Im Zwielicht

 

Einleitung

Georges Rodenbach (1855 – 1898)

Heute, wo Maurice Maeterlincks Kunst in ihrer geschmackvollen Synthese von germanischer Gefühlsinnigkeit und französischer Klarheit immer weitere Kreise zieht, richtet sich das Interesse unwillkürlich nach der vlämischen Heimat des Dichterphilosophen, die von jeher tiefem Gemütsleben förderlich war. Brabant ist die Heimat eines großen Kirchenlehrers, jenes doctor extaticus am Schlusse des zweiten »Faust«: Johann Ruysbroeck, den seine Zeit den Wunderbaren nannte, und dessen Hauptwerk »Von der Zierde der geistlichen Hochzeit« Maurice Maeterlinck der französischen Kulturwelt durch Übersetzung und ein tiefsinniges Vorwort erschlossen hat. In jenem Brabanter Weltwinkel entstand vor einem Dezennium jene symbolistische Bewegung, als deren Exponent Maeterlinck gilt und deren Vertreter fast ausschließlich vlämische Namen tragen.

Die Vlamen sind bekanntlich germanischen Ursprungs, aber neben ihrer heimischen Sprache bevorzugen sie die des großen französischen Kulturkreises. Der gewaltige Schallboden von Paris sichert den großen Talenten dieses kleinen Völkchens einen Platz in der Weltliteratur, den sie mit ihrer heimischen Sprache nie erringen würden, und der Zwang, sich einer durchgebildeten, in eherne Formen gegossenen Sprache zu bedienen, bildet ein heilsames Gegengewicht gegen den germanischen Hang zur Innerlichkeit, der bei unumschränkter Herrschaft zur Formlosigkeit, zum Versinken in den Tiefen der Mystik führen würde. Das Französische ist der leichte Kork, der sie auf der Oberfläche erhält, ohne sie oberflächlich zu machen, und so vollzieht sich ganz von selbst und von der Wiege an jene Synthese zwischen französischem Geschmack und germanischer Kraft, zwischen Gefühlstiefe und Anschaulichkeit, Klarheit und Geheimnis, die Nietzsche so heiß ersehnte, und die in Maeterlinck und Lerberghe, Elskamp und Verhaeren, Huysmanns und Rodenbach zum Ereignis geworden ist.

