Prometheus

Die
Titanenschlacht

Prometheus

Die Titanenschlacht

FRANZ FÜHMANN

Mit Bildern

von Susanne Janssen

Nach Aischylos, Hesiod, Homer, Apollodoros

und anderen Quellen

Meinem Enkelkind Marsha (F. Fühmann)

I Das Reich der Titanen

Kronos

Prometheus und Gaia

Die Hundertarmigen

Prometheus sieht durch die Zeit

Das Gelöbnis des Kronos

II Der Sturz der Titanen

Die Geburt des Zeus

Prometheus schwört den Titaneneid

Zeus bei Amalthea

Prometheus und Epimetheus

Prometheus trifft eine Entscheidung

Prometheus und Zeus schließen ein Bündnis

Die Titanenschlacht

Die Götter errichten ihr neues Reich

Des Zeus erste Taten

III Die Erschaffung der Menschen

Veränderungen im Götterreich

Hephaistos

Hera sammelt ein Heer wider Zeus

Die Geburt der Athene

Kratos und Bia bestrafen einander

König Zeus

Verwirrung am Nil

Gaias Abschied

Hermes

Atlas wird Stein

Die Menschen

I
Das Reich der Titanen

Kronos

Vor vielen, vielen Jahren, als es noch keine Menschen gab und die Blumen ungesehen im Dickicht verblühten, herrschten über Weltall, Land und Meer sieben gewaltige Fürsten, die sich selbst die Titanen nannten. Sie waren sieben Brüder, und ihre Frauen waren sieben Schwestern; das Erddunkel war ihre Mutter und das Himmelslicht ihr Vater, und sie waren so riesenhaft von Gestalt, dass, wenn sie über die Erde gingen, ihnen sogar die Palmenwälder nur bis zu den Knöcheln reichten. Mit ihrer Ferse zermalmten sie Berge; ihr Durst trank Meere leer; ihr Atem zerblies die dichtesten Wolken, und sie hätten Löwen und Krokodile und Elefanten fangen können wie Käfer, wenn ihre Augen und Hände für derlei winziges Krabbelzeug nicht viel zu groß gewesen wären.

So gewaltig wie ihre Größe und Kraft war auch ihre Strenge. Sie wachten über die Gesetze der unbelebten Natur, und dieses Wächteramt hatte ihr Gemüt so kalt wie das Eis und so spröd wie das Erz gemacht. Sie kannten nicht Spaß noch Freude; sie schritten in ihren Mänteln aus Metallen und Steinen ernst und gemessen um die Kontinente herum oder ließen sich von Kometen durch den Weltraum tragen und sahen die Sterne in ihren Bahnen steigen und fallen und fühlten das Strömen des Lichts und des Schalls und der Schwere und nickten mit ihren granitgekrönten Häuptern und sagten feierlich: »So ist es gut! So soll es bleiben in alle Ewigkeit!«

Solcherart herrschten sie viele Millionen Jahre. Sie hatten die Zeit unter sich aufgeteilt: Jedes Titanenpaar regierte einen Tag lang und ruhte den Rest der Woche in tiefen, dämmrigen Grottenpalästen der Milchstraße aus. Die Herrscher über den Sonntag hießen Hyperion und Theia; die Herrscher über den Montag Atlas und Phoibe; die Herrscher über den Dienstag Krios und Dione; die Herrscher über den Mittwoch Koios und Mnemosyne; die Herrscher über den Donnerstag Iapetos und Themis; die Herrscher über den Freitag Okeanos und Tethys und die Herrscher über den Sonnabend Kronos und Rhea. Manche dieser Paare, so Atlas und Phoibe, hatten Kinder, manche lebten nur zu zweit, Okeanos und Tethys aber hatten tausend mal tausend Kinder, das waren die Seelen aller Ströme und Flüsse und Bäche und Quellen. Sie waren die einzigen dieser Sippe, die lachten und sangen und fröhlich waren, denn Mutter Tethys machte ihnen, wenn sie freitags durch die Lüfte fuhr, immer die Freude, die Wolken auszupressen und glitzernden Regen auf die Erde zu rieseln, in den dann Vater Okeanos aus Sonnenstrahlen die buntesten Bogen baute. Da jauchzten die Kinder, und das gefiel auch den anderen Fürstinnen so, dass sie lächelten. Dem jüngsten und strengsten der Titanen aber, dem Kronos, missfiel das.

»Wir Titanen brauchen nicht Freude, und wir brauchen nicht Leid«, so sprach er tadelnd zu Tethys. »Gefühle bringen nur Unordnung in die Welt, und das wäre der Untergang. Eure Kinder sind dazu da, das Strömen der Wässer zu überwachen und sie im Winter einzueisen und im Frühling aufzutauen, wie die ewigen Gesetze es verlangen. Was soll dabei das Lachen und Lärmen? Das kann doch nur pflichtvergessen machen. Ich verbiete es hiermit für alle Zeiten! Denkt an die Hundertarmigen!«

Da erschraken Okeanos und Tethys und verwehrten ihren Kindern das Lachen und Singen.

»Denkt an die Hundertarmigen und ihre schreckliche Strafe«, so sagten sie, und da erschraken auch ihre Kinder und hörten auf, fröhlich zu sein. Kein Jauchzen klang mehr über die Erde, nur die Ströme rollten und die Meere rauschten und drüberhin hallten und heulten die Winde und dröhnten die Donner und klirrten die Sterne, und über all dem schwieg das eiskalte All.

»So ist es gut, und so soll es bleiben«, sprach Kronos, »und damit es so bleibe, will ich fortan allein der Gebieter sein! Weh dem, der sich meinem Willen widersetzt! Denkt an die Hundertarmigen und ihre Strafe!«

Da erschauerten die Titanen und beugten vor ihrem Bruder das Knie. Der Wille des Alleinherrschers war fortan ihr oberstes Gebot. Sie zogen sich in ihre Grotten zurück, wo sie statt sechs nun sieben Tage der Woche im Dämmerschlaf hausten. Allmählich wurden sie grau wie die Schattenöde ihres Daseins, und sie wären schließlich mit den Wänden ihrer Paläste verwachsen, hätte Kronos ihnen nicht geboten, sich jeden Sonnabend zu einem Festmahl in der Himmelsburg einzufinden. Für diese Stunde putzten und schmückten sich die Frauen sorgfältig und lange, und die Männer legten ihre leuchtendsten Gesteine an.

So lebten sie abermals Millionen Jahre.

