müssen wir nie wieder tun, was Großmama will, wollte Henriette sagen, aber es kam kein Wort aus ihrem Mund. Sie versuchte es noch einmal, schließlich wollte sie Sophie vom Schluss des Romans erzählen, wo sich der Hund Buck endlich dem Wolfsrudel anschloss und in Freiheit leben konnte, aber sie brachte kein Wort hervor. Gleichzeitig spürte sie in ihrer rechten Hand, wie das Kribbeln in ein Zucken überging.

Wie unter Trance stand sie von der Ottomane auf und ging zu dem kleinen Damensekretär hinüber, wo ihre Hand sofort nach dem Füllfederhalter griff, Tinte in den Kolben pumpte und anfing, fremde Worte aufzuschreiben.

Sophie, die glaubte, Henriette wolle einen Scherz machen, um sie aufzuheitern, ließ das verhasste Stickzeug sinken und grinste Henriette an. »Ja, Schwesterchen, du hast recht. Großmutter verwandelt uns, wir sind für sie nichts anderes als automatische Püppchen«, sagte sie, stand auf und drehte übertrieben monotone Pirouetten wie die Ballerina auf einer Spieldose. Aber dann bemerkte sie, dass mit Henriette etwas nicht in Ordnung war, hielt inne und eilte zu ihr zum Sekretär.

»Henriette, mein Maischwesterherzchen, was ist denn los?«

Henriette bemühte sich, den Mund aufzumachen, doch sie konnte nichts sagen, nur schreiben, ihr ganzer Körper benahm sich, als würde er einem Geist gehören, der von Henriette Besitz ergriffen hatte, jedoch am meisten Macht über ihre Hand besaß.

Sophie legte sanft die Hände auf die Schultern ihrer Zwillingsschwester. »Mai«, flüsterte sie, »um Himmels willen, was machst du da?«

Henriette zuckte mit den Schultern, sie konnte nicht sprechen, alles, was sie sagen wollte, verebbte irgendwo in ihrer Kehle. Alle Kraft strömte in ihre Hand, in den Füllfederhalter, ihre Finger glitten über das Papier, wo sie Buchstaben zu völlig fremden Worten aneinanderreihte.

»Tut das weh?«, fragte Sophie. Henriette schüttelte den Kopf.

»Dann mach es, du willst doch schreiben! Lass es einfach geschehen, sperre dich nicht dagegen. Ich kann fühlen, dass du dich sträubst, es ist bestimmt gleich vorbei.«

Henriette versuchte es, und Sophie hatte recht, wenn sie keinen Widerstand leistete, war es leichter. Aber ihr Herz hämmerte, und ihre Füße zuckten unter dem Sekretär, als würde etwas durch sie hindurchströmen.

Atemlos sahen die Schwestern zu, wie Henriettes Hand schrieb, die Worte flogen nur so über das Papier.

O le Tala ia Tapuitea

O le planeta o Tapuitea a tu mai i le afiafi, ua taua o le matamemea; a tu mai le vaveao, ua taua lao le fetuao. O le ulugalii sa nonofo i Falealupo …

Henriette war unendlich dankbar, dass Sophie hinter ihr stehen blieb und ihre Schultern liebevoll drückte, denn sie fühlte sich, als ob man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.

Wie konnte sich ein Teil ihres Körpers selbstständig machen, und wie konnte sie etwas schreiben, das sie nicht verstand, wie war das möglich?

Während ihre Hand Zeile um Zeile füllte, fielen ihr auf einmal die Augen zu, und Bilder stiegen empor, wie in einem Traum, aber auch wieder nicht wie in einem Traum. Sie sah einen glitzernden Nachthimmel über einem schwarzen Meer, in dem alle Sterne golden schillerten. Nur einer von ihnen pulsierte plötzlich rot, stärker und stärker, und schließlich fiel ein einziger Tropfen Blut aus dem Stern in das Meer unter dem Nachthimmel und verwandelte die Dunkelheit in eine flammende Dämmerung, aus der die Sonne emporstieg.