Georges Rodenbach, der allzu früh aus ihrem Kreise scheiden sollte, nimmt unter ihnen eine besondere Stellung ein, schon weil er seiner Herkunft nach Oberdeutscher, nämlich Österreicher, ist. Das heutige Belgien bildete bekanntlich bis 1791 die »österreichischen Niederlande«, und so kam Georges' Urgroßvater, der dem österreichischen Generalstab angehörte, um die Wende des vorletzten Jahrhunderts nach Belgien, nahm nach der französischen Okkupation seinen Abschied, blieb aber im Lande, zumal er sich verheiratet hatte und Kinder besaß. Einer seiner Söhne, Constantin, der Großvater des Dichters, heiratete eine Großnichte Wielands, die ebenfalls dichtete und mit den hervorragendsten Geistern der Zeit, Hugo, Lamartine, Michelet, in Briefwechsel stand. Constantin beteiligte sich rege an der Revolution von 1830; sein Name prangt auf der Säule des Brüsseler Kongresses. Er war übrigens auch literarisch tätig. Sein Sohn, Georges Vater, war ein angesehener Ägyptologe, und vielleicht hat unser Dichter von ihm die Gabe, die rätselhafte Bilderschrift des Lebens zu entziffern, geheime Analogien zu entdecken und seltsame Symbole zu schaffen. Rodenbachs Kunst offenbart in der Tat einen Zug zu geheimer Wissenschaft, eine stete Wiederkehr feststehender Hieroglyphen und Formeln, in die man eingeweiht sein muss, um ihren ganzen bildlichen Zauber zu kosten. Er ist, ganz wie sein Held Viane in »Bruges-la-morte« »vom Dämon der Analogie besessen«, und dieser »angeborene Ähnlichkeitssinn« ist es ja auch, der die Katastrophe in jenem Werke heraufführt. Viane hat sich nach dem Tode seiner geliebten Frau in die Schwermut des toten Brügge vergraben, weil sie seiner Schwermut wohltat, und er hat schließlich die tote Stadt und seine Tote identifiziert – bis ihm eines Tages ihr wiedererstandenes Ebenbild in Gestalt einer Schauspielerin begegnet. Und dieser »Dämon der Analogie« lässt ihm keine Ruhe, bis er die völlige Gleichheit von einst und jetzt erreicht hat. Die Schauspielerin muss die Bühne verlassen und wird seine Geliebte, seine aus dem Grabe zurückgekehrte Frau, wie er wähnt ... Aber je eifersüchtiger er diese Gleichheit bis in ihre letzten Folgerungen verfolgt, desto mehr tritt die unvermeidliche Ungleichheit zutage – bis die Schauspielerin sich eines Tages vollends vergisst und mit der goldenen Haarflechte seiner toten Frau ihren Spott treibt. Da erwürgt er sie vor Wut und Scham mit dieser teuren Reliquie, der »alle, deren Seele rein und mit dem Mysterium vertraut ist, von vorneherein ansehen, dass sie im Augenblicke der Entweihung selbst zum Werkzeug des Todes werden muss ...« So wird Hugo Viane zum anderen male Witwer, und die beiden Frauen verschmelzen in seinem Geiste wieder zu einer. – Man sieht, Rodenbach ist nicht dabei stehen geblieben, »die Bäume mit der heiligen Jungfrau zu verknüpfen und einen unsichtbaren Leichenaustausch zwischen seiner Seele und den ewig klagenden Kirchtürmen Brügges zu schaffen«. Er hat das, was bei anderen an der Oberfläche bleibt und über eine blumige Metapher nicht hinaus kommt, in die Tiefe gegraben und zum Angelpunkt eines Seelenkonflikts, zum Problem erhoben. Und er hat der seit Taine so beliebten Milieulehre einen tieferen, psychologischen Sinn gegeben; er macht das tote Brügge zur Hauptperson von Vianes Leben, »die ihren Einfluss geltend macht, abrät und befiehlt und der er die Gründe zu allen seinen Handlungen entlehnt ...« »Eine Mahnung zur Frömmigkeit ging von ihr aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien ... Ein Vorbild der Entsagung boten die schweigenden Grachten und vor allem erging eine Lehre der Sittenstrenge von den hohen Glockentürmen, die stets im Hintergrund aufragten.« Und je mehr er sich seiner Fleischessünde bewusst wird, desto mehr zwingt ihn diese Stadt wieder in ihren Gehorsam. »Die Glocken sprachen so eindringlich, erst freundlich ratend, bald aber unbarmherzig mit grimmem Schelten ... Sie stießen ihn vor sich her, drangen in seinen Kopf und vergewaltigten ihn, um ihm seine elende Liebe zu entreißen ...«