Prometheus und Gaia

Nicht nur Okeanos und Tethys, auch das Titanenpaar Iapetos und Themis hatte Kinder. Es waren zwei Söhne. Sie hießen Prometheus und Epimetheus, und wenn sie einander im Aussehen auch wie Brüder ähnelten, war Prometheus doch grundverschieden von seines Bruders und aller Anverwandten Charakter und Art. Während Epimetheus es liebte, zufrieden und satt im fahlen Tag der Milchstraßengrotte zu liegen und in der Erinnerung das jüngste Festmahl bei Kronos noch einmal zu durchstaunen, mochte Prometheus dies träge Dasein gar nicht leiden. Wann immer er konnte, stahl er sich deshalb zur Erde hinunter, um dort durch die sonnenheißen Steppen des Südens oder die schneeglitzernden Tundren des Nordens mit den Winden um die Wette zu stürmen und dabei aus voller Kehle zu jauchzen und lachen und schreien. Er wusste, dass Kronos dies alles verboten hatte, allein er konnte einfach nicht anders. Sein Bruder Epimetheus schüttelte deshalb nur den Kopf über ihn.

»Warum treibst du so törichte, unnütze Dinge, mein Bruder?«, sprach er missbilligend.

»Ich weiß nicht, mein Bruder«, erwiderte Prometheus, »ich halte dieses Herumdösen einfach nicht aus.«

Eines Tages, als Kronos wie immer auf einem eisernen Stern durch die Lüfte fuhr und die anderen Titanen in ihren Palästen dahindämmerten, lag Prometheus, der sich im warmen Meer vor Afrika müde geschwommen hatte, im Wald der Insel Kreta wie in einem ungeheuren Bett von Grün. Er war erschöpft und dachte an nichts und wollte schlafen. Er drehte sich auf die Seite, da sah er, als seine Augen sich zutaten, dicht vor sich in der grünen Unendlichkeit ein winziges rotes Sternchen und daneben ein zweites und daneben ein drittes. So etwas Wundersames hatte er noch nie geschaut, und er lag ganz still, um diese Sternchen nicht zu zerdrücken.

»Was ist das«, rief er entzückt, »ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen!« Dieser Ausruf war noch nicht verklungen, da hörte Prometheus eine leise Stimme an seinem Ohr.

»Ich danke dir, liebes Kind, für diese Worte«, raunte die Stimme. Es war ganz seltsam: Die Stimme war jung und uralt zugleich, und sie klang, als rede sie direkt vor des Prometheus Gehör und käme dabei doch aus der dunkelsten Ferne.

»Wer bist du, der da spricht?«, fragte Prometheus erstaunt.

»Ich bin Gaia, die Erde, euer aller Mutter«, sagte die Stimme, »und du bist Prometheus, der Themis und des Iapetos ältester Sohn. Sie alle haben mich vergessen; du aber bist oft bei mir, und ich mag dich drum leiden.«

»Warum zeigst du dich mir dann nicht, Großmütterchen?«, fragte Prometheus.

»Ich habe viele Gestalten«, erwiderte Gaia, »du siehst mich in meinen Steppen und Wäldern, und nun auch in meinen liebsten Geschöpfen, den Blumen. Schau nur, wie zahlreich und bunt sie sind!«

»Ich sehe nur drei, und sie sind alle rot wie der Abendhimmel«, erwiderte Prometheus, »andere Farben erblicke ich nicht.«

»Ach, deine Augen sind stumpf, du Titanenkind«, seufzte Gaia, »sie sind nur die riesigen Flächen der Meere und Sonnen gewohnt und verstehen nicht, das Kleine und Feine zu erfassen. Wie ist es dir überhaupt möglich gewesen, diese drei Rosen zu entdecken?«

Prometheus hob hilflos die Hände.

»Ich weiß es nicht, Großmütterchen«, entgegnete er. »Ich wollte gerade einschlafen und schloss die Augen, da sah ich dies Wunder, das du Rosen nennst.«

»Du tatest die Augen zu, und da wurden sie klein«, sagte Mutter Erde, »aber nicht klein genug, um das tausendfach Bunte aufzunehmen, das ich durch diesen Wald gewirkt habe: Moosblumen, Maßliebchen, Ehrenpreis, Thymian, Minze, Salbei, Aurikel, Eisenhut, Storchschnabel, Seidelbast, Safran und Quendel, um nur die leuchtendsten zu nennen. Mein Teppich, von dem du nur das Grün siehst, ist in Wirklichkeit viel bunter, als des guten Onkels Okeanos Regenbogen es je gewesen sind.«

»O wenn ich doch diese Herrlichkeiten sehen könnte!«, rief Prometheus.

»Begehre das nicht«, erwiderte Gaia, »du müsstest auch furchtbare Dinge schauen.«

»Kannst du mir solche Augen geben, so soll mich das Furchtbarste nicht schrecken, Großmütterchen«, sagte Prometheus voll Eifer. Da war es ihm, als streiche der Hauch einer Hand über seine Lider, und aus dem unendlichen Grün brach plötzlich ein tausendfach duftender Reigen von blauen, gelben, orangen, violetten, weißen, braunen und roten Sternen und Sonnen, und gleichzeitig schwirrte durch das ragende Grün der Stämme und Kronen ein Wirbel aus Farben, der stürzend und steigend und kreisend im Sonnenglanz noch funkelnder war als der Teppich des Bodens und den ein schmetternder Chor von Gezwitscher, Getriller, Geflöte und Tirilieren durchwob. Mit den Blumen hatte Prometheus die Vögel gewahrt, und er glaubte im Rausch dieses nie noch gekannten Schauens und Lauschens, sein Herz sei so bunt und so schallerfüllt wie der Wald geworden.

»Wie herrlich deine Welt doch ist, Mutter Erde!«, jauchzte er.

Er hatte dies aber kaum ausgerufen, da sah er aus dem Geäst ein graues Silber auf ein hüpfendes Blau niederstürzen; das Singen verstummte; ein pfeifender, schauerlich dünner Schrei erscholl, und das Blau zerflatterte zu einem roten Fleck, der im Grün verrann. Die Vögel schwiegen. Das Silber – es war ein Marder, der eine Blaumeise geschlagen hatte – huschte hinter die Stämme.

Das Rot wurde schwarz.

Die Vögel schwiegen noch immer.

Prometheus ahnte, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.

»Was war das?«, fragte er verstört. Er hatte noch nie den Tod gesehen, denn die Titanen waren unsterblich wie die leblose Welt.