Plötzlich wurde ihre Hand ruhiger, der Füllfederhalter rutschte aus ihren Fingern und fiel auf das Papier. Sie öffnete die Augen und sah, dass alles mit Tintenflecken verunziert war.

Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um, der Tränen in den Augen standen, die sie aber schnell wegblinzelte.

Gemeinsam betrachteten sie das Geschriebene.

»Es sieht nicht mal aus wie meine Schrift.« Henriettes Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an, sie hatte plötzlich großen Durst.

»Diese Sprache kenne ich nicht, das ist nicht europäisch«, stellte sie fest und stand auf, um sich ein Glas Wasser aus der Karaffe einzuschenken, die auf dem Tisch vor der Ottomane stand. Sie taumelte, aber Sophie war sofort bei ihr und stützte sie.

»Es geht schon.« Henriette trank einen großen Schluck und merkte, wie sie langsam wieder ruhiger wurde. Nachdem alles vorbei war, spürte sie nun eher Neugier als Angst.

»Was das wohl zu bedeuten hat?«

»Ganz einfach, du bist verrückt«, sagte Sophie grinsend, »du bist eine wahnsinnige Hexe!« Sie nahm das Blatt in eine Hand und raffte mit der anderen ihre Röcke und begann, die Worte laut zu singen. Dabei lief sie im Kreis herum und stampfte bei jedem »O« lautstark mit den Füßen auf.

Obwohl sich Henriette immer noch sehr flau fühlte, musste sie bei dem wilden Anblick ihrer Schwester lachen. Mit ihr zusammen war wirklich alles zu ertragen, sogar so mysteriöse Vorgänge wie der gerade eben.

Urplötzlich kamen ihr Bedenken, sich über diese fremden Worte so lustig zu machen.

»Sophie, tu das nicht!«

»Was ist denn?« Sophie ließ sich schwer atmend auf die Ottomane fallen.

»Was, wenn das eine Verfluchung ist oder so etwas wie das Vaterunser in Zulusprache oder in dieser eigenartigen Schnalz- und Klicksprache der Nama, über die ich neulich erst gelesen habe?«

»Ja, natürlich«, Sophie schlug sich an die Stirn, »Gott, dass mir das nicht gleich klar war! Du bist Moses, und dein Füller war der brennende Dornbusch!«

»Sophie!«

»O nein, besser, du bist Mohammed, und die Engel der Offenbarung sind in den Füller gefahren!« Sophie zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und fächelte sich Luft zu, dann legte sie ihren Arm um Henriette und streichelte versöhnlich die Hand, die sich gerade so sonderbar benommen hatte. Es beruhigte Henriette, dass ihre Schwester neben ihr saß und wie immer nach Honig und frisch gemähtem Gras duftete.

»Es tut mir leid«, sagte Sophie. »Entschuldige, ich musste das irgendwie loswerden, du hast mir ganz schön Angst gemacht. Ich bin sicher, wir können herausfinden, welche Sprache das ist.«

»Aber selbst wenn, wie können wir erfahren, was es zu bedeuten hat?«, fragte Henriette.

Sophie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, das alles kommt nur von deinem ständigen Lesen. Du bist überspannt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass du dich insgeheim als Reiseschriftstellerin siehst. Möglicherweise hast du irgendwo etwas aufgeschnappt, was zu diesem unbeabsichtigten Schreibfluss geführt hat. Warst du nicht neulich erst in dieser Völkerschau, wo man Menschen aus den Kolonien anstarren darf, das könnte doch …« Sophie hielt mitten im Satz inne. Ein Leuchten ging plötzlich über ihr Gesicht. »Ich hätte eine Idee, was wir da tun könnten!«

Neugierig ließ Henriette sich von Sophie erklären, was sie vorhatte, und nach anfänglichem Zögern fand sie es sogar sehr vernünftig, der Sache auf den Grund zu gehen. Auch wenn es ihr eine sehr ungewöhnliche Methode zu sein schien.

Doch wenn Henriette auch nur geahnt hätte, welchen Preis sie beide dafür zahlen würden, hätte sie sich niemals darauf eingelassen.