»Das tote Brügge« ist Rodenbachs erste größere Schöpfung, sozusagen sein standard work, das all sein Können mit der Kraft einer Sammellinse in eine kurze Fabel zusammendrängt. Es ist, als ob der Dichter das Bedürfnis gehabt hätte, seine Kunst in nuce zusammenzufassen, in dem trüben Gefühl, dass es ihm nicht vergönnt sein würde, sie wie einen breiten Teppich sein Leben hindurch auszuwirken. Er war einer jener »Avertis«, von denen Maeterlincks tiefsinniger »Schatz der Armen« sagt, dass sie das »organische Warnungszeichen« in sich tragen und dass sie es eilig haben, ins Leben zu treten, dass sie ein seltsames Lächeln haben und wie aus einer anderen Welt auf die herabsehen, »die da leben sollen ...« Er verband eine heiße Liebe zum Leben mit einem tiefen Misstrauen, einer eingeborenen Furcht vor dem Leben, die durch seine traurige Erziehung in der Jesuitenschule noch bestärkt wurde. »Dort lernte meine junge Seele dem Leben entsagen, denn sie lernte zu viel vom Tode«, klagt er in seiner rührenden Novelle »In der Schule«, die dieses Buch enthält. Mit Vorliebe versetzt er sich in Seelenzustände hart an der Grenze des Wahnsinns, um uns mit zwingender Notwendigkeit schrittweise der völligen Umnachtung zuzuführen, die ihm ja schließlich selbst genaht ist und seinen Selbstbekenntnissen ein Ende machte ... »Es gibt ein ganz geheimnisvolles, wenig beachtetes Gebiet von Empfindungen unterhalb der Bewusstseinsschwelle, sozusagen ein Helldunkel des Bewusstseins, eine Region des Zwielichts, in der unser Wesen seine Wurzeln hat. In ihr knüpfen sich jene seltsamen Analogien, jene luftigen Beziehungen zwischen unseren Gedanken und Taten und gewissen Eindrücken unserer Sinne. Eine Frau mit grauen Augen, die uns begegnet, erinnert den Nordländer sofort wehmütig an seine Heimat. Eine Orange, die man neben uns schält, genügt, um uns den ganzen Dunstkreis des Theaters wieder wachzurufen. Wird eine asphaltierte Straße ausgebessert, so trägt uns der Geruch des Teers, der in den Kesseln kocht, in Gedanken sofort ans Meer und die geteerten Masten in den Häfen.« Und eine schaurige Passionssymbolik knüpft sich in seinem kranken Geiste an den Sonnenuntergang. Er starrt in den »blutigen Passionshimmel mit den grellen Strahlen der Kreuzigung, dem Schwamm der gelben Wolken, dem letzten Rot einer mit der Lanze geöffneten Wolke ... Dann sank die Nacht mit all den Dornen der Finsternis, die sich in seine Stirn drückten, und all den Sternen, die ihre grausamen Nägel in diesen Golgatha-Himmel bohrten ...«

Hin und wieder wird auch eine skeptische Boulevardnote angeschlagen, aber sie klingt falsch, und über dem Pariser Treiben liegt der bleigraue flandrische Nebel. Das tote Brügge behauptet auch im Herzen Frankreichs seine Macht über Rodenbachs Geist, und so spannte er auch den modernen Ehebruchsroman mit seiner fiebernden fin-de-siècle-Psychologie in den ehrwürdigen Kirchenrahmen seiner Vaterstadt, etwa so, wie Sudermann im »Katzensteg« ein fin-de-siècle-Motiv mit ostpreußischer Heimatskunst verband. Sehr zutreffend sagt in dieser Hinsicht sein Landsmann J. K. Huysmanns: »Er hat den bleiernen Himmel, die zitternden Wasser mit der unheilschwangeren Stille, das lautlose Rudern der Schwäne, den leichten Dunst halbgelöschter Kerzen und den Weihrauchduft des Beghinenklosters, das hinter einem überdeckten Graben schlummert, gar wunderbar behandelt und so Brügge für immer in einem zarten, wahrheitsgetreuen Bilde festgehalten. Diese Stadt gehört ihm; sie ist gleichsam sein Reich geworden, und ihre Silhouette erscheint, selbst wenn er nicht von ihr spricht, hinter all seinen Romanen und Gedichten, wie er sich selbst vom Hintergrund ihrer Spitzen und Türme abhebt auf dem Porträt von Dhurmer ...«