»Es war nur ein Traum. Vergiss ihn, mein Kind«, sagte die leise, uralte Stimme, und nun klang sie nur noch leise und alt. Zugleich fühlte Prometheus wieder das sanfte Hauchen über seinem Gesicht, und alle Farben verschwanden im ebenmäßigen Schwellen des Grüns von Moos und Laub. Auch die drei Rosen waren verschwunden. Da begriff Prometheus, dass Mutter Erde ihm die Gabe des feinen Sehens wieder nehmen wollte, und da schrie er: »Lass mich sehen, Mutter Erde, o lass mich sehen! Lass mich sehen, was ich noch nie geschaut! Den grässlichsten Anblick will ich ertragen, nur raube mir nicht die Freude der Blumen und Vögel!«

»Trotziges Kind«, raunte Mutter Erde warnend, »denk an das Schicksal der Hundertarmigen!«

»Wo sind sie?«, rief Prometheus. »Ich habe sie noch nie gesehen. Der Herrscher Kronos spricht oft von ihnen, und ihr Name erschreckt all die mächtigen Fürsten. Selbst die Sonne, die Hyperion früher lenkte, erbleicht bei diesem Wort. Wer sind sie? Zeige sie mir! Verwehr mir’s nicht; ich weiß, dass du dies vermagst!«

»Du weißt nicht, was du verlangst«, sagte Gaia entsetzt. »Niemand darf sich den Hundertarmigen nahen. Sie sind in der tiefsten Tiefe verschlossen, und schon der Wunsch, nach ihnen zu forschen, ist Ungehorsam und Verrat.«

»Du kennst ihr Gefängnis?«, rief Prometheus.

»Schweig still«, raunte Mutter Erde, »wenn Kronos diese Rede erfährt, verschlingt er dich!«

»Wer sollte es ihm denn erzählen?«, erwiderte Prometheus hartnäckig. »Wir beide werden schweigen, und ein Dritter hört uns ja nicht.«

Und er bat seine Großmutter, die Erde, so innig, dass sie schließlich sagte: »Nun gut, da du es so sehr wünschest, will ich dich an einen Ort in ihrer Nähe führen. Aber bedenke: Allein ihre Stimmen sind furchtbar.«

»Furchtbarer als das, was ich eben gesehen?«, fragte Prometheus.

»Furchtbarer als der Tod«, erwiderte Gaia.

»Es schreckt mich nicht«, sagte Prometheus ohne Bedenken. »Gehen wir, Großmütterchen!«

»So komm!«, sprach Gaia, und da brachen wieder die Blumen aus dem Moos und die Stimmen der Vögel aus den Wipfeln, aber Prometheus achtete nicht mehr darauf. Mit einem Ruck sprang er auf die Füße. Vor ihm stand, in einem Gewand aus Licht und Dunkel, lächelnd und ernst eine junge Frau.

Die Hundertarmigen

»So komm!«, wiederholte die Erschienene.

»Du bist Gaia, unser aller Mutter?«, fragte Prometheus benommen. Die junge Frau nickte stumm und schritt in den Wald hinein. Sie ging so schnell, dass Prometheus Mühe hatte, nicht zurückzubleiben. Sie wanderten lange. Schließlich stießen sie auf eine öde Lichtung, deren Mitte gespalten war. Aus der klaffenden Öffnung stieg gelber Rauch.

Mutter Erde wandte sich um und blickte ihren Enkel prüfend an.

»Hier müssen wir hinunter«, sagte sie. Der Rauch quoll wolkig aus der Dunkelheit. Prometheus fühlte zum ersten Mal jenes Flackern des Herzens, das Angst heißt, allein er nickte tapfer.

»So komm!«, sprach Mutter Erde zum dritten Mal und verschwand im Rauch. Prometheus folgte ihr zögernd. Er hatte gefürchtet, der Rauch werde ihm den Atem nehmen, doch als er die ersten Schritte getan hatte, weitete sich der Spalt zu einem Stollen, der schräg in die Tiefe führte, und der Rauch verlor sich. Prometheus sah wieder Mutter Erde vor sich den Stollen hinabgehen, doch nun schien sie selbst ein Gebilde aus Dunst zu sein. Sie wehte vor ihm wie ein Nebel; das Licht wurde glasig und glitt ins Dämmern, und da hörte Prometheus ein seltsames Geräusch. Es war ein dumpfes Ächzen, als stöhne im Innern des Erdballs ein Berg oder seufze ein Wald, und mit jedem Schritt in den sich immer mehr verengenden Stollen hinein gesellten sich neue Schreckenslaute hinzu. Ein Röcheln kam auf, und nun ein Gurgeln, und nun auch Brüllen und Wimmern und schließlich Keuchen und Kreischen und Röhren und Blöken und Bläffen und Kläffen und Heulen, aber alles dies wie aus Kehlen von Eis oder Horn; ein rasselndes Fauchen erscholl, als ob riesige Blasbälge sich dehnten und zusammenzogen, und schließlich schwoll der Chor so ungeheuer zusammen, dass er das Ohr des jungen Titanen wie mit Fäusten schlug. Auch wurde der Stollen immer niedriger und enger und die Dämmerung immer dichter; Mutter Erde war kaum noch zu sehen, und als Prometheus ihr in seiner Angst zurief, sie möge doch warten, nahm er entsetzt wahr, dass seine Lippen sich zwar bewegten, seine Stimme jedoch nicht einmal von ihm mehr zu hören war. Das Geheul war nun so heftig, dass der Boden des Stollens zu beben begann.

»Mutter Erde!«, schrie Prometheus, aber Mutter Erde entschwand in die Dunkelheit.

Prometheus war allein. Seine Angst wurde Grauen. »Mutter Erde«, schrie er verzweifelt und hörte sein Wort nicht, »hilf mir, Mutter Erde, ich fürchte mich!«

Aus dem schauerlichen Lärm kam keine Antwort. Da wollte Prometheus fliehen, doch als er sich umblickte, sah er in eine solche Finsternis, dass er zurückprallte.

Er wandte sich wieder gradaus und sah ins Dämmern.

Wie kommt das nur?, dachte er. Wenn ich dahin zurückschaue, wo doch das Tageslicht sein muss, sehe ich tiefste Finsternis. Wenn ich hingegen ins Erddunkel blicke, sehe ich wenigstens einen Dämmerschein. Das ist doch gegen alle Gesetze!

Da fiel ihm ein, dass der Dämmerschein aus dem Kerker der Hundertarmigen kommen könnte.

Ich werde hier auf Mutter Erde warten, dachte er und lehnte sich gegen die zitternde Stollenwand.