TEIL 1   Samoa

TEIL 1

Samoa

»O le upega e tautau, ae fagota.«

»Wenn du beim ersten Mal nicht erfolgreich bist,

versuch es, versuch es noch einmal.«

Samoanisches Sprichwort

»A thing of beauty is a joy for ever:

Its loveliness increases; it will never

Pass into nothingness; but still will keep

A bower quiet for us, and a sleep

Full of sweet dreams, and health, and quiet breathing.«

»Ein Ding von Schönheit ist ein Glück für immer:

Es nimmt noch zu an Liebreiz; es wird nimmer

Ins Nichts vergehen, doch hält’s uns alle Zeit

Ein ruhiges Plätzchen süßen Schlafs bereit,

Voll Träumen und gesundem, ruhigem Atem.«

John Keats, Endymion

1. KAPITEL

Henriette wachte in der Hitze der Nacht von seltsamen Vogelgeräuschen auf und blickte sich schlaftrunken in dem fremden Zimmer um. Durch die Gaze des feinmaschigen Moskitonetzes erschien alles wie traumverschleiert. Die hell lackierten Holzpaneele, die einfache Waschkommode mit dem Krug, der kleine englische Damensekretär, der wehende Leinenvorhang vor dem Fenster. Doch als ihr Blick das leere Bett ihrer Zwillingsschwester streifte, wurde sie sofort hellwach, schlug augenblicklich das Moskitonetz zurück und erinnerte sich vollständig an das, was geschehen war.

Wenn sie früher nachts aufgewacht war, konnte sie sicher sein, dass es ihrer Schwester Sophie genauso ging. Dann war eine zur anderen ins Bett geklettert, und sie hatten sich ihre Träume erzählt. Ihre glücklichen Träume waren sehr verschieden, während sie beide genau den gleichen Albtraum hatten. Den Traum vom Murmelmann. Ein Mann griff sich in seine Augenhöhle, wo Murmeln wuchsen, nahm eine Glasmurmel nach der anderen heraus und legte damit eine Spur auf der Erde, die so unwiderstehlich war, dass Henriette und Sophie ihr einfach folgen mussten, auch wenn sie genau wussten, dass diese Murmeln sie in den sicheren Tod führen würden. Immer erwachten sie schweißgebadet im Moment ihres Todes.

Zum Glück hatte Henriette heute Nacht nicht davon geträumt, denn Sophie war nicht da, um sie zu trösten. Und sie hoffte, dass ihre Schwester sich auch nicht mit diesem Traum herumquälen musste.

Sie vermisste Sophie nicht nur nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, sondern jede einzelne Minute. Niemand brachte sie zum Lachen, niemand debattierte mit ihr bis zum Wahnsinnigwerden darüber, ob es besser wäre, eine Heldin wie Jane Eyre oder Emma zu sein, oder welches Tier interessanter zu erforschen wäre: Pinguin oder Elefant, Spinne oder Schlange. Henriette seufzte voller Bedauern. Sie wusste, sie sollte lernen, sich damit zu arrangieren. Aber es fühlte sich an, als hätte man sie zweigeteilt.

Nur eine Hälfte ihres Herzens war hier auf der Insel, die andere war bei Sophie in München. Das war nun schon seit einhundertzweiundzwanzig Tagen und Nächten so.

Henriette gab sich einen Ruck, ging hinüber zum Fenster, vor dem sich der leichte Leinenvorhang im Nachtwind bauschte, schob ihn beiseite und blickte hinaus. Das also war ihre erste Nacht auf Samoa.

Am mondlosen Himmel funkelten die Sterne, ein unruhiges Blinken, das sich im zitternden Meer unterhalb des dunklen Gartens widerspiegelte. Verführerisch süßer Duft stieg ihr in die Nase und lockte sie nach draußen. Sophie hätte schon längst das stickige Zimmer verlassen, um ihr neues Zuhause zu erkunden. Obwohl ihre Schwester jünger war, allerdings nur ganze sieben Minuten, hatte sie sich immer schon mehr getraut als Henriette.