Brügge ist auch der Gegenstand der Gedichtsammlung »La Règne du Silence«. Hier ist die moderne Behandlung ganz fortgefallen; die toten Gegenstände und das Schweigen der alten Stadt bilden allein den Gegenstand der Darstellung, während die Menschen aufgehört haben zu leben. Es ist eine Tragödie ohne Handlung, das intime Drama der leblosen Dinge, die ihr geheimes Leben offenbaren. Während die Greise und Beghinen schattenhaft einherschleichen, bekommen die Steine, die Bäume, das Wasser Leben und ein seltsames, ausgeprägtes Antlitz. »Er liebte die fliehenden Dinge, die unbestimmten Farben, die zitternden Linien«, sagt Huysmanns von ihm; »er schwärmte für das Geheimnis des Wassers, für das Geläute der Glocken, für die Stimmen des berstenden Glases; er fühlte den schleichenden Schritt der Kranken, die der Genesung entgegengehen und die sich doch noch im geschlossenen Zimmer hegen und pflegen dürfen, ohne zu leiden«. In der Gedichtsammlung »Voyage dans les yeux« geht der Dichter noch weiter: in zwei Augen liegt seiner überfeinerten Seele die ganze Welt, in ihnen errät er alle Landschaften, in ihrem blauen Kristall zeigt sich das umgekehrte Bild einer Stadt ... Die Novelle »Die geliebten Augen« in dem vorliegenden Bande ist ein zitternder Nachklang dieser Gedichte.

Sein Roman »La Vocation« spielt gleichfalls in dem alten, düstern, religiösen Brügge. Hans Cadzand ist von seiner Mutter strenggläubig erzogen, von allen Lebensregungen ferngehalten worden, damit er dereinst ein häuslicher Sohn würde und seine alte Mutter nicht verließe. Die religiöse Erziehung hat indes so gute Früchte getragen, dass Hans, der Nachgeborene, in seinem Chorknabenherzen den Beruf zum Priester entdeckt. Die Jahre ändern nichts an seinem Entschluss. Die Mutter sucht ihm jetzt eine entgegengesetzte Lebensrichtung zu geben, sie wählt das kleinere Übel, indem sie ihn zum Heiraten zu bewegen sucht. Er soll die Tochter einer Freundin freien, die ihm schließlich ihrerseits ihre Liebe gesteht, aber nichts kann ihn in seinem Vorsatz beirren, bis ein hübsches Dienstmädchen ins Haus kommt und den angehenden Jüngling zur Sünde entflammt. Die Mutter, entzückt über diese Wendung der Dinge, duldet das sträfliche Verhältnis von Sohn und Magd, bis jenen nach kurzen Tagen die Neue ergreift. Er fühlt sich unwürdig, Priester zu werden; seine »innere Berufung« ist vor den ersten Anläufen des Lebens zunichte geworden. Er führt im Mutterhause fortan ein Büßerleben; sein einziger Weg führt ihn allmorgentlich in die Kirche, dann wird er unzugänglich und versinkt in fromme Studien und Betrachtungen der Reue, so dass gerade das, was das Mutterherz sich so heiß ersehnt hatte, nicht ohne ihren Sohn zu stehen, ihr jetzt zur größten Qual wird.

Dem verunglückten Priester, der die keusche, jungfräuliche Seele Brügges verletzt hat, steht »Der Glöckner« (»Le Carrillonneur«) gegenüber. Joris Borlunt hängt mit leidenschaftlicher Liebe an seiner Heimat, er ist ein Künstler und ein Träumer, ein Hans Cadzand mit ausgereifter Seele. Er sieht, wie die Stille seiner Heimat, der Schatz ihrer alten Traditionen, ihr ganzes Mysterium, durch die modernen Ideen bedroht wird. Das alte Venedig soll zum modernen Handelshafen umgestaltet werden. Dagegen kämpft der Glöckner mit aller Energie an, und doch ist sein eignes Herz die Wahlstatt zwischen Alt und Neu. Er liebt seine Frau Barbe, die Repräsentantin des fremden, sinnenheißen, spanischen Blutes, und bricht die Ehe mit seiner Schwägerin Godelieve, der blonden, zärtlichen Vlamländerin, welche die alte Brügger Rasse vertritt. Aber alle Fleischeslust empört die unsichtbaren Gewalten der alten katholischen Stadt. Seine eifersüchtige Gattin vertreibt die Ehebrecherin aus dem Hause, und sie ist selbst eine von denen, die in dem brüllenden Volksschwarm für den neuen Hafen stimmen. Joris hängt sich an der großen Glocke auf und verhaucht seine Seele mit dem feierlichen Glockenklange Altflanderns.