Das Nachdenken hatte ihm Mut gemacht. Nun bin ich so nahe an den Hundertarmigen, sagte er sich, und da sollte ich umkehren? Nein, ich will Onkel Kronos’ Geheimnis schauen!

Er stieß sich von der Wand ab und ging weiter. Der Stollen wurde rasch so niedrig, dass Prometheus sich bücken, dann kriechen und schließlich sich auf dem Bauch dahinschlängeln musste. Er fürchtete schon steckenzubleiben, allein da es ihm vorkam, die Düsternis sei lichter geworden, bezwang er abermals seine Angst. Wenn Mutter Gaia hier heil durchgekommen ist, werde auch ich heil durchkommen, dachte er und rutschte weiter voran. Der Stollen wurde noch enger, die Dunkelheit jedoch erhellte sich tatsächlich, und zwar dermaßen, dass Prometheus so etwas wie einen Schleier zu sehen glaubte.

Was ist das?, dachte er, da stieß er auch schon mit dem Kopf gegen ein Hindernis, das flirrend war wie erhitzte Luft, leuchtend wie der Mond hinter Wolken und zugleich härter als Stein, denn so arg hatte noch kein Zusammenprall weh getan. In diesem Augenblick war auch das Lärmen jählings abgebrochen, der Stollen jedoch schwankte und zitterte wie zuvor.

Die plötzliche Stille war grauenhafter als alles Geheule.

»Mutter Erde!«, schrie Prometheus, und diesmal hörte er seine Worte. Sie klangen so kläglich und angstvoll, dass er zu weinen begann. Da aber vernahm er Gaias Stimme.

»Sei ruhig, mein Kind, und fürchte dich nicht«, sprach Gaia begütigend, »ich bin ja bei dir.«

»Wo bist du denn?«, flüsterte Prometheus, der sich im engen Stollen nicht umdrehen konnte.

»Bei dir, liebes Kind«, sprach ihm Gaia ins Ohr. »Spürst du nicht, wie ich dich in meinen Armen halte?« Da war es Prometheus, als ob die Wände des Stollens ihn sachte wiegten. Er schluckte die Tränen hinunter und fasste Mut.

»Wo sind die Hundertarmigen?«, flüsterte er.

»Wir sind ihnen ganz nahe«, erwiderte Mutter Erde, »so nahe, dass wir sie schon nicht mehr hören, so wie du den Wirbelsturm nicht wahrnimmst, wenn du in seiner Mitte stehst. Woran du gestoßen bist, war die Wand ihres Kerkers. Näher können wir nicht mehr heran.«

»Und ich soll sie nicht sehen?«, stammelte Prometheus fassungslos. Die Enttäuschung, nun wieder umkehren zu müssen, schien ihm schrecklicher als jede Begegnung.

»Wie könntest du das?«, erwiderte Gaia. »Sie hausen in einem Kerker aus Diamant, denn jeden anderen Stoff würden sie durchbrechen. Dieser Stein ist so hell, dass er die Finsternis hier unten fahl macht, allein er ist auch so hart, dass deine Blicke davon abprallen wie die Blicke der Hundertarmigen auch.«

Prometheus tastete mit der Hand die Wand ab. Sie war glatt und kalt und fugenlos, und sosehr er auch die Augen spannte, seine Blicke konnten sie nicht durchdringen.

Da begann er zu bitten.

»Wenn du nicht einen Rat wüsstest, Großmütterchen«, so bettelte er, »hättest du mich gewiss nicht hierhergeführt! Du hast mir Augen gegeben, die Blumen und Vögel zu erblicken, du kannst mir auch Augen geben, die das Unsichtbare sehen.«

Da seufzte Mutter Erde und sprach: »Verlange das nicht, mein liebes Kind! Ich kann deine Augen wohl schärfen, doch dann wird dein Blick jede Schranke durchschneiden, selbst die der Zeit. Du wirst in die Zukunft schauen, und du wirst dort sehen, was der Welt und dir bevorsteht, und danach verlange nicht! Denn ich kann dir diese Kraft niemals mehr nehmen. Du müsstest diese Augen dann tragen durch alle Ewigkeit.«

Prometheus hämmerte mit der Faust an den Diamanten.

»Ich will sehen, Mutter Erde«, rief er wild, »ich will alles sehen! Gib mir deine Kraft, und ich werde vor nichts erschrecken! Ich gehe nicht eher von hier, als bis du mich sehend gemacht hast!«

Da schwieg Gaia.

Der Stollen zitterte.

Gaia schwieg.

Die Stille war so drückend, dass Prometheus nicht weiterzureden wagte. Schließlich, als die Antwort immer noch ausblieb, schob er sich wortlos, so weit er nur konnte, zurück und schnellte dann den Kopf gegen die Wand vor und tat dies, obwohl ihn die Erschütterung fast betäubte, ein zweites und dann noch ein drittes Mal. Er wollte gerade den Kerker ein viertes Mal rammen, da schlossen sich die Stollenwände so fest um ihn, dass er sich nicht mehr rühren konnte.

»Du wirst dir den Schädel spalten«, warnte Mutter Erde.

»Das ist mir gleich«, entgegnete Prometheus, »ich lasse nicht ab!« Mit rasendem Trotz begann er die Schultern und Arme zu rühren, um freizukommen. Da war ihm wieder, als streiche der Hauch einer Hand über seine Lider, und in diesem Augenblick schoss eine so strahlende Helle in seine Augen, dass er glaubte, zwei Blitze brennten sie aus. Einen Herzschlag lang lag er blind und von Schmerz durchstochen, dann aber sah er vor sich ein Gewölbe mit Wänden aus glitzerndem Licht, und an diese Wände waren drei Ungeheuer von so grauenvollem Aussehn gekettet, dass Prometheus die Augen sofort wieder schloss.

Er hatte die Hundertarmigen erblickt.