Sie schlich barfuß durch den Flur und stieg die Treppe in den großen Raum im Erdgeschoss hinab, dabei bemühte sie sich, keinen Lärm zu machen. Noch wusste sie nicht, welche Stufen knarzten und welche nicht, und zuckte einige Male überrascht zusammen. Schließlich hatte sie es geschafft und stand auf der weiß lackierten Veranda, die sich um das Haus zog.

Eine leichte Brise wehte durch ihr dünnes roséfarbenes Batistnachthemd und trocknete ihre verschwitzte Haut. Hier roch es nach Vanille und exotischen Blumen, deren Namen Henriette nicht kannte. Sie wünschte sich wieder, Sophie wäre bei ihr, denn die interessierte sich für Blumen. Angefangen hatte es damit, dass sich Sophie überlegte, ob man an der Wahl eines Blumenbouquets erkennen konnte, wer der richtige Verehrer war. Ihre Schwester hatte nie daran gezweifelt, dass die Verehrer bei ihr Schlange stehen würden. Aber – so ihre Theorie – nur der Richtige würde ihr genau das Blumenbouquet überreichen, bei dem sie nicht anders konnte, als sich zu verlieben. Deshalb hatte sie sich mit der Sprache der Blumen befasst und schließlich mit den Blumen an sich. Und als es dann beschlossene Sache war, dass sie ihren Eltern nach Samoa folgen sollten, hatte Sophie alles über die Flora der Südsee gelesen, was sie nur auftreiben konnte. Schließlich erwartete sie, auch dort von Anbetern umringt zu sein. Henriette musste bei dem Gedanken daran lächeln, denn damit hatte Sophie vollkommen recht. Obwohl sie nahezu gleich aussahen, zog ihre temperamentvolle Schwester immer zuerst alle Blicke auf sich.

Hier unten auf der Veranda konnte Henriette das Meer nicht sehen, aber sie hörte das Rauschen, das sie unwiderstehlich anzog. Sie lief den abschüssigen Rasen hinunter, der sich unangenehm stachlig in ihre Fußsohlen bohrte, weiter hinab zu dem kleinen Palmenwald, der das Grundstück vom Strand trennte.

Kokospalmen und Hibiskussträucher raschelten im Wind, als sie immer weiter Richtung Meer rannte. Hier zwischen den Palmen und Sträuchern war der Boden weich von den abgefallenen Blättern, und der Geruch von Rinde und Blüten vermischte sich zunehmend mit dem von Tang und feuchtem Meeressand.

Endlich lag die kleine Bucht vor ihr. Eingerahmt von schwarzen Lavasteinen, leuchtete der helle Sand in der Dunkelheit wie ein Wegweiser hin zum Wasser, das sich weit zurückgezogen hatte, denn es war Ebbe.

Oh, sie musste einfach eintauchen in das Meer und das Salz auf ihrer Haut fühlen. Henriette holte tief Luft, schürzte ihr Nachthemd, damit es nicht nass wurde, und rannte voller Vorfreude los.

Doch schon nach wenigen Schritten schrie sie laut auf. Der so trügerisch weich aussehende Sand war durchsetzt mit scharfen Muschel- und Korallenstücken, und etwas davon steckte in der Sohle ihres linken Fußes fest.

Sie fiel auf die Knie, sofort bohrten sich weitere scharfe Muschelstücke in ihre Haut, deshalb setzte sie sich auf ihr Nachthemd und betrachtete dann außer Atem ihren Fuß. Solange kein Druck auf ihn ausgeübt wurde, tat er nicht weh. Das Blut, das in dicken Tropfen hervorquoll, wirkte im fahlen Licht der Nacht schwarz.

Was, fragte Henriette sich jetzt, was hätten die von ihr so bewunderten Reiseschriftstellerinnen getan? Ida Pfeiffer, die sogar die Schrecken Madagaskars überlebt hatte, würde sicher den Fuß ins Meer halten und warten, bis die Blutung von allein aufhört. Aber auf dem Weg hinaus zur Brandung hätte sie nur weitere Verletzungen riskiert. Außerdem, Henriette grinste selbstironisch, wäre Ida Pfeiffer nie so dumm gewesen, hier barfuß herumzuspazieren.