Derselbe Konflikt zwischen Alt und Neu geht durch die prachtvolle Novelle »L'Arbre«, die auf einer kleinen, stillen Insel Seelands in träumerischer Weltabgeschiedenheit spielt. Die modernen Fortschritte und Ideen haben hier noch keinen Boden gewonnen, und jeder lebt wie damals, als der Großvater die Großmutter nahm. Am Dreiweg steht eine alte Eiche, in die alle Verlobten ihre Namen einschnitzen, ein Symbol der friedlichen Stille der Insel. Auch Joos und Neele haben den ihren in seine Rinde eingeschnitten. Sie lieben sich in ihrem Schatten keusch und heiß, wie ein Liebespaar im Märchen. Ihre Hochzeit ist schon lange bestimmt und von jedermann gebilligt. Aber da kommen die Fremden auf die Insel, um eine Eisenbahn zu bauen, und mit ihnen halten die Laster der Kultur ihren Einzug. In den Wirtshäusern kommt es zu Messerstechereien, und eines Tages hängt sogar ein Leichnam an dem Baum ... Joos hat die Wahrnehmung gemacht, dass auch Neele nicht mehr die alte ist, sie ist zerstreut, wenn er ihr seine Liebe schwört. Er merkt es bald: die Fremden haben nicht nur die patriarchalische Ruhe der Insel gestört, sie haben auch das Herz ihrer Tochter gestohlen. Und der Gedanke des Selbstmords drängt sich ihm auf; der Erhängte verfolgt ihn im Schlafen und Wachen. Und eines Tages findet man auch ihn an der Eiche hängen. Da wendet sich der Zorn des Volkes gegen die treulose Neele; sie erleidet, einem alten Brauch zufolge, die Strafe der Degradation, indem ihr aller Schmuck vom Leibe gerissen wird, und die Eiche wird gefällt und verbrannt. Aber nur die großen Äste werden vom Feuer verzehrt, der geschwärzte Stamm bleibt übrig, wie das treulose Weib, seines Schmuckes beraubt ...

»L'Arbre« war Rodenbachs letztes Prosawerk. Dann folgte noch die Gedichtsammlung »Le Miroir du Ciel natal«, in der er seinem heimischen Himmel den Spiegel vorhält. Bald nach seinem Gehängten starb er selbst, ein Mensch, der dem Leben ebenso wenig gewachsen war, wie seine im Selbstmord Zuflucht suchenden, vom Leben überwundenen Helden. In seinem Nachlass fand sich eine Dramatisierung des Romans »Bruges-la-Morte«, ein Werk fieberhafter Seelenzerfaserung, das in Wahnsinn und Selbstmord ausklingt, daneben eine Essaysammlung, die dem Kritiker Rodenbach alle Ehre macht, und der wehmütige Skizzenband » Le Rouet des Brumes«, dessen Leitmotiv den geheimen Zusammenhang zwischen Tod und Liebe bildet. Die Unbeständigkeit des menschlichen Daseins und unserer Empfindungen, die Unmöglichkeit, das menschliche Handeln richtig zu beurteilen, da man ja weder die geheimen Beweggründe noch die Tragweite einer Handlung kennt, findet hier einen herzbewegenden Interpreten. Tiefe Melancholie atmend, zum Teil beunruhigend und geheimnisvoll, folgen sich diese kleinen Erzählungen wie die Speichen eines alten, schlichten hölzernen Spinnrads, das im trüben Dämmerschein eintönig schnurrt. Sie sind in dem vorliegenden Bande vereinigt, der an Stelle des unübersetzbaren französischen Titels den der ersten Novelle trägt. »Im Zwielicht« der Empfindungen spielen ja alle.