Es waren drei Riesen, größer als die Titanen, und jeder von ihnen hatte hundert Arme und hundert Beine und fünfzig Rümpfe und fünfzig Köpfe, und jedes der dreihundert Beine war vom andern verschieden, und jeder Arm vom andern, und jeder Rumpf vom andern, und erst recht jeder Kopf! Der eine Kopf war ein einziges lippenloses Maul mit riesigen schwarzen Zähnen, die unentwegt aufeinander krachten und die Luft zerbissen; der zweite war eine schlabbernde gelbe Zunge, die über den Boden glitt und nach Flüssigem lechzte; der dritte war nur ein Auge mit einer roten Pupille, der vierte ein einziges gieriges Ohr, der fünfte eine viellöchrige schnüffelnde Nase, der sechste ein heulender Schlund, der siebte vielhundert plappernde Lippen, der achte eine gewölbte, von tiefen Furchen durchschnittene Stirn, der neunte ein Doppelstrom von Tränen aus zwei stachelwimprigen schlaffen Lidern, der zehnte ein zottiger Klumpen schneeweißes Haar, der elfte ein einziger Quader Kinn, der zwölfte ein Knäuel dünner gespaltener Zungen in einem Strahl aus zischendem Dampf. Dies waren die Köpfe, die Prometheus erblicken konnte; die andern im Hintergrund wurden von den vorderen verdeckt, doch manchmal schossen aus ihnen Funken empor oder schnellten Nattern zur Höhe oder schwollen und schrumpften graue, von roten Netzen durchzogene Wolken oder wehten Haare wie brennendes Gras. So vielgestaltig grauenvoll wie die Köpfe waren aber auch die Arme und daran die Hände: eine Kralle die eine, eine Tatze die zweite, ein Saugnapf die dritte, Spinnfäden die vierte, Dornen die fünfte, eine Platte die sechste, Glut die siebte, quallig die achte, neblig die neunte, schwammig die zehnte, ein Huf die elfte, ein Stachel die zwölfte, und alle schwangen und kreisten und hieben und griffen durcheinander auf ihren Armen, die schlangenhaft waren und klotzig und sehnig und wulstig und dünn wie Ranken und gewaltig wie Keulen, und sie wuchsen aus Rümpfen von Eisen, von Kupfer, von Silber, von Gold, von Fels, von Sand, von Lehm, von Asche, von Schuppen, von Fell und von Teig und von Salz und von Grind und von Eis, von Dünsten und Feuer, und die Rümpfe standen wieder auf Beinen, die Stämme waren, Stelzen, Knorren, Halme, Stümpfe, Stiele aus Fleisch und Stubben aus Gallert, und um die Füße dieser dreihundert Beine war das Kristall des Bodens gegossen, so dass die Ungeheuer darin wurzeln mussten, und sie wollten doch heraus mit der Kraft von dreimal hundert verzweifelten Mühn! So zerrten sie also und zogen und rissen und dehnten und reckten und stemmten sie sich, aus allen ihren Rachen und Schlünden und Kehlen und Mündern unhörbar brüllend und tobend und mit den dreihundert Armen und Händen schleudernd und greifend und krallend, der ersehnten Freiheit zu, da plötzlich wurden sie von einer unsichtbaren Kraft so jäh an die Wand gerissen, dass sie einen Augenblick aus allen ihren Mündern schwiegen.

»Es ist Kronos«, flüsterte Mutter Erde, »er ahnt uns, nur fort, nur fort!« Prometheus fühlte sich von ihren Armen zusammengepresst und fortgetragen; der Kerker entschwand, das Gelärm schwoll auf und verscholl, wie wenn Wind vorbeisaust, dann war es Prometheus noch, als dampfe gelber Rauch und flute plötzlich die Sonne, dann lag er wieder im Wald, und Grün umgab ihn, und Vögel sangen.

Gaia war verschwunden.

Ich habe geträumt, dachte Prometheus und rieb sich die Augen. Ich habe geträumt, und es war ein grauenvoller Traum!

Prometheus sieht durch die Zeit

Es war ein Traum, dachte Prometheus und sprang auf die Beine. Er war noch ein Kind, und doch ragte er über den Wald wie heute ein Kind über Sträucher und Buschwerk. Als er den klaren Himmel erblickte, reckte er sich und dachte frohgemut noch einmal: Es war ein furchtbarer Traum! Da hörte er in den Lüften ein entsetzliches Krachen. Aus dem heiteren Blau raste Feuer, und eine Donnerstimme schrie Worte des Zorns. Erschrocken duckte sich Prometheus in den Wald zurück. Es war kein anderer als Kronos, der oberste Herr der Titanen, der zürnend zur Erde niederfuhr.

Gaia trat ihm entgegen. Prometheus erkannte sie anfangs nicht, denn nun zeigte sie sich als uraltes Wesen. Ihr Gesicht war schwarz, ebenso ihre Hände und ihre Füße; ihr Gewand war aus grauem Sandstein, ihr Haar war wie das Silber, das morgens im Herbst auf den Wiesen liegt, und ihre Stimme klang wie das langsame Rauschen des Regens, als sie nun fragte: »Was begehrst du von mir, Kronos, mein jüngstes Kind? Es freut mich, dass du wieder einmal deine Mutter besuchst!«

Sie hob den Arm, ihn zum Gruß um die Schulter des Sohnes zu legen, allein Kronos stieß sie zur Seite. Er war schrecklich anzusehen: Über seine Stirn liefen blaue Flammenschauer, aus seinen Haaren sprühten Funken, und von der Mitte seines Leibes zuckte ein seltsames Flimmern in die Tiefen des Erdballs hinab. »Wer war bei den Hundertarmigen?«, fragte Kronos. Seine Worte klangen, als ob Felsen sie schrien.

»Willst du deine Mutter nicht grüßen?«, antwortete Gaia mit tonloser Stimme.

»Ich bin auch für dich nichts anderes als der Herrscher«, entgegnete Kronos. »Wer war bei den Hundertarmigen? Mein Gürtel hat gezuckt. Mich wirst du nicht betrügen!«

Prometheus begann vor Angst zu zittern.

»Auch sie sind meine Kinder«, sagte Gaia leise, »auch sie wollen leben und sich satt schauen und satt hören und satt essen und satt trinken –«

»Und uns alle vernichten!«, warf Kronos ein. Wütend riss er am Gurt, und das Geheul der Hundertarmigen quoll aus den Tiefen der Erde wie Blasen auf. »Hörst du sie?«, sprach Kronos. »Sie heulen nach der Stunde, da sie loskommen und über uns herfallen. Furchtbare Geschöpfe hast du hervorgebracht, Gaia!«

Da Kronos das sagte, wurde das Gesicht der Erde grau.