Hinter ihr raschelte es. Erschreckt drehte sie sich um. Keinen Moment lang hatte sie daran gedacht, dass außer ihr noch jemand hier sein könnte, sie war davon ausgegangen, dass das alles noch zum Grundstück ihres Vaters gehörte.

Vor dem Wäldchen, das ihr nun auf einmal bedrohlich düster erschien, entdeckte sie die Silhouetten von drei Menschen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr Herz klopfte laut.

Der Größte der drei war ein breitschultriger junger Mann, die beiden anderen waren Mädchen. Zuerst zweifelte sie an ihrer Beobachtung, denn alle drei trugen Röcke, aber der Größere hatte so starke Schultern, dass es sich kaum um eine Frau handeln konnte.

Die Samoaner kamen näher, und Henriettes Herz schlug noch schneller, und sie erinnerte sich, worüber die Offiziere auf dem Schiff, mit dem sie von San Francisco hergefahren waren, am liebsten geredet hatten. Über die Kannibalen im nahen König-Wilhelms-Land und all die anderen Gräueltaten, die die Menschen in den neuen deutschen Kolonien einander, und vor allem den Weißen, antaten.

Aber du glaubst doch nicht im Ernst, Henriette, dass diese drei jungen Samoaner hierhergekommen sind, um dich zu einem Dämmerfrühstück zu verspeisen?

Die Samoaner waren stehen geblieben und flüsterten miteinander. Es klang kein bisschen angriffslustig, sondern eher, als wären sie belustigt.

Henriettes Angst löste sich auf wie Zucker in heißem Wasser. Sie schluckte und überlegte, was sie zu den ersten Samoanern, die sie in ihrem Leben kennenlernte, sagen konnte. Sie fühlte, dass es wichtig war, weil sie das niemals vergessen würde. Und sie wollte es richtig machen. Sophie, dachte sie, was würdest du tun?

Die drei kamen vorsichtig etwas näher, und Henriette konnte sie nun viel besser sehen. Der muskulöse Oberkörper des jungen Mannes war nackt und glänzte in der Dunkelheit. Die beiden Mädchen trugen helle Blusen zu ihren gemusterten Röcken, ihre glatten dunklen Haare waren ordentlich frisiert, und jede hatte eine weiße Blüte seitlich über die Ohren gesteckt.

Schlagartig wurde Henriette bewusst, dass sie nur ein durchsichtiges Nachthemd trug, während ihr langes Haar ungekämmt auf die nackten Schultern hing. Diese angeblichen Wilden wirkten sehr viel zivilisierter als sie selbst.

Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Und alle drei lächelten sofort zurück, als wären sie erleichtert. Sie näherten sich noch ein wenig, blieben etwa zwei Meter entfernt von ihr stehen und betrachteten sie genauso aufmerksam wie Henriette sie.

Eines der Mädchen deutete auf den Himmel und sagte etwas. Henriette folgte ihrem Finger mit den Augen. Dann sah sie es auch: Die Sonne machte sich bereit aufzugehen. Höchste Zeit! Sie musste unbedingt vor Sonnenaufgang wieder im Haus sein, aber sie wollte nicht einfach weglaufen, das wäre ihr unhöflich vorgekommen.

Henriette sagte das einzige Wort, das sie auf Samoanisch kannte und das, wenn sie sich recht erinnerte, eine Begrüßung war. »Talofa!«

Die drei wechselten Blicke, dann kicherten sie, als hätte Henriette etwas äußerst Komisches gesagt, und sie fragte sich, ob es eines dieser Worte war, das man durch eine falsche Betonung in etwas Peinliches verwandeln konnte. Obwohl die drei sehr viel Abstand voneinander hielten, wirkten sie vertraut, und Henriette schloss, dass sie Geschwister oder enge Verwandte waren.