Freilich konnte es nicht der Zweck dieser Übersetzung sein, den Staub der Werkstatt auszukehren, und so sind in ihr denn fünf Novellen ausgelassen, die zu abgerissen und skizzenhaft geblieben sind. Zum Ersatz ist die Dichtung »In der Kirche« vorausgeschickt, die in ihrem lyrischen Stimmungszauber zum besten gehört, was Rodenbach schuf. Wollte man einen Vergleich mit deutscher Lyrik heranziehen, so müsste man schon auf die gewaltigen Dichtungen der Droste-Hülshoff zurückgreifen, z. B. auf das Notturno »Meister Gottfried von Köln«.

In der Kirche

Die alte Kirche träumt in tiefer Ruh. 
Ringsum in Schwermut liegt die tote Stadt. 
Man spürt's, wie wenn man Kranke um sich hat. 
Und alles deckt des Turmes Schatten zu.

Bang ist der Schwalben Zwitschern und Geschwirr 
Im Hof. Halbtrauerzwielicht füllt den Bau. 
Nur durch die Scheiben blickt das stolze Blau; 
Bleich ist und welk der Jungfrau Spitzenzier.

Alt, welk ist alles! Sieh, es stehen die runden 
Steinsäulen kahl, wie Stämme, rings behaun. 
Und wie wenn Nägelmale blutig taun, 
So quillt ein ferner, kranker Duft von Wunden,

Der fad, entnervend, sinnlich ist zu nippen. 
Ja, Krankenduft ist alles, was hier webt. 
Nach Lilien duftet's, welkem Stroh der Krippen, 
Und Weihrauch, der im Dämmerschein verschwebt.

Goldkannen dünsten Wein. Die Kerze schwelt. 
Von Sünderhand entflammt am Gottestische. 
's ist alles Duft, doch welk und ohne Frische, 
Des Altars Tuch, die Myrtenkränz' entseelt.

Ihr Hauch auch weht, die schon entschlafen sind. 
Die, modernd hier, vor Gottes Richtstuhl standen 
Mit Reueträn' und Angstschweiß ihrer Schanden – 
O Duft, der träg' sich durch die Zeiten spinnt! ...

Und immer weiter stets, wie stets zuvor! ... 
Denn alt ist diese Stadt; es strotzt von Leichen 
So Chor wie Schiff, bedeckt von ihren Zeichen; 
Und mancher Sarg schon kam durch dieses Tor.

Ja, tot ist alles oder wird es hier! 
Der Weihrauch stirbt im Nichts, das Heut' im Gestern. 
Verblasst der Brüder Bilder und der Schwestern; 
Nur Heil'genschrein und Knochen winken dir ...

      Rings herrscht der Tod, doch auch die Ewigkeit. 
Tritt ein denn, zagendes Gemüte. 
      Der Pforte Teufelslarven grinsen breit; 
Doch drinnen atmet lauter Güte, 
            Und durch die schwarzen Scheiben bricht's herein 
            Wie Mondenschein ...

      Ja, allem Leben wendest du dich ab, 
      O Seele, trittst du ein in dieses Grab, 
Aus Tagesglut in diese stille Nacht, 
Wo nur im Grund der Kerzen Schimmer wacht. 
            Wie Lippen, die im Traume sich bewegen ... 
             Weihwasser netzt die heißen Finger kühl: 
      Dies ist, was du ersehntest, dein Asyl, 
Die sichere Arche in der Sünden Flut. 
            Die Taube trägt den Ölzweig dir entgegen. 
Des Geistes Taube, der auf allen ruht ...

      Kalt weht der Grabeshauch umher. 
      Der Sünder, der du warst, stirbt mehr und mehr 
            Der Welt und sich. 
            Wie Lazarus dereinst verblich – 
            Doch Jesus weint, und neu erhebst du dich.

      Mit neuer Seele stehst du wieder auf; 
            Nichts ist im Paradies dir mehr verboten. 
      Was liegt nun an der Welt und ihrem Lauf? 
            Was liegt nun an der Stadt, der toten? 
Und ob der Regen an die Scheiben schlägt. 
Ob Nacht die Welt in Witwenschleier legt: 
      Hier nachtet's nicht.