»Sie sind meine Kinder wie du und deine Geschwister«, sprach sie und brauchte Stunden für jedes Wort. Prometheus wagte sich nicht zu rühren. Er hatte die Augen geschlossen, damit Kronos ihr Funkeln nicht sähe. Solch einen Streit hatte er noch nie gehört. Er fürchtete, der Herrscher werde ihn, den frechen Belauscher dieses Gesprächs, zu den Hundertarmigen in die Unterwelt sperren, und Kronos, hätte er Prometheus gewahrt, würde gewiss so gehandelt haben. Doch er glaubte nicht, dass ihn jemand höre. Er wähnte alle Titanen in den dämmrigen Milchstraßengrotten, und bis dorthin wäre nicht einmal das Heulen der Hundertarmigen gedrungen. Darum schalt Kronos die Uralte, die doch seine Mutter war, ohne Maß und Beherrschung.

»Du wagst es, dich solcher Missgestalten zu rühmen«, schrie er; »du wagst es, dich zu Kindern zu bekennen, die man einkerkern muss, damit sie nicht die eigene Mutter zerstückeln!« Wieder riss er am Gürtel, und wieder heulten die Hundertarmigen, und ihr Geheul war so schrecklich, dass die Bäume vor Mitleid seufzten.

»Quäl meine wehrlosen Kinder nicht, du Ungeheuer!«, rief Gaia. »Sie schreien nach ihrer Mutter, und ihre Mutter kann ihnen nicht beistehn!«

Da packte Kronos mit beiden Händen die Schultern der Alten und fragte drohend: »Du bist also unten gewesen? Sag die Wahrheit, sonst reiße ich deine Brut in Stücke!«

»Ja, ich war bei meinen lieben Söhnchen«, erwiderte Gaia. »Sie leiden unsäglich in ihrem Kerker, wie sollte da ihre Mutter sie nicht zu trösten suchen?«

»Warst du allein?«, fragte Kronos lauernd.

»Nein«, sagte Gaia, und Prometheus stockte das Herz.

»Die Furcht war mit mir und das Grauen«, fuhr Mutter Erde fort, »und das Mitleid auch.« Sie hob unendlich langsam ihr Gesicht dem Gesicht des Kronos entgegen, und ihre Augen waren zwei eisige Monde, und die Augen des Herrschers waren zwei tosende Sonnen.

»Wer sollte schon mit mir hinabgestiegen sein!«, sagte Gaia. »Glaubst du, dein Weib oder deine Geschwister wagten diese Reise? Was hätten sie wohl davon?«

Die Vögel schwiegen. Kronos schlug Gaia ins Gesicht.

»Ich habe verboten hinunterzugehen«, schrie er, »das gilt auch für dich, du Uralte! Wenn du dich noch einmal widersetzt, so sperre ich dich zu ihnen, dann magst du sie trösten in alle Ewigkeit! Zur Strafe für deinen Ungehorsam aber sollst du fortan aus dem Kreis der Titanen verbannt sein und nie mehr die Himmelsburg betreten! Hüte dich vor meinem Groll, ich rate dir gut!« Mit diesen Worten rüttelte Kronos wieder an seinem Gürtel, und wieder scholl der Schmerz der Hundertarmigen aus dem finstren Schlund, und die Wälder krümmten sich.

Gaia aber, die den Schlag ihres Sohnes stumm hingenommen hatte, richtete sich hoch auf und rief, in die Wolken wachsend: »O Kronos, Kronos, hüte du dich! Auch deine Herrschaft, du Grausamer, währt nicht ewig, das sage ich dir, deine Mutter, die du geschlagen hast und die du verstößt.«

»Wer wollte es wagen, Hand an mich zu legen?«, erwiderte Kronos. »Von meinen Brüdern und Schwestern gewisslich keiner, und die Hundertarmigen sind verschlossen. Du selbst bist machtlos, Gaia, wenn du dich auch noch so sehr aufblähst, und deine winzigen Geschöpfe, die Tiere und Pflanzen, die du Leben nennst, sie können mir allesamt kein Haar krümmen. Wer also sollte sich gegen mich auflehnen?«

Da lachte Gaia schauerlich und hob die schwarzen Arme über den Kopf und redete feierlich wie die Nacht: »Deine Kinder werden dich stürzen, Kronos.«

»Ich habe keine Kinder«, rief Kronos rasch, doch während er dies noch rief, fiel ihm ein, dass seine Gemahlin Rhea ein Kind unter dem Herzen trug und es bald zur Welt bringen musste.

»Noch habe ich keine Kinder«, sagte er. »Und ich werde auch nie welche haben«, fügte er nach einer Pause hinzu.

In diesem Augenblick war es Prometheus, als zerspringe sein Auge. Er hatte die Lider noch geschlossen, doch das Dunkel dahinter wurde heller als der Sommer, und er sah, ohne dass er die Augen öffnete, Kronos hochaufgerichtet über den Wäldern und Bergen stehen, Gewitter in seinem Haar und Granit um die Schultern und das seltsame Flimmern am Gürtel aus Erz, und er sah Kronos also stehen und reden, da plötzlich sprangen aus des Herrschers offenem Mund Jünglinge und junge Frauen und hielten starre rote Blitze in ihren Händen und drangen kämpfend auf Kronos ein. Der hüllte sich in den Fels seines Mantels und wehrte die Angreifer ab, doch die schlugen so heftig zu, dass der Herrscher wankte. Da schrie Kronos um Beistand, und da öffnete sich die Milchstraße über seinem Haupt, und die Titanen eilten dem Gebieter zu Hilfe. Prometheus erkannte sie alle: Hyperion und Atlas und Krios und auch Vater Iapetos und alle anderen, doch da wurde der Druck in den Augäpfeln so stark und schmerzhaft, dass Prometheus die Lider aufreißen musste. Im Nu waren die Bilder verschwunden! Seine Augen schmerzten nicht mehr; sie sahen das ruhige Grün des Waldes, der ihn umfing, und sie sahen Kronos auf einem prasselnden Blitz die Luft durchfahren und gleichzeitig Mutter Gaia im Boden versinken, und dann blieb nur der bunte Reigen der schwirrenden Vögel und blühenden Blumen im Blick. Da wusste Prometheus, dass er nicht geträumt hatte, und er wusste, dass er nun einer Kraft mächtig war, über die keiner der Titanen verfügte. Mit Augen, so fein, dass sie das Leben sehen konnten, waren auch Hyperion und Kronos begabt; Augen jedoch, die durch die Zeit in die Zukunft blicken konnten, besaß nur er.

Wie wird der Kampf ausgehen?, dachte er neugierig und schloss wieder die Lider, und sogleich sah er wieder Kronos stehen und reden und sah die gewaffneten Jünglinge und Jungfrauen aus seinem Mund springen und sah sie mit starren Blitzen auf Kronos sich stürzen, und wieder sah er den Fürsten wanken und schreien und die Titanen heraneilen, da war die Fülle der Bilder wieder so strotzend geworden, dass Prometheus sie nicht mehr ertragen konnte. Seine Lider flogen von selbst auf, so wie sich der Mund von selbst auftut, wenn man den Atem über Gebühr anhalten will.