»’O ai lou igoa?«, fragte dann das größere Mädchen. Sie schritt auf Henriette zu, deutete dann auf sich selbst und sagte: »Sina.« Dann stellte sie sich neben das kleinere Mädchen. »Ta-ufa«, sagte sie und zeigte mit der ganzen Hand auf den jungen Mann. »Ta-matoa.«

Danach nickte sie Henriette zu, verbeugte anmutig den Kopf und sah sie fragend an.

Was für höfliche Umgangsformen diese gefährlichen Kannibalen doch hatten, Henriette verbiss sich ein Lachen und beugte ebenfalls den Kopf, dabei fühlte sie deutlich, wie viel plumper ihre Bewegungen waren. Sie stellte sich vor: »Henriette-Viktoria Mayberg«, sagte sie und zeigte auf ihre Brust. Dann wiederholte sie, was sie gerade gelernt hatte, und deutete auf die entsprechende Person: »Ta-ufa, Ta-matoa und Sina.«

Die drei gaben sich Mühe, ihr erneutes Kichern zu unterdrücken, aber dann brach es aus Taufa so laut heraus, dass sich alle davon anstecken ließen, auch Henriette. Sophie, dachte sie, ich muss das für dich aufschreiben.

Sina räusperte sich und versuchte sich an Henriettes Namen, was für Henriette klang wie »Envi-ma-ii-ba«.

Das brachte sie auf eine Idee. Sophie nannte sie immer nur Mai, das war bestimmt sehr viel leichter als Henriette.

»Mai!«, stellte sie sich noch einmal vor.

»Ma-i«, wiederholten die beiden Mädchen und sahen dann Tamatoa auffordernd an.

Er konzentrierte sich, dann sagte er mit sehr viel tieferer Stimme, als Henriette erwartet hätte: »Mai!« Er lächelte ihr zu, dabei blitzte das Weiße in seinen Augen auf, und sein Mund gab den Blick auf schön geformte weiße Zähne frei.

Henriette mochte das Gefühl, das sein Lächeln in ihr auslöste, und gleichzeitig brachte es ihr zu Bewusstsein, dass sie sich wirklich dringend etwas anziehen sollte. Ihre Mutter bekäme bei ihrem Anblick eine Nervenkrise. Außerdem verfärbte sich der Himmel zusehends orange. Und so gern sie die Gesichter der Samoaner im hellen Tageslicht gesehen hätte, so klar war ihr auch, was sie zu erwarten hatte, wenn herauskäme, dass sie nur im Nachthemd zum Strand geschlichen war. Sie musste gehen, bevor es zu spät war.

Abrupt sprang sie auf, hatte durch die Ankunft der Samoaner völlig vergessen, was sie vorhin zum Hinsetzen gezwungen hatte. Durch den Druck auf ihren Fuß trat sich das scharfe Korallenstück noch tiefer in die Sohle, und der Schmerz flammte erneut durch ihren Körper. Sie stöhnte und sackte wieder in sich zusammen.

»Ma-i!«, riefen alle drei wie aus einem Mund. Sina und Taufa hockten sich vor sie in den Sand. Sina nahm den schmalen, sehr weiß wirkenden Fuß in ihre Hand, betrachtete ihn und sagte etwas zu den anderen, was diese wieder zum Kichern brachte. Henriette trieb es die Schamesröte ins Gesicht, weil sie nicht wusste, was an ihrem Fuß so lustig sein sollte. Wenn nur ihren Eltern nicht zu Ohren kam, dass sich die älteste Maybergtochter in der ersten Nacht auf der Insel den Wilden halb nackt präsentiert hatte, noch bevor sie überhaupt in die Gesellschaft der Kolonien eingeführt werden konnte.

Aber dann dachte sie daran, womit sie einmal ihr Geld verdienen wollte, und fand es ausgesprochen mutig, ihren Fuß in die Hand von Kannibalen zu legen.

Der Himmel verwandelte sich nun dicht über dem Meer in rote und gelbe Streifen, während er weiter oben grau wurde. Wolken tauchten am Horizont auf, zart wie Tupfen aus lila Puder.