            Im tiefen Chor 
      Blinkt die Monstranz in goldenem Licht. 
            Des Weihrauchs Schattenvorhang wallt empor ... 
Du wärest tot – nun bist du neu belebt. 
      Zum Licht erkoren, dem erflehten. 
Du fühlst von Schwestern dich umschwebt, 
      Fühlst, dass Marie und Martha mit dir beten ..

      Knaben preisen nun im Chore 
            Glockenrein das Sakrament. 
       Himmelan von der Empore 
            Steigt's wie steinern Ornament.

Unstofflich sind die Klänge, 
Wie wenn ein Sprudel spränge. 
      Ein frischer Quell der steigt und sinkt. 
Wie wenn ein Lichtmeer funkelt. 
Bald aufflammt, bald verdunkelt. 
      Ein Taubenschwarm sich auf und nieder schwingt.

Man blickt durch das Gewimmel 
Der Flügel in den Himmel 
      Und wie durch einen Edelstein – – – 
Die Orgel summt bedächtig 
Und breitet Schweigen nächtig 
      Wie schwarzen Sammet über alles drein. 
            Hold zu träumen 
            Ist's in diesen stillen Räumen, 
      Und ein Ave löst sich aus der Brust, 
            Wie aus einer Linnenlade 
      Veilchenduft, 
      Wallt empor mit Weihrauchswolkenduft. 
            Still in Nacht und Schweigen zu zergehen; 
      Düfte wehen 
            Wie von Totenblumen fade ... 
      Tat sich auf der alten Zeiten Gruft? 
Kaum Geräusch im stillen Kreise. 
      Holz und Stein 
             Knistert fein. 
      Und das Tote atmet leise.

      Und wie du träumst und betest, kaum bewusst, 
            Der Schatten wächst so trüb und schwer. 
      O säh' ich Gott, so betet deine Brust, 
            O wüsst' ich, zweifelt' ich nicht mehr! 
Schon ist das hohe Schiff verdunkelt! 
      Die Pfeiler schwinden allgemach. 
Und nur im letzten Fenster funkelt 
      Im Ringen mit der Nacht der letzte Tag.

      Du selbst versinkst in Nacht 
Und irrst, verirrst dich in das Land der Träume. 
Ging nicht ein Zeichen durch die stillen Räume 
      Des himmlischen Verzeihns, eh du's gedacht? 
            Du bist der Zeitlichkeit enthoben; 
            Du fliehst, du fliehst, du bist zerstoben. 
      Du sinkst, du sinkst – bis auf des Meeres Grund. 
      Stets tiefer, kälter stets. Kein Ufer fasst den Schlund –

      Ob lange Zeit verstrich? 
      Der letzte Schein verblich. 
            Blaugrau spinnt alles ein. 
            Du wähnst, in umgeschlagnem Schiff zu sein ...

Die Orgel präludiert mit leisem Säuseln, 
Wie wenn ein Bach aus Wolken niederquillt, 
Der Flor emporwallt, wenn er sich gestillt 
Im Wasser, dessen Spiegel kaum sich kräuseln. 
      Farblose Flut, dem Tastenwerk entwrungen. 
      Von unsichtbarer Hände Druck entsprungen ... 
Sie rinnt, sie schaudert, zaudert, stockt im Lauf, 
Stürzt weiter dann und schwillt zum Gießbach auf, 
Zum breiten Flutschwall, dass dem Ohre graust, 
Wie's durch die Säulen schwemmt, den Hof durchbraust. 
Sich schäumend zwängt wie durch ein Schleusentor; 
Die Orgelpfeifen stehen wie Riesenrohr.

Der Kinder Glockentöne schmelzen jach 
Dahin im Schwalle, wie im Strom ein Bach. 
Ein plötzlich Schweigen, Inseln, die ihn spalten; 
Dann wieder strömt's, und keiner kann es halten.