Die Bilder waren verschwunden.

Staunend lag Prometheus im Grün.

Das alles sollte wirklich geschehen?, dachte er. Das ist doch nicht möglich! Wo sollten die Jünglinge und Jungfrauen wohl herkommen? Und warum hüpfen sie aus dem Maul des Herrschers, und warum kämpfen sie mit ihm? Das ist alles so seltsam. Soll sich das tatsächlich einmal ereignen?

Plötzlich fiel ihm die Tötung der Blaumeise durch den Marder ein. Er wusste nicht, warum er in diesem Augenblick gerade an jenen Vorfall denken musste, allein da er daran dachte, wurde ihm bang.

Die Unbekannten werden den Herrscher besiegen und uns alle einkerkern, dachte er erschreckt. Ihm graute bei der Vorstellung, irgendwo im finstern Erdball oder Mars in Fesseln zu liegen und nie mehr durch die Wellen zu schwimmen und nie mehr die Blumen zu sehn und die Vögel zu hören.

Man muss Kronos beistehen, dachte er eifrig. Alle müssen an seiner Seite kämpfen! Wohl, Atlas ist ihm zu Hilfe gekommen, dann auch Hyperion und Koios und Vater Iapetos und auch Krios, den Onkel Okeanos aber habe ich nicht erblickt und mein Brüderchen Epimetheus auch nicht. Nun, bei dem wundert mich das nicht, der hat’s verschlafen. Wo aber bin ich denn selbst gewesen?

Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Ja doch, wo war ich nur selbst in diesem Kampf?, so grübelte er.

Da war es ihm, als habe er sich wie einen Schatten am Rand des Kampfgetümmels stehen sehn. Ich muss das genau wissen, dachte er und wollte seine Augen ein drittes Mal schließen, da gellte das kupferne Becken des Saturns durch den Weltraum. Es war dies das Zeichen, das alle Titanen zur Ratsversammlung in die Himmelsburg lud.

Das Gelöbnis des Kronos

Es war seit Tausenden von Jahren – länger, als Prometheus zurückdenken konnte – nicht vorgekommen, dass Kronos die Titanen zum Rat zusammenrief. Verwundert hörten sie das Becken des Saturns in ihren Dämmerschlaf hallen, doch dann, als sie das Zeichen erkannten, beeilten sie sich, der Aufforderung ihres Fürsten Folge zu leisten. Auch Prometheus machte sich rasch auf den Weg. Er hatte es nicht weit: Die Himmelsburg lag zwischen der Erde und dem roten Stern Mars, und solche kurzen Strecken konnte Prometheus mühelos durchfliegen, dazu brauchte er keinen Kometen oder Meteor. So kam er gleichzeitig mit den Titanen vor dem Tor der Himmelsburg an und gesellte sich zu seinem noch im Halbtraum wandelnden Bruder.

»Wir haben dich gesucht, Brüderchen«, sagte Epimetheus, »bist du wieder unten im Reich Gaias gewesen?«

Prometheus knurrte etwas, das Ja wie Nein heißen konnte. Er suchte nach einer glaubhaften Ausrede, die nicht gerade eine Lüge war, allein sein Bruder grübelte schon wieder dem Sinn der ungewöhnlichen Zusammenkunft nach.

»Was meinst du, warum will uns der Gebieter außer der Reihe bewirten?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Prometheus. Seine Stimme klang unsicher, doch Epimetheus achtete nicht darauf.

»Wir werden es ja gleich von ihm hören«, sagte Epimetheus, »dann wissen wir’s. Auf jeden Fall ist es schön, in der Himmelsburg zu sein.«

Verzückt ging er durch das gezackte, sonnenfunkelnde Tor. Die Himmelsburg lag auf einem heute verschollenen Planeten aus purem Gold, und sie war eigentlich nichts andres als ein goldener Berg mit Höhlen und Schluchten. Goldschimmer gab Licht, Goldquader dienten als Tische und Bänke und rohe Edelsteindrusen als Schüsseln und Krüge und Becher, in denen die Nahrung der Titanen, ein farblos glitzernder Trank und eine bläuliche Speise, aufgetragen wurde. Der Trank hieß Nektar und die Speise Ambrosia. Sie stammten beide aus den kochenden Kratern des Sirius, und ein Schluck oder Bissen von ihnen stillte jeglichen Durst und Hunger. Mit diesen Speisen aufzuwarten war Pflicht der Kinder, darum wurden auch sie zur Ratsversammlung herangezogen.

Kronos war von der Erde gradweg zum Saturn und dann sofort wieder zur Burg gefahren. Er wartete in seinem Gemach, bis die Fürsten mit ihren Frauen und Kindern sich längs der goldenen Wände aufgestellt hatten, wie es sich zum Empfang gebührte. Als der Herrscher erschien, kreuzten die Titanen zum Gruß ihre Arme über der Brust und neigten das Haupt. Die Kinder verbeugten sich bis zur Erde. Kronos erwiderte ihren Gruß, ohne jedoch den Kopf zu senken, und während er die Hände auf die Brust legte, überflog sein Blick die erwartungsvoll ergebene Runde.

Ungehalten fragte er: »Wo ist Rhea?«

Phoibe, die Frau des Atlas, trat vor Kronos und sagte: »Eine Stunde zu früh bist du zurückgekehrt, Bruder und Herrscher. Rhea ist im Begriff, dir ein Kind zu gebären.«

Da brüllte Kronos: »Schafft sie her!«

»Sie bringt ein Kind zur Welt, Gebieter«, wiederholte Phoibe.

»Schafft sie samt dem Kind her«, schrie Kronos, »oder wollt ihr mir Widerstand leisten wie die Angeketteten da drunten und Gaia, diese wahnsinnige schwarze Alte?«

Da verneigte sich Phoibe und eilte, von Theia, der Frau des Hyperion, begleitet, zur Milchstraße zurück. Nach einer Weile, indes die Titanen in Schweigen verharrten, kehrten sie mit Rhea wieder. Rhea trug ein Kissen aus Licht, und darauf lag ein Knäblein.

»Ich bringe dir unsern Sohn, mein Gemahl«, sprach Rhea. Und sie fügte hinzu: »Du bist sehr grausam, Herr, dass du eine Mutter in dieser Stunde nicht schonst.«

»Gib mir das Kind!«, verlangte Kronos. Rhea trat vor ihn hin und reichte ihm das Knäblein, das still auf den weichen Lichtstrahlen lag.