Sina legte den Fuß sanft ab, erhob sich und rannte zu dem Palmenwäldchen, während die jüngere Schwester im heller werdenden Licht so behutsam das Korallenstück aus ihrem Fuß entfernte, dass Henriette es erst bemerkte, als Taufa das scharfe, blutverschmierte Korallenstück triumphierend durch die Luft schwenkte.

Tamatoa setzte sich mit gekreuzten Beinen in einiger Entfernung neben Henriette und richtete den Blick diskret auf das Meer, das jetzt die Farben des Himmels aufnahm und wie flüssiges Gold schimmerte.

»Ma-i!«, flüsterte er ein paarmal. Henriette betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Sein Profil war ausgewogen, ein kräftiges Kinn ging einher mit einer breiten, aber wohlgeformten Nase. Sie versuchte, sich alles gut einzuprägen, damit sie es Sophie detailgetreu berichten konnte. Nur deshalb musste sie so gründlich hinschauen. Natürlich. Sie sah noch genauer hin, und ihr Blick glitt zu seinem Rock, wo sie ein interessantes Linienmuster auf seinem nackten Oberschenkel entdeckte, das er aber sofort mit seinem Rock verbarg, als er ihren Blick bemerkte. Ihre Wangen wurden heiß.

Was fiel ihr ein! Eine Dame benahm sich nicht so, selbst dieser Samoaner bewies mehr Schamgefühl als sie. Tamatoa, ermahnte sie sich, ich kenne seinen Namen, ich sollte nicht dieser Samoaner denken.

Besorgt betrachtete sie den Himmel, an dem die Sonne gerade wie ein gleißend silberroter Ball aufging. Sie hätte es wissen müssen, die Dämmerung in der Südsee dauerte nie länger als zwanzig Minuten. Sie versuchte aufzustehen, aber Taufa hinderte sie sanft daran und deutete auf Sina.

Sina kam zurück, in der einen Hand hielt sie mehrere sattgrün glänzende längliche Blätter, in der anderen schwang sie ein Büschel ovaler gerippter Blätter. Schon im Gehen fing sie an, die länglichen Blätter zu zerkauen, dabei rief sie den anderen beiden melodisch klingende Worte zu, woraufhin diese sich erhoben und etwas zu suchen anfingen.

Außer Atem gelangte Sina zu Henriette, schlug ihren Rock sorgfältig zwischen den Beinen zusammen, kniete sich dann neben sie in den Sand, prüfte, ob die Wunde an ihrem Fuß sauber war, und schmierte die zerkauten Blätter darauf. »Aloalo Tai«, erklärte sie, als müsste Henriette wissen, was das bedeutete.

Zuerst zuckte sie zurück, aber dann stellte sie überrascht fest, wie angenehm sich dieser Brei auf der Wunde anfühlte.

Sina beobachtete sie aufmerksam, und als Henriette ihr zunickte, legte sie die großen Blätter auf die Wunde. »Noni«, erklärte sie, und dann kamen auch schon Tamatoa und Taufa angerannt und brachten Halme, die sie flugs zu einer Schnur flochten, mit der sie die Blätter so fest umwanden, dass Henriette aufstehen und dann laufen konnte, ohne dass sich der natürliche Blattverband löste.

»Danke.« Sie ärgerte sich, dass sie das samoanische Wort dafür nicht kannte. Sie deutete eine Verbeugung an, und dann machte sie sich auf den Rückweg. Ein Teil von ihr wollte rennen, weil sie hoffte, unbeobachtet ins Haus zu kommen. Der andere, größere Teil wollte viel lieber am Meer bleiben und mit den Samoanern sprechen.

Sie drehte sich um und entdeckte, dass die drei immer noch am Strand standen und ihr nachsahen. Sina und Taufa winkten ihr, während Tamatoa sie nur betrachtete.

Der Weg über das stachelige Gras im Garten war zwar wieder reichlich unangenehm, doch als sie ihren Blick hoch zur Veranda richtete, wusste sie, dass das Stechen in ihrem Fuß nichts war im Vergleich zu dem Ärger, der sie dort oben erwartete.