»Hier, nimm dein Erstgeborenes, lieber Gemahl und Fürst«, sprach Rhea. »Welchen Namen willst du ihm geben?«

Kronos riss das Kind aus Rheas Händen und hob es stumm vor seine Augen. Das hätte jeder Vater nicht anders getan, aber auf dem Gesicht des Kronos lag solcher Grimm, dass es Rhea schauerte.

»Einen Namen – ja, er soll seinen Namen haben!«, erwiderte Kronos. Prometheus wusste, dass sich jetzt etwas Furchtbares ereignen würde. Er wollte die Augen schließen, um es nicht zu sehen. In diesem Augenblick aber, da er die Lider senkte, sah er wieder die Gewaffneten aus dem Munde des Herrschers springen, und da tat er die Augen schnell wieder auf. Ich muss sehen, was jetzt geschieht, dachte er, sonst kann ich das Kommende nicht begreifen.

Kronos hielt noch immer das stille Knäblein in seinen Händen. »Ja, einen Namen soll er haben«, wiederholte er langsam, »er soll Hades heißen, das ist Der, der im Dunkeln wohnt. Denn in die Dunkelheit soll Hades jetzt gehen!«

Er hatte das noch nicht zu Ende gesprochen, da stopfte er sich den Knaben in den Schlund und schlang ihn hinunter. Rhea schrie vor Entsetzen auf. Die Titanen standen wie Traumbilder vor den goldenen Wänden. Sie rührten sich nicht; sie hatten in Jahrmillionen gelernt, ihrem Herrscher gehorsam zu sein.

Kronos aber sprach: »Ich habe euch zusammengerufen, hohe Fürsten und Fürstinnen, um euch meinen Ratschluss kundzutun. Gaia hat mir gedroht, sie werde meine Kinder gegen mich aufwiegeln. Gaia ist auf immer verbannt; es ist ihr in alle Ewigkeit versagt, die Burg zu betreten, und jedem von euch rate ich ab, in ihre Nähe zu gehn! Meine Kinder aber will ich in meinem Herzen bergen. Wen immer mir Rhea auch gebären wird, er soll stets mit seinem Vater und Fürsten vereint sein. Denn wisset: Ich habe meine Herrschaft errichtet für immerdar, und wie es ist, so soll es auch bleiben! Ewig werden die Sterne ihren Gang gehen, ewig werden die Wasser der Meere rollen, ewig wird die Schwere das Weltall binden, und ewig wird Kronos herrschen über euch, über die Elemente, über alles, was war und ist und so dauern wird! Dies ist mein Schwur. Wehe dem, der sich meinem Willen widersetzt: Ich werde ihn in die Finsternis sperren, in den Hunger, den Durst, in die Starre und Stille! Das habe ich euch kundzutun.«

Schweigend standen die Titanen an den Wänden. Der Trank und die Speise in den goldenen Becken und Bechern blieben unberührt. Rhea war auf die Knie gesunken. Kronos umfasste sie und richtete sie auf.

»Knie nicht vor deinem Gemahl, teure Rhea«, so sprach er, »ich weiß, dass du meine Entscheidung billigst. Wo könnten deine Kinder es auch besser haben als ewig in ihres Vaters Brust! Komm nun mit mir, wir wollen unser Reich durchmessen und uns an seiner ungestörten Ordnung erfreuen.«

Mit diesen Worten führte Kronos sein Weib aus der Burg, und die Fürsten und Fürstinnen folgten ihnen. Prometheus aber schloss, da er hinausging, die Augen, und da sah er Kronos stehen und sah Rhea sich ihm nahen und ihm auf Kissen aus Licht ein Kind um das andere reichen, und er sah, wie Kronos eines ums andre verschlang, und er hörte ihn auch Namen sagen: Hestia, Poseidon, Hera, Demeter, Zeus, doch da Prometheus so blind einherschritt, stolperte er über das Kissen, das Kronos zu Boden hatte fallen lassen. Epimetheus fing den stürzenden Bruder auf.

»Was hast du?«, fragte Epimetheus. »Kannst du nicht sehen?«

»Doch«, antwortete Prometheus, »ich sehe, Brüderchen, ich sehe.«

II
Der Sturz der Titanen

Die Geburt des Zeus

Viele tausend Jahre waren vergangen, Prometheus war wie sein Bruder Epimetheus zu einem jungen Titanen herangewachsen, und in deren Welt schien sich nichts verändert zu haben. Die Elemente kreisten noch immer nach alter Weise; Fürst Kronos herrschte noch immer über Himmel, Lande und Meer; die Hundertarmigen stöhnten und heulten noch immer in der unterirdischen Finsternis; Gaia war noch immer verbannt, und die Titanen dämmerten immer noch in ihren Milchstraßengrotten durch den schlaffen Tag, da fasste Rhea, des Kronos Weib, einen unerhörten Entschluss. Nach Hades hatte sie ihrem fürchterlichen Gemahl noch vier Kinder geboren, drei Töchter und einen Sohn, und jedes Mal war sie der Hoffnung verfallen, der Anblick der unschuldigen kleinen Wesen auf ihren Kissen aus Licht werde den harten Sinn des Gebieters erweichen, allein er hatte ihr jedes Neugeborene aus den Armen gerissen und in seinen unersättlichen Schlund gestopft. Nun fühlte Rhea das sechste Kind in sich wachsen, und da gelobte sie, es Kronos nicht auszuliefern. Sie konnte das Schweigen der Eingeschlossenen nicht länger ertragen.

Denn die Kinder waren nicht etwa umgekommen! Wenn Kronos sie hätte töten können, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, sie in seinem eigenen Leib einzusargen. Aber sie waren ja unsterblich, und so hockten sie in einer der fahlen Kammern seines steinernen Herzens, und hatten sie anfangs noch Pläne geschmiedet, sich zu befreien, so taten sie dies schon lange nicht mehr. Denn Kronos konnte sie ja hören, und damit war jeder Plan schon verraten, wenn sie ihn über die Lippen brachten. Sie hatten zwar versucht, sich mit Zeichen zu verständigen, allein diese stumme Sprache reichte nicht aus, und wenn sie die Zeichen erklären wollten, verrieten sie sich wiederum. So blieb ihnen nichts, als schweigend auf ein Wunder zu warten, und schließlich war in ihrer Brust keine Hoffnung mehr.